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Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
ALTNEULAND
Roman von Theodor
Herzl
ERSTES BUCH:
Ein gebildeter und verzweifelter
junger Mann
Viertes Kapitel (a)
IN DEM BRIEFE, DEN FRIEDRICH VON DEM N.0.
BODY der Zeitungsannonce erhalten hatte, war ein vornehmes Hotel auf der
Ringstraße als Ort der Zusammenkunft angegeben. Um die bezeichnete Stunde
fand er sich ein und fragte nach Mister Kingscourt. Man wies ihn nach einem
Salon des ersten Stockes. Als er eintrat, kam ihm ein hoher,
breitschultriger Mann entgegen:
"Sind Sie Doktor Löwenberg?"
"Der bin ich."
"Nehmen Sie einen Stuhl, Doktorl"
Sie setzten sich. Friedrich betrachtete den
Fremden aufmerksam und wartete auf dessen Erklärungen. Mr. Kingscourt war
ein Mann in den Fünfzigern, mit ergrauendem Vollbart und dichtem braunen
Haupthaar, das von Silberfäden durchzogen war und an den Schläfen schon weiß
schimmerte. Er rauchte in langsamen Zügen eine große Zigarre.
"Rauchen Sie, Doktor?"
"Jetzt nicht," gab Friedrich zur Antwort. -
Mr. Kingscourt hauchte mit Sorgfalt einen Rauchring in die Luft, folgte der
Auflösung der wolkigen Linien mit Spannung, und erst nachdem sie ganz
verschwebt waren, sagte er, ohne seinen Gast anzusehen: "Warum sind Sie
lebensüberdrüssig?"
"Darüber gebe ich keine Auskunft,"
erwiderte Friedrich ruhig. Mr. Kingscourt sah ihn jetzt voll an, nickte
zustimmend, streifte die Asche seiner Zigarre ab und sprach: "Hol's der
Deibel, Sie haben Recht. Das geht mich ja auch nichts an... Wenn wir
handelseins werden, wird schon die Zeit kommen, wo Sie es mir erzählen.
Einstweilen will ich Ihnen sagen, wer ich bin. Mein eigentlicher Name ist
Königshoff. Ich bin ein deutscher Edelmann. Ich war in meiner Jugend
Offizier, aber der Waffenrock wurde mir zu eng. Ich kann's nicht leiden, daß
ein fremder Wille über mir ist, und wär's der beste. Das Gehorchen war gut
für ein paar Jahre. Aber dann mußt' ich fort. Ich wär' sonst explodiert und
hätte Schaden angerichtet... Ich ging nach Amerika, nannte mich Kingscourt,
erwarb mir in zwanzig Jahren blutschwitzender Arbeit ein Vermögen — und als
ich so weit war, nahm ich ein Weib... Was sagen Sie, Doktor?"
"Nichts, Mr. Kingscourt!"
"Gut. Sie sind unverheiratet?"
"Jawohl, Mr. Kingscourt... aber ich dachte. Sie würden mir sagen, worin das
letzte Experiment besteht, das Sie mir vorzuschlagen haben."
"Ich bin schon dabei, Doktor... Wenn wir
beisammen bleiben sollten, werde ich Ihnen ausführlich erzählen, wie ich es
anfing» mich hinaufzuarbeiten, bis ich meine Millionen hatte. Denn ich habe
Millionen... Was sagen Sie?"
"Nichts, Mr. Kingscourt."
"Energie ist alles, Doktor! Darauf kommt's
an. Was man recht stark will, das erreicht man unbedingt totsicher. Ich sah
erst drüben in Amerika ein, was wir Europäer für ein faules, willenloses
Gesindel sind. Hol' mich der Deibel!... Kurz, ich hatte Erfolg. Aber als ich
soweit war, da begann ich meine Einsamkeit zu fühlen. Der Zufall wollte es,
daß ein Königshoff Dummheiten gemacht hatte, der bei der Garde stand, ein
Sohn meines Bruders. Ich nahm den Burschen zu mir, gerade um die Zeit, da
ich auf Freiersfüßen ging. Ja, ich wollte mir einen Hausstand gründen, einen
Herd, eine Frau suchen, die ich mit Juwelen behängen konnte wie jeder andere
Parvenü. Ich sehnte mich nach Kindern, damit ich doch wisse, warum ich stets
so furchtbar geschuftet hatte. Ich meinte es verdammt schlau anzufangen,
indem ich ein armes Mädchen zur Frau nahm. Sie war die Tochter eines meiner
Angestellten. Hatte ihr und ihrem Vater viel Gutes erwiesen. Natürlich sagte
sie ja. Das hielt ich für Liebe, aber sie war nur dankbar oder vielleicht
feige. Sie wagte nicht, mich abzuweisen. So richteten wir ein Haus ein, und
mein Neffe wohnte bei uns. Sie werden sagen, daß es eine Dummheit war — ein
alter Mann zwischen zwei jungen Leuten, die sich finden mußten. Ich habe
mich auch in der ersten Zeit nach der Entdeckung einen Esel gescholten. Aber
wenn nicht er, wäre es ein anderer gewesen. Kurz, die beiden haben mich
betrogen — ich glaube, vom ersten Augenblick an. Als ich es herausfand, war
mein erster Griff nach dem Revolver. Dann sagte ich mir, daß eigentlich nur
ich der Schuldige war. Da ließ ich sie laufen. Gemeinheit ist menschlich,
und jede Gelegenheit ist eine Kupplerin. Man muß den Menschen ausweichen,
wenn man an ihnen nicht zugrunde gehen will. Sehen Sie, das war mein
Zusammenbruch. Da schlich der Gedanke heran, mit einer Kugel der schäbigen
Komödie des Lebens ein Ende zu machen. Aber es fiel mir ein, daß man zum
Erschießen ja noch immer Zeit hat. Freilich, das Anhäufen von Geld war jetzt
für mich sinnlos geworden. Zum Erwerben hatte ich keine Lust mehr, vom Traum
der Familie hatte ich genug. Blieb noch die Einsamkeit als letztes
Experiment Aber eine große, unerhörte Einsamkeit mußte es sein. Nichts mehr
wissen von den Menschen, ihren elenden Kämpfen, Unsauberkeiten,
Treulosigkeiten. Die wirkliche, echte, tiefe Einsamkeit ohne Wunsch und
Ringen. Die volle wahre Rückkehr zur Natur! Diese Einsamkeit ist das
Paradies, das die Menschen durch ihre Schuld verloren haben. Und diese
Einsamkeit habe ich gefunden."
"So?
Sie haben sie gefunden?" sagte Friedrich, der noch nicht erriet, wo der
Amerikaner hinauswollte.
Fortsetzung ...
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