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Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
ERSTES BUCH:
Ein gebildeter und verzweifelter
junger Mann
Fünftes Kapitel (a)
DIE STUBE DER FAMILIE LITTWAK SAH BEI TAGE
NOCH ELENDER aus als bei Nacht. Und doch fand Friedrich Löwenberg diese
armen Leute in beinahe rosiger Stimmung, als er bei ihnen eintrat. David
Littwak stand vor dem Fensterbrett, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag,
und er las darin, während er an seinem mächtigen Butterbrot kaute. Der Vater
und die Mutter saßen auf der Streu. Die kleine Mirjam spielte mit Halmen.
Chajim Littwak erhob sich rasch, um den
Wohltäter zu begrüßen. Auch die Frau wollte aufstehen, aber Friedrich ließ
es nicht zu. Er kniete schnell neben ihr nieder und streichelte das
Brustkind, das ihn aus den armseligen Fetzen heraus mit lieblichen Augen
anlachte.
"Nun, wie geht es heute, Frau Littwak?"
fragte Friedrich.
Die Arme haschte vergeblich nach seiner
Hand, um sie zu küssen: "Besser, gnädiger Herr!" sagte sie. "Wir haben Milch
für Mirjam und Brot für uns."
"Zins hab' ich auch schon gezahlt!"
ergänzte Chajim stolz.
David hatte sein Butterbrot hingelegt,
stand mit verschränkten Armen da und betrachtete Friedrich festen Auges.
"Warum siehst du mich so durchbohrend an, kleiner David?"
"Damit ich Sie nie vergess', Herr. Ich hab'
einmal gelesen eine Geschichte von einem Manne, der einem kranken Löwen
geholfen hat."
"Androklus!" lächelte Friedrich.
"Er hat schon viel gelesen, mein David,"
sagte die Mutter mit schwacher und zärtlicher Stimme.
Friedrich stand auf, legte die Hand auf den
runden Kopf des Knaben und scherzte: "Bist du am Ende der Löwe? Juda hatte
einst einen Löwen..."
David entgegnete beinahe trotzig: "Was Juda
gehabt hat, kann es wieder haben. Unser alter Gott lebt noch."
Frau Littwak rief klagend: "Nit amal ein'
Sessel können wir Ihnen anbieten, gnädiger Herr!"
"Nicht nötig, liebe Frau. Ich wollte nur
nachsehen, wie es Ihnen geht, und — etwas bringen. Sie sollen diesen Brief
erst öffnen, nachdem ich fortgegangen bin. Er enthält eine gute Empfehlung,
die euch im Leben nützen wird. Sie müssen sich gut nähren, Frau Littwak,
damit Sie dieses schöne, kleine Mädel zu einer braven Frau erziehen, wie Sie
selbst sind."
"Mehr Glück soll sie haben!" seufzte die
Frau.
"Und diesen guten Jungen lassen Sie etwas
Tüchtiges lernen. Gib mir deine Hand, Bürschchenl Versprich mir, daß da ein
ordentlicher Mensch wirst."
"Ja, das verspreche ich Ihnen."
Was der Bub für merkwürdige Augen hat,
dachte sich Friedrich, als er die kleine Hand schüttelte. Dann legte er den
umfangreichen Brief auf das Fensterbrett und wollte gehen.
"Entschuldigen Sie, gnädiger Herr," sprach
ihn Chajim Littwak bei der Tür an, "is in den Brief vielleicht eine
Empfehlung an der Kultusgemeinde?"
"Ganz richtig," entgegnete Friedrich. "Das
wird Sie auch der Kultusgemeinde empfehlen."
Und rasch ging er hinaus, die Treppen lief
er hinunter, als fühlte er sich verfolgt. Vor dem Tore hielt sein Fiaker,
eilig stieg er ein und rief dem Kutscher zu: "Schnell fahren!"
Die Pferde zogen an. Es war die höchste
Zeit. Eine Minute später keuchte David atemlos aus dem Tore hervor, spähte
nach allen Richtungen, und als er keine Spur mehr von dem Helfer entdecken
konnte, fing er bitterlich zu weinen an. Friedrich sah es durch das Guckloch
in der Rückwand seines Wagens, und er freute sich, daß es ihm gelungen war,
den Dankesergüssen zu entgehen. Mit den fünftausend Gulden war diese Familie
hoffentlich gerettet.
Im Hotel erwartete ihn Kingscourt mit
breitem Lachen: "Haben Sie also Ihr gutes Werk getan, Doktor?"
"Sie könnten mit mehr Recht sagen, daß es
das Ihrige sei. Es war Ihr Geld, Mr. Kingscourt!"
"Oho! Dagegen verwahre ich mich aber schon
ganz entschieden. Ich hätte nicht einen Heller hergegeben, um Menschen Gutes
zu erweisen. Ich habe nichts dagegen, daß Sie ein Narr der Nächstenliebe
sind — ich bin keiner mehr. Das war Ihr Handgeld, damit konnten Sie machen,
was Sie wollten."
"Auch recht, Mr. Kingscourt!"
"Ja, wenn Sie mir gesagt hätten, daß Sie
für Hunde oder Pferde oder sonst ein anständiges Vieh was Mildes vorkehren
möchten, da hätten Sie mich dazu haben können. Aber Menschen? Nee, kommen
Sie mir mit der Sorte nicht. Die ist oberfaul. Die ganze Vernunft besteht
darin, daß sie niederträchtig sind... Da war neulich in den Blättern zu
lesen, daß eine alte Dame ihr Vermögen ihren Katzen hinterlassen hat. Sie
befahl in ihrem letzten Willen, daß Ihr Haus in so und so viele feine
Appartements für das Katzenvolk eingeteilt werde, mit Pflegepersonal und so
weiter. So'n Kerl von Zeitungsschreiber hat dazu die blödsinnige Bemerkung
gemacht, die Alte sei wahrscheinlich verrückt gewesen. Solch ein Hornochse!
Nicht verrückt war sie, sondern riesig gescheit. Eine Demonstration gegen
das menschliche Geschlecht, und insbesondere gegen ihre lumpige, erbgierige
Verwandtschaft wollte sie machen. Den Tieren, ja — den Menschen, nein! Sehen
Sie, das kann ich der alten Dame innigst nachfühlen, Gott habe sie selig!"
Das war Kingscourts Lieblingsthema, und
darin entwickelte er eine unerschöpfliche Verve.
Friedrich Löwenberg ordnete seine geringen
Angelegenheiten. Er war damit am anderen Tage fertig. Seiner Quartierfrau
sagte er, daß er einen Ausflug auf den Großglockner unternehme. Sie
entsetzte sich darüber: Mitten im Wintert Man höre so viel von Bergunfällen.
"Schön," meinte Friedrich mit
melancholischem Lächeln, "wenn ich in acht Tagen nicht wiederkomme, so
können Sie mich als vermisst bei der Polizei melden. Dann bin ich wohl in
einer Felsenspalte besorgt und aufgehoben. Meine Habseligkeiten, die da
sind, vermache ich Ihnen."
"Reden Sie nicht so sündhaft, Herr Doktor!"
"Ich
mache ja Spaß l" rief er. Mit dem Abendzuge verließ er in Kingscourts
Gesellschaft Wien. Er war nicht wieder in das Café Birkenreis gegangen und wußte
nicht, daß der kleine David Littwak Nacht für Nacht vor der Tür stundenlang auf
ihn wartete.
Fortsetzung ...
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