Viertes Kapitel
AN EINE FORTSETZUNG DER REISE NACH EUROPA WAR VORLÄUFIG NICHT zu denken.
Friedrich Löwenberg meinte zwar aus Diskretion, er müsse' seinem Freunde diesen
Vorschlag machen, weil Kingscourt sich wohl kaum für die Schicksale des
jüdischen Volkes interessieren mochte. Aber der Alte erklärte mit
Entschiedenheit, daß er dableiben wolle, solange man sie dulde. Das sei doch
eine ganz verdammt kuriose Geschichte, die sich da mit den Juden abgespielt
habe. Und wenn der Herr Dr. Friedrich Löwenberg für seine eigene Nation keine
Teilnahme mehr habe, er, Kingscourt, sei kein solcher Unmensch.
Kurz und gut, als der Steuermann von der Jacht heraufkam, wurde ihm bedeutet,
daß man in Haifa bleibe. Kleider und Wäsche sollten nach Friedrichsheim
geschickt werden, und die Mannschaft könne sich ein paar gute Tage machen.
Die Fremdenzimmer, in denen sie untergebracht waren, grenzten aneinander.
Kingscourt stand in Hemdärmeln auf der Schwelle der Verbindungstür und machte
heftig gestikulierend seine Randbemerkungen zu allem, was sie bisher gesehen und
gehört hatten. Friedrich ruhte in einem Lehnstuhl und blickte träumend zur
offenen Terrassentür hinaus aufs Meer. Ein herrlicher Aufenthaltsort ließ sich
nicht denken. Und was waren das für prächtige Menschen, die sich in diesem hohen
und freien Wohlstand so gelassen bewegten. David heiter und energisch,
selbstbewußt und doch nicht unbescheiden. Seine Frau neben ihm ein glückliches
Bild der jungen und frohen Mütterlichkeit. Und dieses anmutige, edle Mädchen
Mirjam, ernsteren Pflichten ergeben, als es vormals der Brauch gewesen in
reichen jüdischen Häusern. Nach langen Jahren zum erstenmal mußte er wieder an
Ernestine Löffler denken, die er so töricht geliebt, und die ihm den Abschied
vom Leben so leicht gemacht hatte. Ob wohl Mirjam auch fähig wäre, eine solche
Ehe einzugehen, wie einst Ernestine? Er wußte selbst nicht, wie er auf diese
komische Frage kam. Nein, das war ein anderes Mädchen, und das waren andere
Menschen als die im widerwärtigen Löfflerschen Kreise. Wer weiß, ob es damals
nicht besser gewesen wäre, männlicher, menschenwürdiger, zu streben und zu
kämpfen, statt sich vor dem Leben zu flüchten.
"Kingscourt !" seufzte er aus diesem Gedankenzuge heraus, "ich frage mich, ob
unser Schiff keinen falschen Kurs hatte, als wir die selige Insel dort drüben
suchten. Womit habe ich nun zwanzig schöne Jahre verbracht? Mit Jagen, Fischen,
Essen, Trinken, Schlafen, Schachspielen..."
"Und mit einem alten Esel, was?" brummte Kingscourt verletzt.
"Den alten Esel schieben Sie mir unter." lachte Friedrich, "ohne Sie könnte und
möchte ich ja nicht mehr existieren. Aber es ist doch schade, daß man nicht
nützlicher war. Da ist nun die Welt um solch ein Stück weitergekommen, und man
hatte kein Teil daran, kein Verdienst."
"Nee, so was. Nu war der Mensch zwanzig Jahre in meiner Schule und hat noch
solche Gedanken. Sagen Sie gleich, daß Sie Mitglied der neuen Gesellschaft sein
möchten."
"Ich sage es nicht, weil ich sie noch nicht genügend kenne. Aber minder
abstoßend, als die frühere, kommt sie mir doch vor."
"Minder abstoßend? Minder abstoßend!" schäumte der Alle. "Bitte, treten Sie nur
in die saubere Gesellschaft ein. Ich kann ja allein weiterdampfen und sehen, wie
ich mit mir fertig werde."
"Regen Sie sich nicht auf, Kingscourt! Ich werde nicht länger hierbleiben, als
Sie selbst"
"Das ist ein Wort?"
"Mein Ehrenwort... Und ich werde auch nicht in Davids neue Gesellschaft
eintreten. Es wäre denn..."
"Was?"
Friedrich lächelte bei diesem Gedanken:
"Es wäre denn — daß Sie auch eintreten."
So gelacht hatte Kingscourt schon lange nicht.
"Fritze, hahaha, was haben Sie doch für pudelnärrische Einfälle. Oh, hoh,
hahaha. Sehen Sie mich als Mitglied einer jüdischen Gesellschaft! Mich, Adalbert
von Königshoff, einen königlich preußischen Offizier und christlichen
germanischen Edelmann. Nee, Fritze, das ist zu jut, zu jut."
"Der Junker spricht."
"Da is er nu gleich pikiert. In meinen Augen sind Sie ja 'ne Ausnahme. Einer is
Keiner."
"Und was haben Sie gegen David Littwak einzuwenden?"
"Vorläufig nischt. Scheint 'n ganz strammer Kerl zu sein.,." Ihr Gespräch wurde
durch den Hausherrn unterbrochen, der kam, sich nach ihren Wünschen zu
erkundigen. Ob sie sich schon für ein Theater oder Konzert entschieden hätten.
Er legte ihnen den Vergnügungsanzeiger einer Zeitung vor.
Kingscourt deutete auf das Blatt, ohne zu lesen:
"Wachsen noch immer so viele Lügen in der Welt?"
"Nur so viele, wie die Leser wollen," entgegnete David.
"Also enorm viel," schmunzelte Kingscourt.
"Das ist ganz verschieden. Im allgemeinen sind die genossenschaftlichen Blätter
wahrheitsliebend und anständig."
"Was für Blätter?"
"Die genossenschaftlichen. In unserer mutualistischen Wirtschaftsordnung mußten
auch die Tageszeitungen natürlich diesen Charakter annehmen."
Kingscourt unterbrach ihn:
"Halt, halt! Nicht zu schnell! In welcher Wirtschaftsordnung leben
Sie?"
"In der mutualistischen. Stellen Sie sich aber darunter keine eisernen Regeln,
keine unbeugsamen Grundgesetze, überhaupt nichts Hartes, Steifes, Doktrinäres
vor - sondern einen harmlos und natürlich fließenden Gebrauch. Auch das hat
schon zu Ihrer Zeit existiert, wie alles andere, was Sie bei uns sehen. Es gab
Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften aller Art. Alle Arten werden Sie auch
bei uns wirksam finden. Das ganze Verdienst unserer neuen Gesellschaft besteht
nur darin, daß sie das Aufkommen und Gedeihen der Genossenschaften durch Kredit
und—was wichtiger war — durch die Unterweisung der Massen gefördert hat. In der
Wissenschaft des vorigen Jahrhunderts war die Bedeutung der Genossenschaften
längst klargestellt worden. Im praktischen Leben rangen sie sich nur schwer und
zufällig durch. Die Genossen waren in vielen Fällen zu schwach, um bis an den
Erfolg, der kommen mußte, durchzuhalten. Sie halten auch mit der dumpfen oder
offenen Gegnerschaft bedrohter Interessen zu kämpfen. Die Lebensmittelhändler
waren selbstverständlich über die Konsumvereine nicht sehr froh. Die
Möbelfabrikanten waren von dem Tischlergenossenschaften nicht entzückt. Alle
Trägheit, alle Reibungswiderstände, alle Hemmungen eingealterter Zustände
wirkten gegen die Entstehung der Genossenschaften. Und doch ist das die mittlere
Form zwischen Individualismus und Kollektivismus. Der einzelne wird nicht der
Anregungen und Freuden des Privateigentums beraubt, und dennoch kann er sich im
Zusammenstehen mit Genossen der kapitalistischen Übermacht erwehren. Der Jammer,
der Fluch ist von unseren Armen genommen, daß sie am Erzeugnisse weniger
verdienen und den Verbrauch teurer bezahlen als die Reichen. Bei uns ist das
Brot des Armen ebenso billig wie das des Reichen. Es gibt keinen
Lebensmittelwucher. In der alten Gesellschaft wären Hunderttausende von Händlern
dabei zugrunde gegangen. Wir ließen die Händler alten Stils gar nicht erst
entstehen, sondern richteten von Anfang an die Konsumvereine ein. Da haben Sie
wieder den Vorzug unserer Lastenfreiheit. Wir mußten niemanden zugrunde richten,
um unseren armen Massen zu helfen."
"Aber die Zeitung?" fragte Friedrich. "Wir sprachen von Zeitungen. Wie können
die genossenschaftlich eingerichtet werden? Gehören sie sämtlichen Redakteuren,
oder wie ist das?"
"Sehr einfach. Die genossenschaftliche Zeitung gehört den Abonnenten. Der
Abonnementsbetrag ist die Einlage der Mitglieder, die darüber hinaus nicht
haften. Je größer der Leserkreis, um so bedeutender sind die Einnahmen aus
Inseraten und Ankündigungen verschiedener Art. Dieser Gewinn gebührt eigentlich
den Lesern oder wenigstens den Abonnenten, und er wird zum Jahresschluß den
Mitgliedern rückvergütet. So daß in besonders günstigen Fällen die Abonnenten
schließlich ihre Einlage ganz wiedererhallen. Es ist auch schon vorgekommen, daß
sie mehr als die Einlage erhielten."
"Fabelhaft! Unglaublich fabelhaft," schrie Kingscourt. "Da kriegt man also eine
Prämie für fleißiges Zeitungslesen?"
"Ja, haben Sie denn in Europa und Amerika nie davon gehört, welche Einkünfte die
großen Zeitungen hatten? Sie wurden auch immer billiger, obwohl die Ausgaben für
Depeschen und Mitarbeiterhonorare sich riesig steigerten. Die größten Blätter
wurden unter den Entstehungskosten hingegeben, und dabei wuchs der Gewinn der
Unternehmer immer mehr. Darin war also schon das Prinzip der Gewinnvergütung an
die Abonnenten enthalten. Dasselbe finden Sie hier bei uns, nur gelangt auch der
Löwenanteil des Unternehmers zur Verteilung an die Mitglieder der
Zeitungsgenossenschaft. Die Redaktion ist der geschäftsführende Ausschuß, und
Sie können versichert sein, daß diese hochstehenden Arbeiter, deren Geist ja das
bedruckte Papier erst lesenswert macht, besser daran sind als früher. Sie sind
es, die das Geld für die Abonnenten verdienen, und dafür hat auch der
gewöhnliche Mann das Einsehen. Es kommt die Dankbarkeit für die guten, schönen
und gerechten Aufsätze hinzu, durch die Tag um Tag die allgemeine Bildung
gepflegt und erweitert wird. Unsere Zeitungen ergänzen den Volksunterricht
unermüdlich, sie belehren, aber sie unterhalten auch; sie dienen den
praktischen. Bedürfnissen des Verkehre, des Handels und der Industrie nicht
minder eifrig, als der Kunst und Wissenschaft. Und wie anders freudig arbeiten
diese Journalisten im Bewußtsein ihrer öffentlichen Wichtigkeit und des zu
erwartenden rückhaltlosen Dankes. Um wieviel ernster nehmen sie ihre Aufgabe,
für die es nunmehr auch eine Verantwortung gibt."
"Das klingt verführerisch," warf da Friedrich ein. "Nur scheint mir, daß
solche genossenschaftlichen Zeitungen den Launen der Menge
sklavisch unterworfen sein müssen. Die Redaktion, in ihrer ganzen
Existenz von den Lesern abhängig,
wird augendienern, dem Publikum schmeicheln, den Leidenschaften der Abonnenten
zu fröhnen suchen."
"Wenn dem so wäre," entgegnete David, "wäre das vielleicht etwas Neues? Hat es
nicht auch früher solche Erscheinungen gegeben? Es gab Redakteure, die ängstlich
nach den Stimmungen des Publikums aushorchten und auslugten, die das eine
verschwiegen und das andere übertrieben, je nachdem sie glaubten, es ihren
Lesern recht zu machen. Und dabei waren sie erst noch im Ungewissen, ob sie es
auch trafen. Anders jetzt. In den jährlichen Versammlungen wird Rechenschaft
gegeben, aber auch vom organisierten Publikum der Zeitung für die Zukunft eine
Richtschnur erteilt."
"Gräßlich !" rief Kingscourt. "Versammlungen von hunderttausend Abonnenten !"
"Wo denken Sie hin? Die Abonnenten wählen hundert oder zweihundert
Vertrauensmänner, die das besorgen. Der Vorgang ist einfach. In der Zeitung
selbst kandidieren Leute für dieses kurze Amt. Der Abonnementschein hat einen
Kupon, der als Wahlzettel dient. Fünfhundert oder tausend übergeben ihre
Wahlzettel einem Vertrauensmann für die Generalversammlung. Ein solcher pflegt
in der Zeitung selbst zu inserieren: Ich gedenke in der Generalversammlung
diesen und diesen Standpunkt einzunehmen. Wer mit mir einverstanden ist, möge
mir seinen Zettel einschicken."
"Schön," sagte Friedrich; "dem Publikum wird reichlich Rechnung getragen. Aber
darin, sehe ich noch keinen Vorteil für das Volk. Die neuen Gedanken und
Bewegungen werden seilein gleich verstanden. Sie könnten es ebensogut Kindern
anheimstellen, ob sie etwas lernen wollen, wie dem Publikum, ob es seine
Anschauungen verbessern, erneuern oder verliefen will. Ihre öffentliche
Meinungsgenossenscbaft muß notwendig zur Volksverdummung in den extremsten
Formen, nämlich zu Reaktion und Revolution führen. Die Leute werden entweder
taub gegen den Wert des Neuen oder blind gegen den Wert des Alten sein. Der
Nutzen einer geistigen Führung, die nur vom begabten Individuum kommen kann,
geht ihnen verloren."
"Sie haben mich nicht ausreden lassen, Herr Doktor. Ich sagte nicht, daß die
genossenschaftliche Zeitung die einzige Form sei. Diese ist nur an Stelle
derjenigen Publizitätsunternehmungen getreten, welche durch den Umfang der
Anlage, die Kosten der technischen Herstellung und den teuren Nachrichtendienst
einen groß-industriellen Charakter hatten. Wir haben aber auch Zeitungen, die
von einzelnen gemacht und geführt sind. Ich selbst besitze eine solche. Ich
brauche sie in dem Kampfe, den ich gegenwärtig in unserer neuen Gesellschaft
auszufechten habe. Mein Hauptgegner, der Rabbiner Dr. Geyer, hat auch sein
eigenes Blatt. Ich werde meine Zeitung nicht länger herausgeben, als der Streit
dauert. Geyer wird es wahrscheinlich anders halten, denn er lebt von diesem
Hader. Und so gibt es noch vielerlei im Eigentum Einzelner befindliche und als
solche kenntliche Zeitungen, die verschiedenen Zwecken dienen. Kommt eine neue
Richtung, tritt ein schöpferischer Geist auf, so können sie sich in der
öffentlichen Meinung betätigen. Gewiß werden sie auch recht bitter zu kämpfen
haben, gleichwie in der vorigen Zeit. Sie werden den Ernst ihrer Überzeugungen,
ihren Mut, ihre Ausdauer erhärten müssen, und das ist nicht schlecht. Glauben
Sie mir, wir sind durch unseren Mutualismus nicht ärmer geworden an kräftigen
Individualitäten, sondern reicher. Der Einzelne wird bei uns weder zwischen den
Mühlsteinen des Kapitalismus zermalmt, noch von sozialistischer Gleichmacherei
geköpft. Wir kennen und schätzen die Entwicklung des Individuums, so wie wir
seine wirtschaftliche Basis, das Privateigentum, respektieren und schützen."
"Na, Gott sei Dank !" sagte Kingscourt, "ich dachte schön, ihr hättet den
Unterschied von Mein und Dein aufgehoben."
"Dann wäre wohl das alles, was Sie schon gesehen haben und noch sehen werden,
nicht entstanden," erklärte David. "Nein, so verrückt waren wir nicht. Den
Ansporn zur Arbeit, Bemühung, Entdeckung und Erfindung haben wir nicht aus der
Welt geschafft. Die größere Begabung muß ihre größere Talentrente, die größere
Anstrengung ihren größeren Lohn haben. Den Reichtum brauchen wir als Lockung für
die Strebsamen und als Nahrung für die seltene Kunst. Ich selbst gehöre zu den
besser Bemittelten. Ich bin Schiffsreeder. Meine Unternehmung ist von der Art
derjenigen, die nach wie vor nur von Einzelnen oder von Aktiengesellschaften mit
Erfolg betrieben werden können. Das ist ja ein Hauptvorzug des Mutualismus, daß
er das Fortbestehen und Neubegründen anderer wirtschaftlicher Formen nicht
ausschließt In meinem Hause werden Sie zum Beispiel eine interessante Mischform
finden. Ich bin der Eigentümer der Firma. Meine Arbeiter bilden untereinander
eine Genossenschaft, die mir gegenüber immer selbständiger wird, und zwar mit
meinem Willen, meiner Unterstützung. In den Anfangen meiner Unternehmung und
ihrer Genossenschaft hatten sie nur einen Konsumverein, der sich zur Sparkasse
erweiterte. Sie müssen bedenken, daß unsere Arbeiter als Mitglieder der neuen
Gesellschaft ohnehin für Unfälle, Krankheit, Alter und Tod versichert sind. Ihre
Sparkraft wird somit nicht zersplittert. Ich habe freiwillig ihre
Spargenossenschaft durch Zuweisung eines Gewinnanteiles gestärkt. Ich tat es
nicht aus Edelmut, sondern aus Egoismus, weil ich mir dadurch außer ihrer
Arbeitshingebung auch noch den günstigen Verkauf meines Unternehmens sicherte
für den Zeitpunkt, in dem ich mich vom Geschäft zurückziehen werde. Dann
verwandle ich meine Reederei in eine Aktiengesellschaft und habe für diesen Fall
der Spargenossenschaft meiner Arbeiter das Vorkaufsrecht auf Grundlage einer
mäßigen Verzinsung schon im vorhinein eingeräumt. Darum sind meine Arbeiter auch
meine besten Freunde. Es gibt zwischen uns weder Lohnstreitigkeiten noch andere.
Es ist, wenn Sie wollen, das patriarchalische Verhältnis, aber in den modernsten
Verkehrsformen ausgedrückt. Wenn ein Aufwiegler zu meinen Arbeitern käme,
brauchte ich ihn nicht gewaltsam entfernen zu lassen — sie würden ihn einfach
hinauslachen. Sie wissen, woran Sie sind, und damit hat aller unklare
Sozialismus ein Ende."
Kingscourt brummte gemütlich:
"Sie sind noch ein junger Mensch und halten schon so verdammt weit."
"Ich habe eben früh angefangen. Wir waren unter den ersten Einwanderern.
Persönliches Verdienst war es nicht, oder nur zum geringeren Teile. Der
allgemeine Aufschwung hat mich mit hinaufgetragen. Aber das will ich Ihnen erst
in Tiberias erzählen."
"Warum in Tiberias?" fragte Friedrich.
"Sie werden dort den Grund erfahren, da Sie wahrscheinlich keine Ahnung haben,
welches Fest wir begehen... Jetzt aber wählen Sie endlich Ihre
Abendunterhaltung, meine Herren. Wollen Sie lieber das Programm aus der
gesprochenen Zeitung hören?" Er nahm zwei Hörmuscheln von der Wand, an der sie
hingen, und reichte sie seinen Gästen.
"Euer Hochwohlgeboren, damit imponieren Sie mir nicht. Den Zauber kenn' ich.
Eine solche Telephonzeitung war schon vor fünfundzwanzig Jahren in Budapest im
Betrieb."
"Ich wollte Ihnen durchaus nichts Neues zeigen. Übrigens ist auch diese
gesprochene Zeitung eine genossenschaftliche."
"Die wird aber kein Erträgnis abwerfen, da es keine Inserate gibt."
"Im Gegenteil. Diese Ankündigungen werden am höchsten bezahlt Den Inseratenteil
der gedruckten Zeitungen muß der Leser nicht anschauen, er kann darüber
hinwegblättern. Hingegen ist er gegen die Reklame wehrlos, die aus diesen
Muscheln kommt. Horchen Sie, vielleicht wird gerade eine verlesen."
Sie nahmen die Hörmuschel ans Ohr. Zuerst vernahmen Sie die Anzeige eines
Dockbrandes in Yokohama, dann den kurzen Bericht über eine Pariser
Theaterpremiere, die neuesten Baumwollkurse von Newyork — und jetzt erscholl es
deutlich, noch schärfer betont, als das Frühere:
"Bei Samuel Kohn bekommt man die edelsten Edelsteine, sowohl echte wie falsche,
zu den garantiert brillantesten Preisen. Bei Sa-mu-el Kohn, Große Galerie 47."
Sie lachten herzlich.
David sagte noch:
"Das wird oft auf eine witzige Weise gemacht, daß der Hörer nicht merkt, es
werde auf eine Reklame hinauslaufen. Das Erträgnis dieser Zeitung ist kolossal.
Die Abonnenten zahlten ursprünglich einen Schekel monatlich und bekamen mehr
zurück. Diese Zeitung hat ja weder Druck-, noch Papier-, noch Zusendungskosten,
Aber die Stadt Haifa und die neue Gesellschaft machten sich das Unternehmen
tributär. Es steht übrigens auch unter besonderer Aufsicht. In der Zentrale
wachen Beamte der neuen Gesellschaft darüber, daß kein Unfug begangen, keine
Lügen, Alarmnachrichten oder Unanständigkeiten in den Apparat hineingesprochen
werden."
Friedrich war ein Wort aufgefallen.
"Tributär? Wie kann sich die Stadt oder Ihre neue Gesellschaft, deren Verfassung
Sie uns noch schuldig sind, ein Privatunternehmen einfach tributär machen, wenn
es ergiebig wird?"
"Das ist ein ganz besonderer Fall. Die Telephonzeitung muß ihre Kabel doch
irgendwohin legen. Nun haben wir unter unseren Straßen Hohlräume zur Aufnahme
aller möglichen schon vorhandenen und noch kommenden Drahtleitungen und Röhren
für Gas, Wasser und Kanalisation. Unter dem Fahrdamm läuft dieser Tunnel mit
Mündungen an jedem Hause. Jedes Haus hat einen unterirdischen Eingang für solche
Röhren und Drähte. Man muß nicht erst das Pflaster aufreißen, wenn man etwas
Neues einführen will. Sie können darin meinetwegen auch einen symbolischen Zug
unserer Einrichtungen erblicken. Die großen Städte, die Sie kannten, waren
zufällig und planlos entstanden. Leuchtgas, Wasserversorgung, Kanäle,
elektrische Leitungen verursachten immer wieder ein Aufreißen der kranken
Eingeweide jener Straßen. Dabei wußte man nie genau, in welchem Zustande sich
die einzelnen Leitungen befanden, erfuhr es gewöhnlich erst nach einem Schaden,
einer Explosion. Wir aber kannten schon die Bedürfnisse moderner Städte, als wir
die unsrigen anlegten und bauten deshalb die Straßen vernünftig mit diesem
Hohlraum in der Mitte. Das war ziemlich kostspielig, rentiert sich aber
großartig. Wenn Sie das Budget von Haifa mit dem von Paris oder Wien
vergleichen, werden Sie sehen, was wir durch die unterirdischen Hohlräume
ersparen. Darin liegen unter andern auch die Drähte der Telephonzeitung, und es
muß dafür eine mit dem Erträgnis gewachsene Miete gezahlt werden. Das kommt ja
wieder nur der Allgemeinheit zustatten."
Kingscourt bekannte:
"Das ist das erste, was mir bei euch imponiert: daß ihr die edelsten Edelsteine
des Samuel Kohn zur Straßenpflasterung verwendet. Ihr seid doch ein verflucht
pfiffiges Volk ! Darauf wäre ich nie gekommen."
"Ihre Komplimente schmecken bitter, Mr. Kingscourt !" sagte David freundlich.
"Aber vielleicht wird sich Ihr Urteil noch ändern, wenn Sie erst einige Zeit bei
uns sind."
"Schön! Mich sehen Sie prinzipiell bereit einzugestehen, daß ich 'n oller Esel
bin - aber ich verlange Beweise dafür!... — Und nun führen Sie uns in
Deibelsnamen ins Theater."
"In welches Sie wollen, lieber Littwak," ergänzte Friedrich.
"Da Sie keine Wahl treffen wollen, meine Herren, so denke ich, wird's am besten
sein, wir überlassen die Bestimmung den Damen."
Damit waren die Gäste einverstanden.