DIE JACHT KINGSCOURTS FUHR WIEDER DURCH DAS ROTE MEER,
aber in umgekehrter Richtung. Kingscourts Bart und Haare waren schneeweiß
geworden. Auch Friedrich konnte, vor dem Spiegel seiner Kajüte stehend, an
seinen Schläfen die ersten Silberfäden entdecken.
Der Alte rief ihn aufs Verdeck: "Holla, Fritz! Kommen
Sie 'n bißchen rauf!"
"Was wollen Sie, Kingscourt?" sagte er, indem er hinaustrat.
"Hol mich der Deibel, wenn ich das verstehe. Seit wir da
im Roten Meere fahren, hab' ich noch sehr wenige Personendampfer gesehen.
Frachtschiffe, ja, viele. Erinnern Sie sich denn nicht, wie das vor zwanzig
Jahren war, anno neunzehnhundertundzwei? Da war doch Verkehr hier.
Ostindienfahrer, Chinaschiffe! Die lumpigen Dampfer, die wir jetzt treffen,
gehen nur nach den afrikanischen Häfen und Madagaskar. Ich habe mich bei dem
Vieh von einem Lotsen nach jedem passierenden Schiffe erkundigt. Es gibt keine
Ostindier, Japaner und Chinesen mehr in diesen Gewässern; wie gesagt, nur
Frachten. Am Ende hat England seit wir weg waren, seinen indischen Besitz
verloren? Kreuzmillionen-schockschwerenot — an wen?"
"Fragen Sie doch den Lotsen, wenn es Sie interessiert!"
"Nischt wird jefragt! Das heb' ich mir alles auf, bis wir in Europa sind. Ich
bin nicht neugierig — sind Sie's vielleicht, Fritzkchen?"
"Nein, Kingscourt. Mir ist alles gleichgültig. In den zwanzig Jahren hat' ich
jedes Interesse an den Vorgängen außerhalb unserer lieben Insel verloren. Mir
lebt kein Freund mehr, kein Blutsverwandter. Wonach sollte ich mich erkundigen?"
Kingscourt hatte sich es auf einem ruhebettartigen
Lehnstuhl bequem gemacht und schmauchte eine große Havanna: "Na, übel ist Ihnen
unsere Insel nicht bekommen, Fritz! Wenn ich denke, was Sie für'n grüner
Judenjunge mit eingesunkenem Brustkasten waren, als ich Sie mitnahm. Heute sind
Sie 'n Baum von einem Menschen. Mir scheint, Sie könnten jetzt den Weibern
gefährlich werden."
"Sie sind komplett verrückt, Kingscourt!" lachte
Friedrich.
"Zu Ihrer Ehre will ich annehmen, daß Sie mich nicht nach Europa
schleifen, um mich zu verheiraten."
Kingscourt wälzte sich vor Lachen: "So'n Rabenvieh!l
Verheiraten! Für'n solchen Hornochsen halten Sie mich doch nicht? Was fing' ich
dann mit Ihnen an?"
"Na, vielleicht ist es eine feine Art, mich loszuwerden. Sie haben meine
Gesellschaft wohl satt gekriegt?"
"Nu fischt das Rabenvieh noch nach Komplimenten!" schrie
der Alte, dessen Gemütlichkeit sich gern in Schimpfworten austobte. "Sie wissen
doch sehr gut, Fritzchen, daß ich ohne Sie nicht mehr leben könnte. Die ganze
Reise hab' ich doch nur Ihretwegen unternommen. Damit Sie dann wieder ein paar
Jahre mit mir Geduld haben."
"Hören Sie, Kingscourt, Sie wissen, ich kann nicht grob sein - wenigstens nicht
so grob, wie Sie. Aber das ist, gelinde gesagt, eine..."
"Eselei?"
"Etwas dergleichen!... Wann habe ich eine
Ungeduld gezeigt? Ich war glücklich auf unserer Insel, vollkommen glücklich.
Diese zwanzig Jahre sind mir vergangen, wie ein Traum. War es gestern, daß Sie
hier Ihre Abschiedsrede an die Zeit hielten? Ich wäre auch nie mehr weg von
unserer seligen Insel, ich nicht! Und nun wollen Sie mir weismachen, daß
Sie meinetwegen nach Europa fahren. Schämen Sie sich, alter Mann, daß Sie solche
faule Ausreden gebrauchen. Sie sind neugierig, wie's drüben aussieht. Sie wollen
hin — nicht ich! Der beste Beweis, daß ich mir nichts mehr aus der bewohnten
Welt mache, ist der, daß ich alle die Jahre hindurch keine Zeitung in die Hand
genommen habe."
"Kunststück, wir hatten keine auf unserer Insel. Das war
meine oberste Gesundheitsmaßregel: keine Zeitung !"
"So? Vor einigen Jahren kam eine Sendung von Rarotonga.
Da waren alle Gegenstände der Kiste in englische und französische Tagesblätter
eingewickelt. Einen Augenblick war ich in Versuchung, sie zu lesen. Wenn sie
auch Monate oder Jahre all waren, für mich enthielten sie jedenfalls neues. Wir
schrieben damals 1917, und ich hatte seit fünfzehn Jahren nichts mehr von der
Welt gehört. Aber ich raffte die Blätter alle zusammen und verbrannte sie
ungelesen. Und jetzt sagen Sie noch, daß ich mich zurücksehne."
Der Alte schmunzelte behaglich: "Na, wenn Sie mir auf
meine Lügen kommen, dann will ich's gestehen. Ja, ich möchte wissen, was aus der
niederträchtigen Welt geworden ist. Ob die Menschen noch immer so schlecht und
dumm sind wie dazumal."
"Mein guter Kingscourt, ich wette, wir werden froh sein,
wenn wir nach unserer stillen Insel zurückkehren können."
"Bei der Wette finden Sie keine Konterpartie. Ich wette
dasselbe."
Die Jacht durchlief die Wasserstraße von Suez. In Port
Said stiegen sie wieder ans Land. Im Hafen war ein lebhafter Güterverkehr, aber
zwischen den verfallenden Bazaren der Stadt war der bunte, vielsprachige
Spaziergang nicht mehr zu gehen, der einst die Originalität des Ortes war. Hier
kreuzten sich ehemals die Wege der Menschen, die vom Westen nach dem Osten und
von Osten nach Westen zogen. Man war hier ehemals den elegantesten Globetrottern
begegnet, und jetzt lungerten vor den schmutzigen Kaffeehäusern außer den
Eingeborenen nur einige halb betrunkene Matrosen.
Kingscourt und Friedrich waren in einen Laden
eingetreten, um Zigarren zu kaufen. Sie verlangten bessere Sorten. Da sagte der
griechische Händler klagend:
"Führen wir nicht. Kommen ja keine Käufer mehr. Kommt
niemand mehr, der feine Zigarren will. Nur Matrosen um Kautabak, schlechte
Zigaretten."
"Wie ist das möglich?" fragte Kingscourt. "Wo sind denn
die Reisenden, die nach Indien, Australien, China gehen?"
"Oh, die sind schon lange fort. Die fahren jetzt auf dem
anderen Weg."
"Auf einem anderen Weg?" rief Friedrich. "Was gibt es
denn für einen anderen? Doch nicht um das Kap der guten Hoffnung?"
Der Händler sagte ärgerlich:
"Der Herr will über mich lachen. Das weiß doch jedes
Kind, daß man nach Asien nicht mehr durch den Suezkanal fährt."
Die Rückkehrenden sahen einander betroffen an. Dann
brummte Kingscourt:
"Natürlich weiß das jedes Kind. Sie werden uns doch
nicht für so unwissend halten, daß wir nichts von dem verdammten neuen Kanal
gehört haben."
Da schlug der Grieche wütend auf den Ladentisch:
"Machen Sie, daß Sie hinauskommen! Zuerst foppen Sie
mich mit teuren Zigarren, dann machen Sie solche dummen Witze. Hinaus!"
Kingscourt wollte über den Tisch langen und dem Griechen
eins über den Schädel geben, aber Friedrich zog den alten Hitzkopf fort:
"Es scheint, in unserer Abwesenheit ist etwas Großes
vorangegangen, was wir nicht wissen, Kingscourt."
"Hol' mich der Deibel, das glaub' ich auch. Das müssen
wir also zuerst rauskriegen."
Im Hafen erfuhren sie es vom Kapitän eines deutschen
Kauffahrers. Der Verkehr zwischen Europa und Asien hatte einen neuen Weg
genommen: über Palästina.
"Da, gibt es denn dort Häfen, Eisenbahnen?" fragte
Friedrich.
Der Kapitän lachte herzlich:
"Ob es in Palästina Häfen und Bahnen gibt? Herr, von wo
kommen Sie denn? Haben Sie denn nie eine Zeitung oder einen Fahrplan gesehen?"
"Nie, will ich nicht sagen. Aber einige Jahre ist es
doch schon her... Palästina kennen wir übrigens als ein wüstes Land."
"Ein wüstes Land!,.. Gut, wenn Sie das ein wüstes
Land nennen wollen, ich bin es zufrieden. Nur sind Sie dann sehr verwöhnt."
"Hören Sie, Kapitän," rief Kingscourt, "wir wollen Ihnen
reinen Wein einschenken. Wir sind ein paar verdammt unwissende Bengels. Wir
haben uns zwanzig Jahre um nichts als um unser Vergnügen gekümmert. Also was ist
das mit dem ollen Palästina?"
"Wenn ich Ihnen das erzählen wollte, brauchte ich mehr
Zeit als Sie, um von hier hinzufahren. Kommt es Ihnen auf ein paar
Tage nicht an, so machen Sie doch den kleinen Umweg. Sie finden übrigens in
Haifa und Jaffa die schnellsten Schiffe nach allen europäischen und
amerikanischen Häfen, falls Sie Ihre Jacht verlassen wollen."
"Nee, unsere Jacht verlassen wir nicht. Aber den Umweg
können wir ja machen, Fritze? Was meinen Sie? Woll'n wir nochmals das Land Ihrer
Vorfahren besichtigen?"
"Mich zieht es dahin ebensowenig, wie nach Europa. Ganz
egal!"
Und sie steuerten nach Haifa.
Es war eines Frühlingsmorgens nach einer der in diesen
Meeren so weichen Nächte, als die Küste Palästinas in Sicht kam. Die beiden
standen auf der Kommandobrücke und lugten seit zehn Minuten unverwandt durch
ihre Ferngläser nach derselben Himmelsgegend aus.
"Man möchte schwören, daß dort die Bucht von Akko ist,"
sagte Friedrich.
"Man könnte auch das Gegenteil schwören," meinte
Kingscourt. "Ich habe noch das Bild dieser Bucht in der Erinnerung. Vor zwanzig
Jahren war sie leer und öde. Aber da rechts, das ist doch der Karmel, und da
drüben links ist Akko."
"Wie verändert!" rief Friedrich. "Da ist ein Wunder
geschehen."
Sie kamen naher. Nun konnten Sie schon durch ihre guten
Gläser die Einzelheiten etwas besser sehen. Auf der Rheede zwischen Akko
und dem Fuße des Karmel ankerten riesige Schiffe, wie man deren schon am Ende
des neunzehnten Jahrhunderts zu bauen pflegte. Hinter dieser Flotte sah man die
anmutige Linie der Bucht. An der Nordspitze Akko in alter orientalischer
Bauschönheit, graue Festungsmauern, dicke Kuppeln und schlanke Minarets, die
sich vom Morgenhimmel reizend abhoben. An diesen Umrissen war nicht viel anders
geworden. Aber südwärts unterhalb der ruhmreich schwergeprüften Stadt, am Bogen
des Uferbandes, war eine Pracht entstanden. Tausende weißer Villen tauchten,
leuchteten aus dem Grün üppiger Gärten heraus. Von Akko bis an den Karmel schien
da ein großer Garten angelegt zu sein, und der Berg selbst war auch gekrönt mit
schimmernden Bauten.
Da sie vom Süden kamen, verdeckte ihnen der
Bergvorsprung zuerst den Anblick des Hafens und der Stadt Haifa. Nun aber lag
auch diese vor ihnen, und da waren die Deibel Kingscourts überhaupt nicht mehr
zu zählen.
Eine herrliche Stadt war an das tiefblaue Meer gelagert.
Großartige Steindämme ruhten im Wasser und ließen den weiten Hafen dem Blicke
der Fremden sogleich als das erscheinen, was er wirklich war: der bequemste und
sicherste Hafen des mittelländischen Meeres. Schiffe aller Größen, aller Arten,
aller Nationen hielten sich in dieser Geborgenheit auf.
Kingscourt und Friedrich waren wie betäubt Auf ihrer
zwanzig Jahre alten Seekarte fand sich nichts von dieser Hafenstadt, und nun war
sie wie hergezaubert. Die Welt war also während ihrer Abwesenheit nicht
stillgestanden.
Die Jacht ging vor Anker. Dann fuhren sie im
Landungsboote durch das verblüffende Gewühl der Schiffe hindurch nach dem Kai.
Sie tauschten in kurzen abgerissenen Sätzen ihre Eindrücke aus.
An den steinernen Stufen des Uferdammes legte ihr Boot
an. Sie stiegen aus. Einige Schritte von ihnen entfernt wollte eben ein Herr die
Stufen hinab gehen, zu der elektrischen Barke, die offenbar seiner harrte. Als
dieser die beiden erblickte, blieb er betroffen stehen. Er starrte Friedrich mit
weit aufgerissenen Augen an.
Der Alte bemerkte es und brummte:
"Was hat denn der Kerl? Sollte er noch nie zwei
zivilisierte Menschen gesehen haben?"
Friedrich lächelte:
"Das ist nicht anzunehmen. Die Leute da auf dem Kai
schauen zivilisierter aus als wir. Es könnte eher sein, daß wir ihm veraltet
vorkommen. Sehen Sie doch da hinauf! Dieses weltstädtische Treiben auf der
Straße. Die vielen gut gekleideten Menschen. Ich glaube, unsere Anzüge sind ein
bißchen aus der Mode."
Sie hatten dem Bootsmanne aufgetragen, sie an derselben
Stelle zu erwarten und schritten über andere Steintreppen der erhöhten Straße
zu, von deren Treiben sie am Wasserrande schon etwas gesehen hatten. Um den
Unbekannten, der sie so auffallend anstarrte, kümmerten sie sich nicht weiter.
Doch er folgte ihnen. Er bemühte sich, die Sprache zu erlauschen, in der sie
redeten. Jetzt war er dicht hinter ihnen, jetzt streifte er vorbei und blieb mit
einem Ruck vor ihnen stehen.
"Herr!" brauste Kingscourt auf, "was wollen Sie
eigentlich von uns?"
Der Fremde gab ihm keine Antwort, sondern wandte sich an
Friedrich, mit einer männlich warmen, aber vor Erregung zitternden Stimme:
"Sind Sie der Doktor Friedrich Löwenberg?"
Aufs tiefste überrascht, an so fremdem Ort plötzlich
seinen Namen zu hören, entgegnete dieser:
"So heiße ich."
Da riß ihn der Unbekannte stürmisch an seine Brust und
küßte ihn auf beide Wangen. Dann ließ er ihn los und wischte sich die Tränen aus
den Augen.
Es war ein junger, kräftiger, hochgewachsener Mann
von dreißig Jahren mit sonnengebräuntem Gesicht, das ein kurzer, schwarzer Bart
umrahmte.
"Und wer sind Sie?" fragte Friedrich, nachdem er sich
von der stürmischen Begrüßung erholt hatte.
"Ich! Sie werden sich wohl meiner nicht mehr erinnern.
Ich heiße David Littwak."
"Der kleine Junge vom Café Birkenreis?"
"Ja, Herr Doktor! ... Derselbe, den Sie vom Hungertode
gerettet haben, samt seinen Eltern und seiner Schwester."
"Ach, sprechen wir nicht davon!" wehrte Friedrich ab.
"Im Gegenteil! Wir werden noch viel davon sprechen. Was
ich bin und habe, verdanke ich Ihnen. Zunächst sind Sie mein Gast - und wenn
dieser Herr Ihr Freund ist, so ist auch er bei mir zu Hause."
"Das ist mein bester, einziger Freund in der Welt, Mr.
Kingscourt."