Zweites Kapitel
DIE GLASWAND ZWISCHEN DEM VORDEREN UND DEM MITTLEREN Teile des Wagens
war gesenkt worden, um das Gespräch auch mit den vorn Sitzenden zu erleichtern.
Außerhalb von Sepphoris mußten sie an einer Bahnschranke einige Minuten
stillhalten, weil ein Zug angekündigt war. Jetzt sauste er vorüber, nach Süden
zu, sehr eilig. Es fiel den Fremden auf, daß der Lokomotive die Rauchfahne
fehlte, und sie erfuhren, nachdem sie das Geleise passiert hatten, daß der
Betrieb hier, wie auf den meisten Bahnen Palästinas, elektrisch sei. Das war
einer der großen Vorzüge der Einrichtung einer neuen Kultur in diesen Gegenden
gewesen. Gerade weil hier alles bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts völlig
vernachlässigt, in einer Art von Urzustand lag, hatte man gleich die neuesten
und höchsten technischen Errungenschaften benützen können. Es war wie bei der
Anlage der Städte so auch in allem anderen zugegangen, im Eisenbahnwesen wie
beim Kanalbau, in der Landwirtschaft wie in der Industrie. Die Erfahrungen aller
Kulturvölker standen ja den jüdischen Ansiedlern, die aus aller Welt
herbeiströmten, zu Gebote. Die Gebildeten aber, die von den Universitäten, den
technischen, landwirtschaftlichen und Handelshochschulen der zivilisierten
Staaten herkamen, waren ausgerüstet mit jeder notwendigen Wissenschaft. Und
gerade diese arme junge Intelligenz, für die es keine Verwendung in den
antisemitischen Ländern gegeben hatte, und die dort zu einem hoffnungslosen
umsturzlustigen Proletariate herabgesunken war — diese gebildete und
verzweifelte jüdische Jugend war zum größten Segen Palästinas geworden, denn sie
brachte die neueste Wissenschaft in allen praktischen Gestaltungen hierher. So
berichtete David.
Friedrich erinnerte sich plötzlich eines Wortes, das in seinem Leben eine
Rolle gespielt hatte, und er richtete an seinen Freund eine den anderen
unverständliche Frage:
"Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann! Wissen Sie noch, Kingscourt?
Kein Wunder, daß ein Jude sich meldete. In jener Zeit wuchsen unter uns viele
solche, wir waren fast alle so."
Kingscourt jedoch interessierte sich mehr als für Friedrichs Empfindsamkeiten
für die Erzählungen Davids:
"Ihr seid aber ein sündhaft pfiffiges Volk — uns habt ihr das alte Eisen
gelassen, und ihr fahrt mit den neuen Maschinen."
Steineck schrie:
"Hätten wir uns vielleicht veraltetes Zeug anschaffen sollen, wenn wir für
dasselbe Geld gutes neues kriegen und machen konnten? Übrigens, was Sie hier
sehen, gab es alles schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in
Europa und Amerika, besonders in Amerika. Die drüben waren der verdummten alten
Welt weit vor. Natürlich haben wir von den Amerikanern gelernt, im elektrischen
Bahnwesen und in noch anderen Dingen."
"Für uns," ergänzte David, "war der Übergang zu den besten, modernsten
Betriebsformen viel weniger kostspielig, weil wir nichts Altes zu amortisieren
hatten. Schlechtes rollendes Material brauchten wir nicht bis zur Abnützung
mitzuschleppen. Unsere Waggons enthalten alle Bequemlichkeiten, Ventilation,
helles Licht bei Nacht, keine Belästigung durch Rauch und Staub, und man wird
fast gar nicht aufgerüttelt, obwohl wir mit bedeutender Geschwindigkeit fahren.
Die Insassen der Arbeiterzüge werden nicht in Pferchen gemartert, wie ehemals.
Wir achten selbstverständlich auf die Volksgesundheit in einem so wichtigen
Verkehrsmittel. Es wird Sie auch interessieren, wie billig die Bahnbenützung bei
uns ist. Wir haben für die Personenbeförderung das Tarifsystem nachgebildet,
welches im Lande Baden unter der Regierung des guten weisen Großherzogs
Friedrich eingeführt wurde. Das Aufsuchen der Arbeitsgelegenheit wollten wir im
allgemeinen Interesse so leicht und frei wie möglich machen. Sie werden bei uns
die Erscheinung nicht sehen, daß von einem Orte, wo man Menschenkraft wie einen
Bissen Brot braucht, nach einem anderen Orte, wo Arbeitswillige den Bissen Brot
nicht finden können, Eisenbahnwagen leer hin und her geschleift werden, weil die
Fahrpreise zu hoch sind. Vom Libanon bis ans tote Meer und von der
Mittelmeerküste nach dem Dscholan und Hauran ziehen sich die Schienenstränge zur
Befruchtung des Landes, wie eine Kanalisation der Menschenkraft.
Selbstverständlich ist auch der Frachtverkehr, einheimischer wie Transit, sehr
erheblich, da wir Kornkammern und Hafen, sowie Anschluß an die kleinasiatischen
und nordafrikanischen Linien haben... Doch von all diesen sozialen und
wirtschaftlichen Vorzügen unseres Bahnverkehrs will ich jetzt nicht sprechen.
Diese Dinge sind Ihnen ja geläufig, meine Herren, obwohl Sie zwanzig Jahre außer
der Welt waren. Das alles haben die Menschen schon vor zwanzig Jahren aus
täglicher Erfahrung gewußt."
"Auch wenn sie noch so beschränkt waren," warf Steineck liebenswürdig ein.
David fuhr fort: "Aber was man nicht kannte, war die Schönheit unseres teuren
Landes. Viel ist freilich durch unsere Kulturarbeit geschaffen worden, aber die
natürlichen Reize der Gottesgabe lagen durch viele Jahrhunderte ungesehen,
ungekannt, vergossen da. Wo finden Sie in der Welt noch ein Land wie unseres,
das Ihnen in allen Jahreszeiten den Frühling so nahe erreichbar macht? Es gibt
eine warme, eine gemäßigte und eine kalte Zone, die nicht weit auseinander
liegen. Im Süden des Jordantales die beinahe tropische Landschaft, an der
weichen Meeresküste die Wonnen der italienischen und französischen Riviera, und
unfern die tragisch großartigen Gebirge des Libanon und Antilibanon, der
schneebedeckte große Hermon. Und das alles ist in wenigen Stunden Eisenbahnfahrt
zu erreichen. Gott hat unser Land gesegnet!"
"Ja," sagte Reschid, "bei uns ist das Reisen ein großer Genuß. Ich setzte
mich manchmal in den Aussichtswaggon und fahre ganz planlos spazieren, nur um
beim Fenster hinauszuschauen."
"Verehrtester Gastgeber," bemerkte Kingscourt; "ich meine, Sie hätten uns
damit vor allem bekannt machen müssen - ohne Ihrer famosen Arche nahetreten zu
wollen. Man fährt wirklich recht sanft."
David entschuldigte sich: "Aus zwei Gründen, meine Herren, ließ ich Sie heute
nicht auf der Bahn fahren. Erstens, weil Sie im Motorwagen mehr von Land und
Leuten sehen. Zweitens, weil in den Tagen vor Ostern ein ungeheurer
Fremdenandrang auf der Linie Haifa-Nazareth-Tiberias herrscht. Nun ist zwar auch
dieses kosmopolitische Treiben, dieses Durcheinander aller Nationen, der Zug von
Pilgern nach den heiligen Stätten der Christenheit in hohem Grade fesselnd. Aber
zuerst wollte ich Ihnen doch das organische Leben unseres Gemeinwesens zeigen."
"Ja, wie haben Sie die Frage der heiligen Stätten gelöst?" sagte nun
Friedrich.
"Das war kein Kunststück," entgegnete David. "Als im vorigen Jahrhundert
diese Frage durch die zionistische Bewegung in Fluß kam, hielten es viele Juden,
gleich Ihnen, Herr Doktor, für unmöglich, mit dieser Schwierigkeit fertig zu
werden. Infolge Ihrer langen Abwesenheit hatten Sie, wie ich sehe, auch jetzt
noch an dieser veralteten Anschauung. Zunächst ergab es sich vor etwa
fünfundzwanzig Jahren aus der publizistischen Erörterung, wie aus den Äußerungen
maßgebender Staatsmänner und Kirchenfürsten, daß dieses Hindernis nur in der
Einbildung allzu ängstlicher Juden existierte. Die heiligen Stätten der
Christenheit hatten sich doch seit undenklicher Zeit im staatlichen Besitze von
Nichtchristen befunden. So wie man schon seit mehreren Jahren keine Kreuzzüge
geführt hatte, so war auch allmählich eine andere und jedenfalls viel höhere
Auffassung für die Besitzverhältnisse dieser vom Glauben geheiligten Orte
geltend geworden. Gottfried von Bouillon und seine guten Ritter empfanden es als
eine Kränkung, daß Palästina in den Händen der Muselmanen war. Wo haben Sie ein
ähnliches Gefühl bei den Rittern und Grafen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts
wahrgenommen? Und die Regierungen? Hätten die vielleicht den Parlamenten eine
außerordentliche Kreditforderung zur Eroberung des heiligen Landes vorzulegen
gewagt? Die Sache war nämlich die, daß ein solcher Krieg weniger gegen den
Großtürken als gegen andere christliche Mächte hätte geführt werden müssen. Es
wäre ein Kreuzzug nicht gegen den Halbmond, sondern gegen ein anderes Kreuz
gewesen. So war man zu der Ansicht gelangt, daß der sogenannte Status quo für
alle Teile das Beste sei. Aber das war doch nur eine realpolitische
Nützlichkeitserwägung. Daneben ging auch noch eine höhere, eine, wenn ich das
Wort gebrauchen kann, idealpolitische Auffassung. Um den Sachbesitz konnte es
sich bei den heiligen Stätten wohl nicht handeln. Den religiösen Empfindungen
schien mehr Genüge geleistet, wenn diese Orte der Andacht sich in niemandes
ausschließendem Besitze befanden, als wenn sie irgendeiner einzelnen Macht
gehörten. In einer Begriffsbildung, die dem römischen Recht entlehnt war,
erschienen all die heiligen Stätten als res sacrae, extra commercium. Das war
das sicherste, das einzige Mittel, sie für immerwährende Zeiten zum Gemeingute
aller Gläubigen zu machen. Und wenn Sie nach Nazareth, Jerusalem oder Bethlehem
kommen, werden Sie versöhnte Pilgerzüge wallen sehen. Auch mich, der ich ein
überzeugter Jude bin, ergreifen, diese Bilder tiefster Andacht mit eigener
Gewalt."
"Man fühlt sich an Lourdes in den Pyrenäen erinnert, wenn man nach Bethlehem
oder Nazareth kommt," sagte Steineck. "Auch ein so kolossaler Fremdenverkehr,
neue Hotels, Massenherbergen und Klöster."
In solchen Gesprächen waren sie nach der Ebene gelangt. Eine langgestreckte
Niederung, reich bebaut mit Weizen und Gerste, Mais und Hopfen, Mohn und Tabak.
Blanke Dörfer und einzelne Wirtschaftshöfe im Tale und an den Berglehnen.
Saftige Weideplätze, auf denen Rinder und Schafe beschaulich grasten. Da und
dort sah man das Eisen großer landwirtschaftlicher Maschinen blitzen. Und in der
Sonne dieses Frühlingstages machte die ganze Landschaft einen unsagbar
friedvollen und glücklichen Eindruck.
Sie kamen durch einige kleinere Ortschaften, blickten in stattliche
Bauernhöfe hinein, sahen Männer und Frauen bei der Arbeit, Kinder beim Spiele,
und Greise, die sich still vor den Häusern sonnten. Den Fahrenden fiel es auf,
daß die Fußgänger auf dem Wege sich mehrten, je weiter man kam. Alle strebten
offenbar einem gemeinsamen Ziele zu, und dieses schien eine endlich auf der Höhe
gelegene große Niederlassung zu sein. Sie überholten die Fußgänger, Männer und
Frauen, die ihnen Grüße und auch "Hedad!" zuriefen. Einzelne rückten aber
ziemlich verdrossen ihre Hüte oder blickten sogar mißmutig zur Seite. Noch
lebendiger wurde es hinter dem Motorwagen. Kaum war er vorbei, so kamen aus
jedem Bauernhof Leute heraus, die sich hinterdrein in Bewegung setzen, manche
laufend. Einige schwangen sich auf Pferde und ritten im Galopp nach. Andere
endlich bestiegen Fahrräder und bemühten sich, den mechanischen Wagen zu
überholen. Davids Gäste hatten bald den Eindruck, daß sie erwartet würden.
Und so war es wirklich. Dia Niederlassung, deren ländlichen Reichtum sie an
den prächtigen Wirtschaftsgebäuden, am wohlgenährten Vieh, an der hochstehenden
Kultur der Felder wahrnehmen konnten, war die Ortschaft Neudorf. Eine
Menschengruppe harrte ihrer vor dem schmucken Gemeindehause, und als der
Motorwagen hielt, brauste den Ankömmlingen ein hundertstimmiges "Hedad!"
entgegen.
"Hedad ist so viel wie hoch," sagte Reschid zu Kingscourt gewendet, als sie
ausstiegen.
"Hab' ich mir gleich gedacht, daß es entweder hoch oder nieder heißt,"
schmunzelte der Alte.
Indessen konnten sie nicht gleich ins Haus eintreten, weil ein kleiner Chor
von sauber gekleideten Schulkindern unter dem Kommando des Lehrers ein
hebräisches Begrüßungslied anstimmte. Das mußten sie stehend anhören. Fritzchen
war wieder munter und sang auf dem Arme seiner Kinderfrau das Lied in
unartikulierten Lauten mit.
Dann trat der Gemeindevorsteher Friedmann, ein kräftiger Bauer von etwa
vierzig Jahren, vor und hielt eine kurze Ansprache, in der er die Gäste, und
insbesondere die Parteiführer Littwak und Steineck, willkommen hieß. Er sprach
im russisch-jüdischen Dialekte.
"Alle Wetter!" brummte Kingscourt dem neben ihm stehenden David ins Ohr, "das
wußt' ich gar nicht, daß Sie ein Parteiführer sind."
"Nur vorübergehend, Mr. Kingscourt; für ein paar Wochen. Meine Profession ist
es nicht."
Aber ein anderer Bauer war vorgetreten, auch ein stämmiger, sonnengebräunter
Mensch. Er drehte seinen Hut ein wenig verlegen zwischen den harten Händen und
sprach mit unsicherer Stimme:
"Herr Littwak und Herr Steineck, Sie werden schon erlauben, daß ich auch
etwas sag'."
Einige Fäuste streckten sich nach dem unvermuteten Redner aus, um ihn
wegzuziehen. Mehrere schrien:
"Mendel soll nicht reden ! Er hat nicht zu reden."
Mendel stand jedoch trotzig da, und seine Entschlossenheit wuchs, als man ihn
verhindern wollte.
"Ich werd' reden !"
Es erhob sich ein Lärm. "Nein, nein!" schrie die Mehrzahl. Mendels Anhänger
wetterten dazwischen: "Ja, er soll nur reden!"
David beruhigte sie mit einer Geberde seiner erhobenen Hand:
"Gewiß soll er reden !"
Mendel sagte höhnisch zu seinen Gegnern: "Ihr seht !... Herr Littwak is
gescheiter, wie ihr chamoirim ! Also was ich sagen will, is nur das: Friedmann
hat nix geredt für de ganze Gemeinde."
Wieder verworrener Lärm:
"O ja! 0 ja! Er ist der Vorsteher!"
Mendel fuhr unbekümmert fort:
"Die Gäst' darf er begrüßen, ja. Das muß er. Da hat er gesprochen für uns
alle Männer von Neudorf. Wir sind nit grob gegen unsre Gäst'. Aber als
Parteiführer darf er die Herren da nix begrüßen. Bei uns in Neudorf gibt es noch
en andere Partei, was nit den Herrn Littwak sei' Partei is. Das hab' ech Ihner
sag'n woll'n, Herr Littwak und Herr Steineck."
Der Sturm der Zuhörer hatte sich während Mendels Rede gelegt, ja es schien
sogar, als wären viele mit dieser Einschränkung einverstanden, weil so die
Gastfreundlichkeit mit dem Parteistandpunkt zugleich gewahrt blieb.
"Oho?" erkundigte sich Kingscourt bei Steineck. "Wir scheinen da in
Feindesland geraten zu sein?"
"Fressen werden sie uns nicht," gab der Architekt zur Antwort. "Wir sind ja
hier, um sie zu bekehren. Ich werde ihnen ihre Bauernschädel schon
zurechtsetzen... Um Gotteswillen, wo hab' ich meine Rede?" Er durchsuchte seine
Handtasche, die er sich vom Diener hatte reichen lassen. "Meine Rede ist nicht
da!"
Frau Sarah lachte: "Sie hatten sie doch in der Reisetasche?"
"Jetzt fällt mir ein, ich habe sie in den Koffer gesteckt."
Mirjam sagte: "Sprechen Sie doch aus dem Stegreif !"
Steineck machte ein verzweifeltes Gesicht. Mit Stegreif reden hatte er
gewöhnlich kein Glück.
Im Haufen der Landleute öffnete sich eine Gasse. "Reb Schmul kommt!" hatten
einige gerufen und man machte ihm ehrfurchtsvoll Platz.
Rabbi Samuel war ein alter, gebückt einhergehender Mann von ungemein mildem
Wesen. Er nahm Davids Hand in seine zitternden Greiseinhände und begrüßte ihn
herzlich, so daß man sehen konnte, er stehe nicht auf der Seite Mendels und der
Trotzigen.
Mirjam aber erzählte den Fremden in leisem Tone, wer dieser weißbärtige Rabbi
war. Er sei mit den ersten Einwanderern ins Land gekommen, als diese jetzt so
fruchtbare Ebene dürftig dalag und die Ebene von Asochis dort hinter den
nördlichen Höhen noch von Sümpfen durchzogen war, und im Süden die weite Ebene
von Jesreel noch die alte Mißwirtschaft aufwies. Rabbi Samuel war der Tröster
und Seelsorger der Männer von Neudorf gewesen, die zum größten Teile von Rußland
herkamen und den Kulturkampf mit dem alten Boden aufnahmen. Er war und blieb der
einfache Landrabbiner, harrte bei seiner Gemeinde aus, obwohl er von größeren
Stadtgemeinden oft genug berufen worden war. Denn er wurde wegen seines
gottesfürchtigen und weisen Lebenswandels allgemein verehrt. Der östliche Teil
der Ortschaft, wo das Häuschen des Rabbiners stand, hieß der Garten Samuels. Und
an den Festlagen, wenn Rabbi Samuel im Tempel von Neudorf predigte, kamen die
Andächtigen von weit her, um seinen Worten zu lauschen.
Der Vorsteher Friedmann ließ jetzt den Gästen den Willkommstrunk und einen
Imbiß reichen. Auf dem Platze hinter dem Gemeindehause war eine luftige Halle
improvisiert. An hoben Stangen und Baumästen waren lange Streifen von Segeltuch
gespannt, die genügenden Schatten gewährten. Dahin begab sich die Menge.
Ein leichtes Gerüst war als Rednerbühne aufgerichtet. Davor, in der ersten
Reihe, standen Stühle für Rabbi Samuel und die Gäste. Die übrigen hatten Bänke,
oder sie mußten stehen.
Friedmann sprach zuerst und ermahnte die Zuhörer, die Redner nicht zu stören,
auch wenn man nicht mit allem Vorgebrachten einverstanden wäre. Das verlange der
gute Ruf von Neudorf. Dann gab er dem Architekten Steineck das Wort. Dieser
bestieg die Erhöhung, räusperte sich mehrmals und begann, erst stockend, dann
immer lebhafter:
"Liebe Genossen l Mir ist — hm ein — hin — Unfall zugestoßen, auf der Reise —
hm. Ich habe nämlich meine — hm — meine Rede verloren. Ich habe mir nämlich für
euch eine Rede ausgearbeitet. Es war eine gute, schöne Rede, das müßt ihr mir
glauben, weil ihr sie nicht kennen lernen werdet."
Einige lachten. Steineck fuhr fort:
"Wir sind in unserer neuen Gesellschaft — hm an einem Wendepunkt angelangt —
hm — an einem Wendepunkt. Ich sage euch nichts als das: an einem Wendepunkt !"
Redner wischte sich den Schweiß ab.
"Worin besteht dieser Wendepunkt, meine lieben Freunde? ... Aber bevor ich
mich diesem Wendepunkt — hm — zuwende, möchte ich — hm — auf die Vergangenheit
zurückgreifen. Was war die Vergangenheit, eure, unsere Vergangenheit? Hm? Das
Ghetto !"
Rufe: "Sehr richtig !"
"Wer hat euch aus dem Ghetto herausgebracht? Hm? Wer?"
Mendel rief mit starker Stimme dazwischen: "Wir selbst!"
Rufe: "Ruhe! Ruhe!"
Steineck aber wurde hitziger:
"Wer ist das, wir selbst? Hm? Ist es Mendel oder ein anderer?"
Mendel schrie wieder: "Das Volk !"
"Ich bitte mich nicht zu unterbrechen ! Hm. Ich nehme übrigens das Wort von
Mendel auf. Das Volk, ja! Gewiß, das Volk. Hm. Aber allein war das Volk das
nicht imstande. Hm. Unser Volk war zerstreut in der ganzen Welt, in kleinen
hilflosen Gruppen. Bevor es sich selbst helfen konnte, hat man es
zusammenbringen müssen."
Mendel lärmte wieder:
"Ja, ja, die Führer, das wissen wir schon !"
Jetzt fuhr aber Friedmann mit einer Donnerstimme dazwischen:
"Augenblicklich schweigst du, Mendel ! Ich bitte, Herr Steineck, reden Sie
weiter."
"Hm, ja, ich rede weiter. Die Führer, sagt Mendel. Ich glaube, hm, er sagt es
höhnisch. Aber es ist wahr. Hm. Wo war euer Geyer, der euch jetzt aufhetzt,
damals? Ich will es euch sagen. Euer Doktor Geyer war damals ein
antizionistischer Rabbiner. Ich habe ihn gekannt. Er war auch damals unser
wütender Gegner, schützte aber andere Gründe vor, oh, ganz andere. In einer
Sache ist er freilich immer derselbe geblieben, hm. Ich will euch sagen, was er
war, ist und sein wird. Er ist der Rabbiner des nächsten Vorteils. Als wir
Zionisten der ersten Stunde uns auf den Weg machten, unser Volk und unser Land
aufzusuchen, da hat uns der Herr Rabbiner Dr. Geyer gescholten. Ja, Narren und
Betrüger hat er uns gescholten."
Ein junger Landmann von etwa fünfundzwanzig Jahren näherte sich der
Rednerbühne und sprach in höflichem Tone:
"Entschuldigen Sie, Herr Steineck! Das ist nicht möglich. Man hat doch immer
gewußt, daß wir Juden ein Volk sind und daß Palästina unser angestammtes Land
ist. Also kann Dr. Geyer unmöglich jemals das Gegenteil behauptet haben."
"Er hat es aber getan !" schäumte Steineck. "Er hat unser Volk und Land
verleugnet. Er hat aus dem Gebetbuch heraus Zion gelesen, und dann hat er den
Schafen, die ihm zuhörten, weiszumachen gewagt, daß damit etwas anderes gemeint
sei. Unter Zion soll man etwas anderes verstehen, als Zion ! Alles andere sollte
man darunter verstehen, nur das eine, wahre nicht. Zion war überall, nur nicht
in Zion!"
Einige schrien: "Nein, nein! Das hat Geyer nicht gesagt. Das ist unmöglich!"
Aber Rabbi Samuel war aufgestanden. Zitternd stützte er sich auf seinen Stock
und erhob die andere Hand, worauf sofort alle still wurden.
"Es ist wahr !" sagte der Greis. "Es hat gegeben solche Rabbiner. Vielleicht
war Geyer auch einer von ihnen. Das weiß ich nicht. Da muß ich Steinecken
glauben. Aber es hat gegeben solche Rabbiner, es hat gegeben solche..." Er
setzte sich erschöpft nieder.
Steineck aber, in dessen Munde die Worte sich zu überstürzen anfingen, da er
einmal im Zuge war, sprach:
"Die Rabbiner des nächsten Vorteils haben uns das Leben
sauer gemacht, und das tut der auch jetzt. Damals, in unserer schweren
Anfangszeit, hat er gar nicht wollen, daß von Palästina gesprochen wird.
Jetzt ist er palästinensischer, als wir alle. Er ist der Patriot, er ist
der Nationaljude — wir sind die Fremdenfreunde, und wenn wir ihm noch
lange zuhören, sind wir die schlechten Juden oder gar auch Fremde in
seinem Land Palästina. Ja, das ist es: er will uns absondern von der
Gemeinschaft. Mißtrauen sät er zwischen euch und uns. Die Augen verdreht
er, der fromme Mann, und dabei lugt er scharf aus nach dem nächsten
Vorteil. Früher, im Ghetto, waren die Reichen in der Gemeinde die
Einflußreichen, da hat er nach dem Munde der Reichen gesprochen. Den
Reichen war die nationale palästinensische Idee unbequem, da hat er also
das Judentum in ihrem Sinn ausgelegt. Da hat er gesagt, daß das jüdische
Volk nicht heimkehren darf, weil das den Herren Kommerzienräten und
Hochbankiers die Kreise gestört hätte. Da haben er und seinesgleichen
die Fabel von der Mission des Judentums erfunden. Das Judentum sollte
dazu da sein, den Völkern Lektionen zu geben. Darum mußten wir in der
Zerstreuung leben. Wenn uns die Völker nicht ohnehin gehaßt und
verachtet hätten, so hätten sie uns schon wegen einer solchen Arroganz
auslachen müssen. Und Zion war nicht Zion! Die Wahrheit aber war, daß
wir keine Lektionen gegeben, sondern bekommen haben, Tag für Tag, fort
und fort, blutige, schmerzliche Lektionen — bis wir uns ermannt haben
und bis wir noch einmal den Weg aus Mizraim heraus gesucht und gefunden
haben. Ah, freilich, dann ist auch Herr Dr. Geyer nachgekommen, mit
seiner alten Arroganz und Scheinheiligkeit. Und in den jüdischen
Gemeinden sieht es jetzt auch, Gott sei Dank! anders aus. Nicht mehr die
Reichen machen das Gesetz, sondern alle. Die Vorsteherschaft in den
Gemeinden ist jetzt nicht mehr eine Prämie für gute Geschäfte, wie es
ehemals der Fall war. Die Vorsteher werden jetzt nicht nach ihrem
Reichtum, sondern nach ihrer Achtbarkeit und Tüchtigkeit gewählt. Da muß
natürlich den Instinkten der Menge geschmeichelt werden. Da muß
natürlich eine Theorie für den nächsten Vorteil der Menge gefunden
werden, — oder wenigstens für das, was die Menge als ihren nächsten
Vorteil ansieht, und darum wird das Schlagwort gegen die Fremden
ausgegeben. Ein Nichtjude soll in die neue Gesellschaft nicht
aufgenommen werden. Je weniger Leute sich an die Schüssel setzen, desto
mehr fällt an einen ab. Ihr glaubt vielleicht, daß das euer nächster
Vorteil ist. Aber es ist nicht wahr. Verarmen würde das Land und
verdorren, wenn ihr diese blödsinnige, engherzige Politik macht. Wir
sehen und fallen mit dem Grundsatz, daß wer sich zwei Jahre in den
Dienst der neuen Gesellschaft gestellt hat, wie es vorgeschrieben ist,
wenn er sich diese zwei Jahre ordentlich aufgeführt hat, Mitglied werden
kann, welcher Nation oder Konfession er auch immer angehören mag. Und
darum sage ich euch, daß ihr daran festhalten sollt, was uns großgemacht
hat, am Freisinn, an der Duldung, an der Menschenliebe. Zion ist nur
dann Zion! Ihr werdet einen Delegierten zum Kongreß wählen. Wählet
einen, der nicht an den nächsten Vorteil denkt, sondern an den
dauernden. Wenn ihr aber einen Geyerianer wählt, so seid ihr nicht wert,
daß euch die Sonne unseres heiligen Landes scheint. So. Ich habe
gesprochen."
Der Beifall war nicht groß. Einigemale hatte der Redner wohl
Eindruck auf seine Zuhörer gemacht, aber der Schluß hatte sie, wie man deutlich
sehen konnte, verstimmt. Nur einem hatten gerade die Schlußworte gefallen, und
er sagte es auch dem Architekten, der sich in Schweiß gebadet neben ihn
hinsetzte. Dieser eine war Mr. Kingscourt, doch besaß dieser kein Stimmrecht in
Neudorf.