[BUCH
BESTELLEN]
Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
ERSTES BUCH:
Ein gebildeter und verzweifelter
junger Mann
Drittes Kapitel (a)
ALS FRIEDRICH LÖWENBERG IN DIE
WINTERNACHTLUFT hinaustrat, legte er sich die Frage vor, was das
Widerlichere gewesen sei: die Besitzergebärde des Herrn Weinberger aus
Brünn, oder das Lächeln des jungen Mädchens, das er bisher so bezaubernd
gefunden hatte. Wie? Seit vierzehn Tagen erst kannte der "Mitchef" die
Holde, und er durfte seine schwitzende Hand auf ihren Leib legen. Welch ein
ekelhafter Handel. Es war der Zusammenbruch einer feinen Illusion. Der
Mitchef hatte offenbar Geld, und Friedrich hatte keines. In diesem Kreise,
wo man nur für Vergnügen und Vorteil Sinn hatte, war Geld alles, und doch
war er auf diesen Kreis der jüdischen Bourgeoisie angewiesen. Mit diesen
Leuten und leider auch von diesen Leuten mußte er leben, denn sie stellten
die Klientel einer zukünftigen Advokatenpraxis vor. Wenn es hoch kam, wurde
man Rechtsbeistand eines Mannes wie Laschner — von dem phantastischen
Glücksfalle, daß man einen Kunden wie Baron Goldstein bekam, gar nicht zu
träumen. Die christliche Gesellschaft und eine christliche Klientel gehörten
zum Unzugänglichsten in der Welt. Also was? Entweder sich dem Löfflerschen
Kreise einfügen, dessen niederes Lebensideal teilen, die Interessen
zweifelhafter Geldmenschen vertreten und zum Lohne für solche brave
Aufführung nach so und so viel Jahren auch eine Kanzlei besitzen, mit dem
Anspruch auf die Hand und Mitgift eines Mädchens, das nach vierzehntägiger
Bekanntschaft den Erstbesten heiratet. Oder, wenn einem das alles zu
ekelhaft war, die Einsamkeit und Armut.
Er war in solchen Gedanken wieder vor dem
Cafe Birkenreis angelangt. Was sollte er auch jetzt schon zu Hause in seinem
engen, Stübchen anfangen? Es war zehn Uhr. Schlafen gehen? Ja, wenn es kein
Erwachen mehr gäbe...
Vor der Tür des Kaffeehauses wäre er
beinahe über einen kleinen Körper gestolpert. Auf der Stufe des Einganges
hockte ein Knabe, Friedrich erkannte ihn: es war derselbe Junge, den er vor
wenigen Stunden beschenkt hatte.
Barsch ließ er ihn an: "Was? Du bettelst da
schon wieder?"
Der Knabe erwiderte mit fröstelnder Stimme: "Ich wart' auf mein Taten." Dann
stand er auf und hüpfte wieder und schlug die Arme übereinander, um sich zu
erwärmen. Friedrich war so unglücklich, dass er für das frierende Kind kein
Mitleid empfand.
Er trat in den qualmigen Raum ein und
setzte sich auf seinen gewohnten Platz am Lesetisch. Um diese Stunde war das
Kaffeehaus schwach besucht. Nur in den Winkeln einige verspätete Spieler,
die sich voneinander nicht trennen konnten und immer wieder die letzten
Runden ankündigten, an die sich die allerletzten und unwiderruflich letzten
sowie die "Schuft mein Name" letzten anschlössen.
Eine Weile saß Friedrich und starrte vor
sich hin, dann kam ein schwatzhafter Bekannter an den Tisch heran. Friedrich
flüchtete sich hinter eine Zeitung Und tat, als ob er lese. Aber wie er in
das Blatt hineinsah, fiel sein Blick zufällig wieder auf die Anzeige, von
der Schiffmann vor einigen Stunden gesprochen hatte:
"Gesucht wird ein gebildeter und
verzweifelter junger Mann, der bereit ist, mit seinem Leben ein letztes
Experiment zu machen. Anträge unter N. 0. Body an die Expedition."
Wie sonderbar. Jetzt passte die Anrufung
auf ihn. Ein letztes Experiment! Das Leben war ihm ohnehin verleidet. Bevor
er es wegwarf wie sein armer Freund Heinrich, konnte er immerhin noch etwas
damit unternehmen. Er ließ sich vom Kellner einen Kartenbrief geben und
schrieb an N. 0. Body diese wenigen Worte: "Ich bin Ihr Mann. Doktor
Friedrich Löwenberg, IX. Hahngasse 67."
Während er den Brief zuklebte, kam von
hinten jemand an ihn heran: "Zahnbürsteln, Hosenträger, Hemdknöpf'
gefällig?"
Friedrich scheuchte den zudringlichen Hausierer mit einem barschen Wort weg.
Der zog sich seufzend zurück, mit einem ängstlichen Blick nach dem Kellner,
der ihn vielleicht hinausweisen würde. Da bereute Friedrich, dass er den
armen Menschen eingeschüchtert hatte, rief ihn zurück und warf ihm ein
Zwanzighellerstück in das Hausiererkistchen. Der Mann hielt ihm seinen
Trödel hin: "Ich bin kein Bettler... Sie müssen etwas kaufen, sonst kann ich
das Geld nicht behalten."
Um ihn loszuwerden, nahm Friedrich einen
Hemdknopf aus dem Kästchen. Jetzt erst dankte der Mann und ging weg.
Friedrich sah im gleichgültig nach, wie er zu dem Kellner trat und diesem
das eben erhaltene Geldstück gab. Der Kellner holte aus einem Korb
altgebackene Brote hervor und lieferte sie dem Hausierer aus, der sie hastig
in seine Rocktasche stopfte.
Friedrich erhob sich, um wegzugehen. Als er
vor der Tür des Kaffeehauses stand, sah er den frierenden Jungen wieder,
diesmal mit dem Hausierer, der ihm die harten Brötchen übergab. Das war also
der Vater des Knaben.
"Was macht Ihr da?" fragte Friedrich.
"Ich geb ihm die Kipfeln, gnädiger Herr," sagte der Hausierer; "daß er sie
soll zu Haus tragen zu mein' Weib. Es ist heut' mei' erste Losung."
"Ist das wahr?" forschte Friedrich.
"So soll es nicht wahr sein, wie es wahr
ist," sagte der Mann stöhnend. "Überall werfen sie mich heraus, wenn ich
handeln will. Wenn man ein Jud is, soll man lieber gleich in die Donau
gehen."
Friedrich, der noch kurz vorher mit dem
Leben abgeschlossen hatte, sah plötzlich eine Gelegenheit, sich zu
betätigen, jemandem nützlich zu sein. Eine Ablenkung seiner Gedanken. Er
steckte den Kartenbrief in einen Postkasten. Dann ging er mit den beiden
weiter und ließ sich vom Hausierer erzählen.
"Wir sind von Galizien hergekommen. In
Krakau hab' ich gewohnt in ein' Zimmer mit noch drei Familien. Wir haben
gelebt von der Luft. Hab' ich mir gedacht, schlechter kann es nit mehr
werden, und bin mit mei' Weib und meine Kinder hergekommen. Hier is es nit
schlechter, aber auch nit besser."
"Wieviel Kinder haben Sie?"
Der Hausierer begann im Gehen zu schluchzen: "Fünfe hab' ich gehabt, drei
sind mir gestorben, seit wir hier sind. Jetzt hab' ich nur den da und das
kleine Mädel, was noch an der Brust is... David, lauf nit so schnell."
Der Knabe drehte sich um: "Die Mutter war
so hungrig, wie ich ihr die drei Kreuzer von dem Herrn da gebracht hab'."
"So? Sie waren der gute Herr?" sagte der
Hausierer und haschte nach Friedrichs Hand, um sie zu küssen.
Friedrich zog die Hand rasch zurück: "Was
fällt Ihnen denn ein?... Sag' mein Junge, was hat deine Mutter mit den paar
Kreuzern angefangen?"
"Milch hat sie geholt für Mirjam," sagte
der kleine David.
"Mirjam» ist unser anderes Kind," bemerkte
der Hausierer erklärend.
"Und die Mutter" hungerte weiter?" fragte Friedrich erschüttert.
"Ja, Herr," erwiderte David.
Friedrich hatte noch einige Gulden bei
sich. Ob er die besaß oder nicht, war ziemlich gleichgültig, da er ohnehin
mit dem Leben fertig war. Diesen Leuten konnte er die bitterste Not
erleichtern, wenn auch nur für kurze Zeit.
"Wo wohnt Ihr?" fragte er den Hausierer.
"Auf der Brigittenauer Lände. Wir hab'n a Kabinett - aber es ist uns schon
gekündigt"
"Gut, ich will mich überzeugen, ob das alles wahr ist. Ich gehe mit Ihnen
nach Hause."
"Bitte!" sagte der Hausierer. "Sie wer'n ka
Vergnüg'n hab'n, gnädiger Herr. Wir lieg'n am Stroh... Ich hab noch in
andere Kaffeehäuser gehen wollen. Aber wenn Sie wünschen, geh' ich zu Haus."
Sie gingen über die Augartenbrücke der
Brigittenauer Lände zu. David, der jetzt neben seinem Vater einher schlich,
fragte mit leiser Stimme: "Tate, darf ich ein Stückl Brot essen?"
"Eß nur," entgegnete der Alte. "Ich werd'
auch ein Stückl essen. Für die Mutter bleibt noch."
Und nun kauten Vater und Sohn hörbar an dem harten Gebäck, das sie aus ihren
Taschen hervorgeholt hatten.
Vor einem hohen, neugebauten Hause an der
Lände blieben sie stehen. Das Haus atmete noch den feuchten frischen
Baugeruch aus. Der Hausierer zog die Klingel. Alles blieb still. Nach einer
Weile zog er wieder den Messingknopf und sagte: "Der Hausmeister weiß schon,
wer da is. Da lasst er sich Zeit. Oft steh' ich da a Stund! Er ist ein
grober Mensch. Manchesmal trau' ich mich gar nit her, wenn ich ihm keine
fünf Kreuzer Sperrgeld geben kann."
"Was tun Sie dann?" fragte Friedrich.
"Dann geh' ich herum bis in der Früh, bis das Haustor offen is."
Friedrich ergriff nun selbst den Knopf und
riss ein paar Mal heftig die Klingel. Jetzt wurde Geräusch hinter dem Tore
vernehmbar. Schlurfende Schritte, Klirren von Schlüsseln, und durch die
Ritzen drang ein Lichtschein. Das Tor ging auf. Der Hausmeister hielt ihnen
die Laterne entgegen und schrie: "Wer reißt denn so an der Glocke? Was? Die
Judenbagasch?"
Der Hausierer entschuldigte sich furchtsam:
"Nit ich war es — der Herr da!"
Der Hausmeister schimpfte: "So a
Frechheit!"
"Augenblicklich schweigen Sie, Kerl!" herrschte ihn Friedrich an und warf
ihm eine Silbermünze vor die Füße.
Als der Hausmeister den Silberklang auf den Fliesen hörte, wurde er
kleinlaut und unterwürfig: "Euer Gnaden hab' i net g'meint. D'Juden da!"
"Schweigen Sie!" wiederholte Friedrich,
"und leuchten Sie mir über die Stiege."
Der Hausmeister hatte sich gebückt und das Geld aufgehoben. Eine ganze
Krone. Das mußte ein vornehmer Herr sein.
"Es is im fünften Stock, gnädiger Herr,"
sagte der Hausierer. "Vielleicht borgt uns der Herr Hausbesorger e Stückl
Kerzen." "Dem Littwak bürg' i nix," rief dieser; "aber wenn Euer Gnaden a
Kerzen wolln..."
Er nahm auch gleich das Stümpfchen aus der
Laterne und gab es Friedrich. Dann verschwand er brummend. Friedrich stieg
mit Littwak und David die fünf Treppen hinan.
Es war gut, dass sie die Kerze mithatten,
denn es umgab sie tiefe Nacht. Auch in dem einfenstrigen Stübchen Littwaks
brannte kein Licht, obwohl die Frau, die auf einer Streu ihr Lager hatte,
wach und aufrecht dasaß. Friedrich sah im Halbdunkel des Kerzenstümpfchens,
dass der schmale Raum keinerlei Möbel enthielt. Kein Stuhl, kein Tisch, kein
Schrank. Auf dem Fensterbrett befanden sich einige Fläschchen und
zerbrochene Töpfe. Ein Anblick des tiefsten Elends. Die' Frau hatte ein
kleines, wimmerndes Kind an der schlaffen Brust. Sie starrte ihnen hohläugig
und angstvoll entgegen.
"Wer ist das, Chajim?" stöhnte sie
erschreckt.
"E guter Herr," beruhigte sie ihr Mann.
David ging zu ihr hin. "Mutter, da is
Brot," und gab es ihr.
Sie brach es mit Mühe und schob sich
langsam einen Bissen in den Mund. Sie war recht schwach und abgemagert, aber
das verhärmte Gesicht wies doch noch Spuren einer vergangenen Schönheit auf.
"Da wohnen wir," sagte Chajim Littwak mit
bitterem Lachen. "Aber ich weiß. nicht emal, ob wir übermorgen noch das
haben werd'n. Sie hab'n uns scho' gekündigt."
Die Frau seufzte laut auf. David hatte sich
neben sie hin auf das Stroh gekauert und schmiegte sich an sie.
"Wieviel brauchen Sie, um hierbleiben zu
können?" fragte Friedrich. "Drei Gulden!" erklärte Littwak. "E Gulden
zwanzig auf Zins und das Übrige bin ich der Hausfrau schuldig. Wo soll ich
bis übermorgen drei Gulden hernehmen? Dann lieg'n wir mit die Kinder auf der
Gass'n."
"Drei Guld'n!" jammerte die Frau leise und
hoffnungslos. Friedrich griff in die Tasche. Er hatte acht Gulden bei sich.
Die gab er dem Hausierer.
"Gerechter Gott! Is es möglich?" rief
Chajim, und es liefen ihm Tränen über die Wangen. "Acht Gulden! Rebekka!
David! Gott hat uns geholfen. Gelobt sei sein Namen!"
Frau Rebekka war auch fassungslos. Sie
hatte sich auf die Knie erhoben und schleppte sich zu dem Retter hin. Im
rechten Arm hielt sie ihr schlummerndes Wickelkind, mit der Linken haschte
sie nach Friedrichs Hand, um sie zu küssen.
Er
entzog sich ihrem Danke rasch: "Macht doch keine solchen Geschichten! Für mich
sind die paar Gulden gar nichts - ob ich sie habe oder nicht... David kann mir
hinunterleuchten."
Fortsetzung...
[BUCH
BESTELLEN]
Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl |