Erstes Kapitel
ES WAR EIN WONNEVOLLER FRÜHLINGSMORGEN, an dem die Gesellschaft von
Friedrichsheim aufbrach, um nach Tiberias zu fahren. Ein mächtiger
Reisewagen mit motorischem Betrieb hielt vor der Freitreppe. Das Gefährt konnte
ein Dutzend Personen fassen.
"Donnerwetter !" schrie Kingscourt gutgelaunt. "Das ist ja die Arche Noah. Da
hätte all sündhaft Vieh und Menschenkind Platz."
"Wir werden im ganzen nur elf Personen sein," sagte David.
"Elf? Ich sehe nur neun," zählte Kingscourt. "Sie scheinen Fritzchen für drei
zu rechnen. War übrigens kein schlechter Einfall, daß Sie den Burschen
mitnehmen."
Fritzchen schien auf dem Arm seiner Kinderfrau zu verstehen, daß von ihm die
Rede war. Mit lautem jauchzenden "O — o !" streckte er die Händchen verlangend
nach Kingscourts weißem Bart aus.
"Wir werden unterwegs noch zwei Freunde abholen," sprach Frau Sarah. "Reschid
Bey und den Architekten Steineck."
Unterdessen hatten Diener vielerlei Handgepäck an den Wagen herangebracht und
es in die unter den Sitzen befindlichen Hohlräume geschoben. Nur ein Speisekorb,
welcher Milchflaschen für Fritzchen und noch einige Lebensmittel enthielt, wurde
auf einen oberen Platz gestellt Hintenauf stiegen der Heizer und ein schwarzer
Diener. Auf den vorderen gepolsterten Bänken saßen Mirjam, Sarah und Friedrich.
Kingscourt wollte in dem durch eine Glaswand geschützten Wagenteile sitzen,
angeblich, um vor dem Winde geborgen zu sein, in Wirklichkeit, weil er gehört
hatte, daß Fritzchen da unterkommen solle. Er kletterte auch zuerst hinein und
ließ sich das Kind reichen. Als aber Fritzchen auf Kingscourts Arm war,
klammerte es sich fest an ihn und mochte um keinen Preis mehr zu seiner
Kinderfrau zurück. David, der als letzter einstieg, versuchte es mit väterlicher
Strenge. Vergeblich.
Kingscourt war sehr böse, wenigstens in Worten: "So'n ungezogener Bengel!
Wirst du gleich weggehen!"
David bat: "Geben Sie ihn mir l Ob er nun heult oder nicht." Kingscourt
dachte nicht im entferntesten daran, das Bübchen loszulassen. Er hatte es sich
auf den Schoß gesetzt und kitzelte es an der Brust, unter dem Kinn, bis es laut
lachte.
"So'n Kerl ! Dem liegt freilich nichts daran, wenn der alte Kingscourt zum
Gespött von ganz Haifa wird. Zum Glück kennt mich hier keiner !"
Und so fuhr der Reisewagen zum Tore von Friedrichsheim hinaus. Hinten der
schwarze Diener blies lustige Stückchen auf seinem blechernen Horn. Fritz
klatschte vergnügt in die Hände.
"Guck' mal!" sagte Kingscourt, "das ist ja fast wie in der guten Zeit. Der
Schwager mit dem Posthorn."
David bemerkte: "Er bläst, um uns bei Reschid anzukündigen. Wir wollen
unterwegs keine Zeit verlieren."
Sie fuhren die nun schon bekannte Karmelstraße talwärts. Richtig stand
Reschid Bey schon vor seinem Hause, reisefertig. Die Begrüßung war herzlich und
fröhlich. Hinter dem Holzgitter eines Fensters im ersten Stock erhob sich eine
schöne, weiße Frauenhand und winkte mit dem Taschentuche.
Frau Sarah rief lächelnd hinauf zur Unsichtbaren:
"Grüß dich Gott, Fatma! Wir werden dir deinen Mann unbeschädigt
zurückbringen, sei ganz ruhig!"
Und Mirjam rief: "Küß mir deine Kinder, Fatma!"
Nun war auch das kleine Gepäck Reschids im Wagenkasten versorgt. Der Bey saß
neben David. Noch die letzten Abschiedsgrüße an die winkende weiße Frauenhand
hinter dem Holzgitter, und die Motorarche pustete weiter.
Friedrich wandte sich zu seiner Nachbarin Mirjam:
"Die arme Frau muß nun allein zu Hause bleiben."
"Sie ist ein so zufriedenes, heiteres Weib," erwiderte Mirjam.
"Ich bin überzeugt, daß sie ihrem Manne die Freude dieses Ausflugs von Herzen
gönnt. Und er führe nicht mit uns, wenn es für sie eine Kränkung wäre. Er und
sie sind wahrhaft gute Menschen."
"Immerhin bewundere ich die Frau, die gefügig hinter ihrem Gitter bleibt — an
solch einem Morgen, meine Damen !"
"Nicht wahr?" sagte Sarah mit strahlender Miene. "Solche Frühlingstage gibt
es nur in unserem Lande. Das Leben schmeckt hier besser, als irgend anderswo."
Auch Friedrich fühlte sich durchströmt von Glück, er wußte es sich gar nicht
zu erklären. Er war wieder jung, ja übermütig, und in dieser Laune gefiel es
ihm, seine reizende Nachbarin zu necken:
"Wie ist es aber mit der Schule, Fräulein Mirjam? Heute haben Sie wohl die
Pflichten ein bißchen an den Nagel gehängt?"
Mirjam lachte:
"Er weiß nichts, rein nichts mehr vom Judentum !... Erfahren Sie denn, mein
Herr, daß heute unsere Osterferien begonnen haben. Wir fahren ja darum zu den
Eltern nach Tiberias, weil wir dort den Seder feiern wollen. Hat Ihnen David
nichts davon gesagt?"
"Ihr Bruder deutete einige Male darauf hin, daß wir in Tiberias mehr von der
Judenwanderung hören sollten. So war's also zu verstehen? Nun, die Wanderung aus
Mizraim kenne ich ja noch von meiner Knabenzeit her."
"Vielleicht hat er auch etwas anderes gemeint," sprach Mirjam in
nachdenklichem Tone.
Der Reisewagen war inzwischen am unteren Ende der Karmelstraße angekommen,
hatte aber nicht die Richtung nach dem Mittelpunkte der Stadt, sondern rechts ab
genommen. Es war die Vorstadt, die der Kison durchfloß. Sie kamen auf einen mit
Bäumen bepflanzten Kai. Vor einem entzückenden Palästchen hielten sie an. Da
stand ein heftig gestikulierender Herr, der einen grauen Schnurrbart hatte und
mit zurückgeworfenem Kopfe über den Rand seines abrutschenden Kneifers hinweg
die Ankömmlinge betrachtete:
"Ich wäre an eurer Stelle gar nicht gekommen !" schrie er ihnen entgegen.
"Seit einer halben Stunde steh' ich mir da die Beine in den Leib. Ich werde nie
wieder pünktlich sein."
David hielt ihm statt jeder Antwort die Taschenuhr vor die Augen.
"Das beweist nichts," rief Steineck; "Ihre Uhr geht zu langsam. Ich glaube
überhaupt nicht an Uhren... Da, nehmen Sie meine Pläne ! Aber nicht verdrücken,
bitte ! So, und jetzt rückwärts fertig." Er hatte die drei großen Kartonrollen,
die er unter dem Arme gehalten, David und Reschid zugeschoben und war schnaufend
in den Wagen geklettert. Aber kaum war dieser in Bewegung, so schrie Steineck
klagend auf:
"Halt, halt! Zurück! Ich habe meine Reisetasche vergessen."
"Man wird sie Ihnen mit dem großen Gepäck nachschicken," beschwichtigte ihn
David. "Sie wissen, daß ich unser Gepäck auf der Eisenbahn direkt nach Tiberias
schaffen lasse, weil wir doch den Umweg machen."
"Unmöglich !" jammerte der Architekt. "Ich habe meine Rede in der
Reisetasche. Wir müssen zurück."
Sie mußten zurück. Die Handtasche wurde geholt, aufgeladen, Steineck atmete
erleichtert und wurde plötzlich sehr gut gelaunt. Es waren aber in diesem
Augenblicke zwei der größten Schreihälse in dem verhältnismäßig engen Räume der
Motorarche beisammen: Kingscourt und Steineck. Gleich dem alten Menschenfeinde,
pflegte auch Steineck die gleichgültigsten Dinge mit furchtbarem Poltern
vorzutragen. Kaum waren sie einander vorgestellt worden, brüllten sie sich
gegenseitig in die Ohren. David und Reschid hörten es ergötzt mit an. Plötzlich
legte aber Kingscourt den Zeigefinger an den Mund, und veranlaßte dadurch auch
Steineck, zu schweigen.
"Herr Steineck," flüsterte der Alte, "Sie waren zwar sehr laut, aber
Fritzchen ist dabei doch eingeschlafen." Und er hob, während die anderen
lachten, das Kind, das ihm auf dem Schoße schlummerte, behutsam auf und legte es
in den Arm der rückwärts sitzenden Kinderfrau.
"Mr. Kingscourt," raunte Steineck sehr gekränkt, "ich glaube nicht, daß ich
lauter gesprochen habe als Sie."
Die Straße, auf der sie fuhren, bot den beiden Fremden immer neue Gelegenheit
zu staunenden Fragen. Der Verkehr war hier natürlich viel schwächer als in der
Stadt, es gab jedoch Leben genug. Radfahrer und Motorwagen eilten an ihnen
vorüber. Auf einem weichen Reitpfade zur Seite des Fahrwegs tauchten ab und zu
Reiter auf, manche in der malerischen Tracht der Araber, andere in europäischer
Kleidung. Auch sah man öfters Kamele, einzeln und in Zügen, die malerischen und
primitiven Überbleibsel einer überwundenen Epoche. Die Fahrstraße war vorzüglich
glatt, und man rollte angenehm dahin. Rechts und links kleine Häuser mit Gärten,
weiterhin wohlbestellte Felder, von jungem Grün überhaucht. Es fiel Kingscourt
auf, daß von den Drähten, die längs der Straße auf Stangen hingezogen waren,
Abzweigungen in die einzelnen Häuser gingen.
"Sind das Telephondrähte?" erkundigte er sich. "Und was ist das für eine Art
Leute, die hier wohnt?"
Reschid Bey klärte ihn auf: "Hier wohnen zumeist Handwerker. Das hier ist ein
Schuhmacherdorf. In diesen Drähten wird ihnen elektrischer Strom für ihre
kleinen Maschinen zugeleitet. Ist Ihnen das etwas Neues?"
"O nein, das war schon zu meiner Zeit bekannt. Aber praktisch wurde dieser
Kraftverschleiß wenig ausgenützt. Und woher kommt der Strom, wenn ich fragen
darf?"
"Es gibt verschiedene Elektrizitätsgesellschaften. Die Leute hier beziehen
den Strom zumeist von den Gebirgsbächen des Hermon und Libanon oder vom
Toten-Meer-Kanal."
"Nein !" schrie Kingscourt überrascht.
"Ja !" brüllte Steineck.
David aber sagte:
"Diese Handwerker sind auch halbe Bauern. In beiden Eigenschaften sind sie
genossenschaftlich verbunden. Ihre gewerblichen Erzeugnisse liefern sie im Wege
der Genossenschaft an die großen Warenhäuser, Versandgeschäfte und Exporteure
ab. Zugleich bilden sie aber auch landwirtschaftliche Verbände. Da gibt es die
mannigfaltigsten Formen. In der Nähe der größeren Städte ist die gewerbliche
Tätigkeit überwiegend und der Feldbau daneben unbedeutend, so daß ein solcher
Handwerker über seinen Eigenbedarf hinaus nur wenig Bodenfrüchte zieht,
beispielsweise Obst und Gemüse für die städtischen Markthallen. In der
Küstenzone, die ganz den Charakter der Riviera hat, werden, wie in der Umgebung
von Nizza, Tomaten, Artischoken, - Melonen, petits pois, haricots verts und
dergleichen gezogen. Unsere Frühgemüse schicken wir mit der Bahn in alle
Weltgegenden, nach Paris, Berlin, Moskau, St. Petersburg. Dann gibt es wieder
Gegenden, wo das umgekehrte Verhältnis ist, wo das Landwirtschaftliche vorwiegt
und das Gewerbliche nur den Charakter einer bescheidenen, wenn auch modernen,
mit guten technischen Hilfsmitteln arbeitenden Hausindustrie hat. Das sind
unsere Dörfer, die über das ganze blühende Land zerstreut sind. Zum Beispiel da
drüben in der Ebene von Jesreel. Sie dürfen freilich keine solchen armen
Schmutznester erwarten, die man in früheren Zeiten Dörfer nannte. Wir werden
heute noch Gelegenheit haben, das neue Dorf zu sehen, den Typus, der sich
unzählig in Palästina wiederholt, west- und ostwärts vom Jordan."
Sie waren über eine Brücke des Kison gefahren, und der Wagen rollte schneller
zwischen herrlichen Orangen- und Zitronengärten hin. Die roten und gelben
Früchte leuchteten aus dem Laube.
"Hol' mich der Deibel, das ist ja Italien!" sagte Kingscourt.
"Kultur ist alles !" brüllte Steineck, als ob er einen Widerspruch
niederzukämpfen hätte. "Wir Juden haben Kultur hierher gebracht."
Rescbid Bey lächelte freundlich:
"Verzeihen Sie, mein Bester! Diese Kultur war auch früher da, wenigstens
andeutungsweise. Schon mein Vater hat Orangen in großer Zahl gepflanzt." Er
wandte sich zu Kingscourt und deutete mit dem Finger nach einer Anlage zur
Rechten: "Das weiß ich besser als Freund Steineck, denn hier ist meines Vaters
Garten, jetzt der meinige."
Es war eine Pracht, wie die wohlgepflegten Bäume dastanden. Auf den
immerblühenden Limonenstämmen sah man Blüten, grüne und gelbe Früchte
nebeneinander.
Steineck donnerte: "Ich will nicht leugnen, daß ihr schon vor uns eure
Bojaren hattet, aber verwerten könnt ihr sie erst jetzt ordentlich."
Reschid Bey nickte: "Das ist richtig. Unsere Erträgnisse sind sehr erheblich
gewachsen. Unser Orangenexport hat sich verzehnfacht, seit wir die guten
Verkehrswege nach der ganzen Welt haben. Alles ist ja durch eure Einwanderung
mehr wert geworden."
"Eine Frage, Reschid Bey !" warf Kingscourt ein. "Die Herren werden sie mir
nicht übel nehmen, dazu sind sie ja viel zu gescheit. Sind die früheren Bewohner
von Palästina durch die Einwanderung der Juden nicht zugrunde gerichtet worden?
Haben sie nicht wegziehen müssen? Ich meine: im großen und ganzen. Daß einzelne
dabei gut fuhren, beweist ja nichts."
"Welche Frage!" entgegnete Reschid. "Für uns alle war es ein Segen.
Selbstverständlich in erster Reihe für die Besitzenden, die ihre Landstücke zu
hohen Preisen an die jüdische Gesellschaft verkaufen konnten oder auch weiter
behielten, wenn sie noch höhere Preise abwarten wollten. Ich für meinen Teil
habe die Grundstücke unserer neuen Gesellschaft verkauft, weil ich dabei meine
Rechnung besser fand."
"Sagten Sie nicht vorhin, das wären Ihre Gärten, an denen wir vorbeifuhren?"
"Freilich! Nachdem ich sie der Gesellschaft verkauft hatte, pachtete ich sie
wieder."
"Da hätten Sie sie doch gleich nicht hergeben sollen."
"So war es aber für mich vorteilhafter. Da ich mich der neuen Gesellschaft
anschließen wollte, mußte ich mich auch ihren Landregeln unterwerfen. Die
Mitglieder haben kein Privateigentum an Grund und Boden."
"Friedrichsheim gehört nicht Ihnen, Herr Littwak?"
"Das Grundstück nicht. Ich habe es nur bis zum nächsten Jubeljahre gepachtet,
wie Freund Reschid seine Gärten."
"Jubeljahr? Bitte, erklären Sie sich gefälligst näher. Mir scheint wirklich,
daß ich da drüben auf meiner Insel viel verschlafen habe."
"Das Jubeljahr," sagte David, "ist keine neue, sondern eine sehr alte
Einrichtung unseres Lehrers Moses. Nach siebenmal sieben Jahren, also in jedem
fünfzigsten Jahre, fielen die verkauften Grundstücke wieder an den
ursprünglichen Besitzer ohne Entschädigung zurück. Wir haben das allerdings ein
bißchen anders gemacht. Bei uns fallen die Grundstücke an die neue Gesellschaft.
Schon Moses wollte dadurch der sozialen Gerechtigkeit in der Bodenverteilung
dienen. Sie werden einsehen, daß unsere Methode diesem Zwecke nicht schlechter
dient. Die Wertvermehrung des Boden kommt nicht einzelnen, sondern der
Gesamtheit zustatten."
Steineck glaubte einen Einwand Kingscourts im vorhinein zerstreuen zu müssen:
"Sie werden vielleicht sagen, daß dann niemand mehr Lust haben wird, auf einem
nicht ihm gehörenden Boden Verbesserungen und schöne Bauten aufzuführen."
"O nein, mein Herr, das werde ich nicht sagen. Für ein solches Rindvieh
müssen sie mich nicht halten. Ich weiß, daß in London die Leute ihre Häuser auf
fremden Grundstücken bauen, die sie auf 99 Jahren gemietet haben. Das ist doch
ganz dasselbe. ... aber ich wollte Sie fragen, mein lieber Bey, wie es den
früheren Einwohnern erging, die nichts besaßen — den vielen arabischen
Mohammedanern?"
"Mr. Kingscourt, diese Frage beantwortet sich von selbst," sagte Reschid.
"Die nichts besaßen, also nichts zu verlieren hatten, die haben natürlich nur
gewinnen können. Und sie haben gewonnen: Arbeitsgelegenheit, Nahrung,
Wohlergehen. Es hat nichts Armseligeres und Jämmerlicheres gegeben, als ein
arabisches Dorf in Palästina zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Bauern
hausten in erbärmlichsten Lehmnestern, die zu schlecht waren für Tiere. Die
Kinder lagen nackt und ungepflegt auf der Straße und wuchsen auf wie das liebe
Vieh. Heute ist das alles anders. Von den großartigen Wohlfahrtseinrichtungen
haben sie profitiert, ob sie wollten, oder nicht. Als die Sümpfe des Landes
ausgetrocknet wurden, als man die Kanäle anlegte und die Eukalyptusbäume
pflanzte, welche den Boden gesund machen, da wurden diese einheimischen,
widerstandsfähigen Menschenkräfte zuerst verwendet und gut gelohnt. Blicken Sie
nur da hinaus ins Feld ! Ich erinnere mich noch aus meiner Knabenzeit, daß hier
Sümpfe waren. Diesen Boden hat die neue Gesellschaft am billigsten erworben und
hat ihn zu dem besten gemacht. Die Äcker gehören zu dem blanken Dorf, das Sie
dort auf dem Hügel sehen. Es ist ein arabisches Dorf. — Sie bemerken die kleine
Moschee. Diese armen Menschen sind viel glücklicher geworden, sie können sich
ordentlich ernähren, ihre Kinder sind gesünder und lernen etwas. Nichts von
ihrem Glauben und ihren alten Gebräuchen ist ihnen verstört worden — nur mehr
Wohlfahrt ist ihnen zuteil geworden."
"Ihr seid eigentlich kurios, ihr- Mohammedaner ! Seht ihr denn diese Juden
nicht als Eindringlinge an?"
"Christ, wie sonderbar ist Ihre jetzige Rede!" antwortete der freundliche
Reschid. "Würden Sie den als einen Räuber betrachten, der Ihnen nichts nimmt,
sondern etwas bringt? Die Juden haben uns bereichert, warum sollten wir ihnen
zürnen? Sie leben mit uns wie Brüder, warum sollten wir sie nicht lieben? Ich
habe unter meinen Glaubensgenossen nie einen besseren Freund gehabt, als diesen
David Littwak da. Er kann zu mir kommen bei Tag oder Nacht und von mir
verlangen, was er will, ich werde es ihm geben. Und ich weiß auch, daß ich auf
ihn rechnen kann wie auf einen Bruder. Er betet in einem anderen Hause als ich
zu demselben Gotte, der über uns allen ist. Aber diese Gotteshäuser stehen
nebeneinander, und ich glaube immer, daß unsere Gebete, wenn sie erst einmal im
Aufsteigen sind, sich irgendwo in der Höhe vereinigen, und dann setzen sie den
Weg zusammen fort, bis sie ganz oben sind bei unserem Vater."
Reschid hatte in schlichtem Tone gesprochen, der alle bewegte, auch
Kingscourt. Dieser räusperte sich:
"Hm — hm. Ganz recht, ganz schön. Das läßt sich hören. Aber Sie sind ein
gebildeter Mann. Sie haben in Europa studiert. All das gilt ja doch nicht von
den gemeinen Stadt- und Landleuten."
"Viel eher von diesen, Mr. Kingscourt. Sie müssen schon entschuldigen, aber
Duldsamkeit habe ich im Abendlande nicht gelernt. Wir Mohammedaner haben uns von
jeher besser als ihr Christen mit den Juden vertragen. Schon in der Zeit, als
die ersten jüdischen Kolonisten hier erschienen, zu Ende des vorigen
Jahrhunderts, kam es vor, daß streitende Araber einen Juden zum Richter wählten
oder sich geradezu an den Waad einer jüdischen Niederlassung um Rat, Hilfe oder
Urteil wandten. Da gab es wirklich keine Schwierigkeit. Und so lange die
Richtung des Dr. Geyer nicht die Oberhand bekommen wird, so lange wird auch das
Glück unseres gemeinsamen Vaterlandes dauern."
"Ja, was ist's denn mit diesem Geyer, von dem ich immer wieder sprechen
höre?"
Steineck wurde dunkelrot im Gesichte, und er schrie: "Ein vermaledeiter
Pfaffe ist er, ein Augenverdreher, Leuteverhetzer und Herrgottsfopper. Die
Intoleranz will er bei uns einführen, der Halunke. Ich bin gewiß ein ruhiger
Mensch, aber wenn ich so einen intoleranten Kerl sehe, den könnte ich mit
Vergnügen ermorden."
"Also Sie sind der Duldsame?" lachte Kingscourt. "Nun kann ich mir denken,
wie bei euch die Duldsamen aussehen."
"Diese gebärden sich natürlich viel sanfter," scherzte David.
Der Motorwagen hatte die Ebene verlassen und rollte ostwärts in das wellige
Land hinein, bergauf nicht langsamer als bergab. Überall waren die Hügellehnen
bis hinauf bebaut, jedes Fleckchen Erde benutzt. An den steileren Hangeln
erhoben sich Terrassen, wie in der alten salomonischen Zeit. Hier wuchsen
Trauben, Granatäpfel und Feigen. Zahlreiche Baumschulen zeigten, welche
verständige Sorge die Bevölkerung der Aufforstung dieser einst kahlen Strecken
zugewendet hatte. Auf den Kämmen der kleinen Berge ragten die Umrisse von Pinien
und Zypressen in den blauen Himmel.
Jetzt kam der Wagen, in ein liebliches Tal, das die Reisenden durch seine
Blumenfülle überraschte. Wie ein leuchtender Teppich in weißen, gelben, roten,
blauen und grünen Farben war es vor ihnen ausgebreitet. Und es war ihnen zumute,
als waren sie in ein Duftmeer hineingeraten. Ein Windhauch trug die
wohlriechenden Luftwellen heran, und die beiden Neuankömmlinge waren ganz
bezaubert von dem Naturspiele, das sie sich gar nicht zu erklären wußten. Der
Aufschluß wurde ihnen zuteil, daß hier eine großartige Blumenkultur für
Parfümindustrie eingerichtet sei. Jasmin, Tuberosen, Geranien, Narzissen,
Veilchen und Rosen wurden hier in großen Massen gezogen. Dieses Tal war ein
einziger Garten, Am Rande des Weges pflegten die arbeitenden Landleute den
Vorbeiziehenden Grüße zuzurufen, die bald Littwak, bald Reschid Bey oder
Steineck galten. Alle drei schienen viele Bekannte unter diesen sittlich
frohgemuten Bauern zu haben. So kamen sie nach der Ortschaft Sepphoris, wo der
Wagen zum erstenmal hielt. Auf dem Platze vor der griechischen Kirche stieg
David aus und bat seine Freunde, sich einen Augenblick zu gedulden; er müsse dem
Popen einen kurzen Besuch machen. Er trat in das schmucke kleine Pfarrhaus ein.
Die anderen verließen auch die Motorarche, um ein paar Schritte bis an den
Hügelrand zur Ruine der alten zerstörten Kirche zu gehen. Von da genoß man einen
schönen Fernblick über die fruchtbare Ebene bis an den Karmel. Und Mirjam
erzählte, daß hier einst ein christliches Gotteshaus zu Ehren Joachims und Annas
gestanden sei, welche die Eltern Marias, der Mutter Jesu gewesen waren und hier
gelebt hatten. Die neue griechische Kirche diene der Kolonie russischer
Christen, die um Sepphoris herum entstanden war. Mit dem Popen sei David
befreundet, und lade er ihn ein, zur Sederfeier nach Tiberias zu kommen. Dann
erschien David wieder, begleitet von dem stattlichen Popen, der aber bedauerte,
nicht gleich mitfahren zu können. Er würde nachmittags mit der elektrischen Bahn
über Nazareth nach Tiberias kommen und wahrscheinlich noch vor der Gesellschaft
bei Littwaks Eltern eintreffen.
So nahmen sie denn Abschied von dem geistlichen Herrn, und der Reisewagen
rollte in nördlicher Richtung der Ebene zu.