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Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
ERSTES BUCH:
Ein gebildeter und verzweifelter
junger Mann
Viertes Kapitel (b)
"Ja, Doktor, ich habe meine Geschäfte
aufgelöst und bin meinen Bekannten wieder einmal entronnen. Niemand weiß, wo
ich hingekommen bin. Habe mir eine gute Jacht gebaut und bin auf ihr, wie
man sagt, verschollen. Viele Monate bin ich auf den Meeren umhergetrieben.
Das ist ein herrliches Leben, müssen Sie wissen. Möchten Sie das nicht
kennen lernen? — oder kennen Sie es schon?"
"Ich kenne es nicht," entgegnete Friedrich;
"aber ich möchte wohl!"
"Gut, Doktor!... Das Leben auf der Jacht
ist schon die Freiheit, aber noch nicht die Einsamkeit. Man muß doch
Schiffsleute um sich haben, man muß ab und zu in einen Hafen, um Kohlen
einzunehmen. Man kommt wieder mit Menschen in Berührung, und das ist
schmutzig. Aber ich kenne eine Insel in der Südsee, wo man ganz allein ist.
Da will ich leben. Es ist ein kleines Felsennestchen im Cooks-Archipel. Die
habe ich mir gekauft und mir dort von Leuten aus Rarotonga ein komfortables
Haus erbauen lassen. Das Gebäude liegt so versteckt hinter den Felsen, daß
man es von keiner Seite bemerkt, wenn man auf dem Meere vorbeifährt. Es sind
übrigens auch die Schiffe dort selten. Meine Insel sieht nach wie vor
unbewohnt aus... Ich lebe dort mit zwei Dienern, einem stummen Neger, den
ich schon in Amerika hatte, und einem Tahitier, den ich im Hafen von Avarua
aus dem Wasser zog, als er sich aus Liebesgram ersäufen wollte. Jetzt bin
ich auf meiner letzten Reise in Europa, um mir noch einzukaufen, was ich für
mein ferneres Leben dort brauche. Namentlich Bücher, physikalische
Instrumente und Waffen. Die Lebensmittel versorgt mein Tahitier von der
nächsten bewohnten Insel. Er fährt jeden Morgen mit einem Neger im
elektrischen Boot hinüber. Braucht man sonst noch etwas, auf Rarotonga ist
für Geld alles zu haben, so wie in der übrigen Welt... Verstehen Sie?"
"Ja, Mr. Kingscourt. Nur weiß ich nicht,
warum Sie es mir erzählen."
"Warum, Doktor? Weil ich mir einen
Gesellschafter mitnehmen will, um das Sprechen nicht zu verlernen, und um
jemand zu haben, der mir die Augen zudrückt, wenn ich sterbe. Wollen Sie der
sein?"
Friedrich schwieg und überlegte eine halbe
Minute lang. Dann sagte er in festem Tone: "Ja!"
Kingscourt nickte zufrieden und fügte
hinzu: "Ich muß Sie aber aufmerksam machen, daß Sie eine lebenslängliche
Verpflichtung eingehen. Wenigstens so lange ich lebe, muß es gelten. Wenn
Sie mit mir gehen, dürfen Sie nicht mehr zurück. Sie müssen alle Fäden
abschneiden."
Friedrich entgegnete: "Mich bindet nichts.
Ich stehe ganz allein in der Welt und habe das Leben vollkommen satt"
"Einen solchen Mann brauche ich, Doktor.
Tatsächlich verlassen Sie das Leben, wenn Sie mit mir gehen. Sie werden
nichts mehr vom Guten und Bösen dieser Welt erfahren. Sie sind tot für die
Welt und die Welt ist untergegangen für Sie. Paßt Ihnen das?"
"Es paßt mir."
"Dann werden wir gut zusammenleben. Ihre
Art gefällt mir."
"Eines muß ich Ihnen noch sagen, Mr.
Kingscourt: ich bin Jude. Stört Sie das nicht?"
Kingscourt lachte: "Hören Sie? Die Frage
ist komisch. Ein Mensch sind Sie, das sehe ich. Ein gebildeter Mann scheinen
Sie auch zu sein. Des Lebens sind Sie überdrüssig, das spricht für Ihren
guten Geschmack. Alles übrige ist dort, wohin wir gehen, furchtbar
gleichgültig... Also schlagen Sie ein!"
Friedrich nahm die dargebotene Hand und
schüttelte sie kräftig. "Wann sind Sie reisefertig, Doktor?"
"Jede Stunde."
"Gut. Sagen wir morgen. Wir fahren nach
Triest. Dort ankert meine Jacht... Sie werden sich hier vielleicht noch
einiges besorgen wollen?"
"Ich wüßte nicht, was," sagte Friedrich.
"Das ist ja keine Lustreise, sondern ein Abschied vom Leben."
"Immerhin, Doktor, Sie brauchen vielleicht
Geld für Anschaffungen. Verfügen Sie über mich."
"Danke, ich brauche nichts, Mr. Kingscourt"
"Haben Sie keine Schulden, Doktor?"
"Ich besitze nichts und schulde nichts.
Meine Rechnung ist glatt."
"Haben Sie keine Verwandten oder Freunde,
denen Sie etwas hinterlassen wollen?"
"Niemand!"
"Um so besser! Wir reisen also morgen, ...
aber wir könnten schon heute miteinander speisen."
Kingscourt klingelte. Die Kellner deckten
auf »einen kurzem Befehl den Tisch im Salon und brachten ein reichliches
Mahl. Die beiden Männer näherten sich einander sehr rasch in ihren
Gesprächen. Friedrich fühlte nach all dem Vertrauen, das ihm Kingscourt so
schnell geschenkt hatte, das Bedürfnis, auch seine eigene Geschichte zu
erzählen. Er tat es in kurzer und deutlicher Weise. Als er damit zu Ende
war, sagte der Amerikaner: "Ich glaube jetzt, daß Sie mir nicht durchgehen
werden, wenn ich Sie auf meiner Insel habe. Liebeskummer, Weltschmerz und
Judengram — das ist zusammen genug, um auch einen jungen Mann für immer
Abschied nehmen zu lassen vom Leben. Nämlich vom Leben mit den Menschen.
Selbst wenn man ihnen Gutes tut, wird man von ihnen betrogen und gequält.
Die größten Narren sind die Wohltäter. Glauben Sie nicht?"
"Ich glaube, Mr. Kingscourt, daß man beim
Wohltun ein angenehmes Gefühl hat... Und da fällt mir etwas ein. Sie haben
mir Geld angeboten, falls ich vor meinem Abschied vom Leben etwas
hinterlassen wollte. Ich weiß eine Familie in tiefster Not. Der möchte ich
helfen, wenn Sie es mir erlauben."
"Es ist ein Unsinn, Doktor. Aber ich kann
es Ihnen nicht verweigern. Ohnehin, es war überhaupt meine Absicht, Ihnen
einen Betrag zur Ordnung Ihrer Angelegenheiten zu geben. Machen Sie damit,
was Sie wollen. Sind fünftausend Gulden genug?"
"Oh,
reichlich!" sagte Friedrich. "Und es ist doch auch für mich ein schöner Gedanke,
daß mein Abschied vom Leben nicht ganz ohne Zweck ist."
Fortsetzung ...
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