Viertes Kapitel
DIE REISGESELLSCHAFT BESICHTIGTE DANN NOCH DIE
MUSTERHAFTEN landwirtschaftlichen Einrichtungen von Neudorf. Mr.
Kingscourt interessierte sich besonders für die chemische
Versuchsstation und das moderne Maschinenhaus der Gemeinde. Friedrich
Löwenberg verweilte länger in der Volksschule und in der mit
populärwissenschaftlichen Werken reich versehenen öffentlichen
Bibliothek. Mirjam, die als Lehrerin Bescheid wußte, gab ihm über alles
Auskunft. Er war zuerst froh erstaunt, aber je mehr er von den schönen
und nützlichen Vorkehrungen für die geistige und körperliche Hebung des
heranwachsenden Geschlechtes erfuhr, um so trauriger wurde seine Miene,
und endlich seufzte er tief.
"Was haben Sie, Herr Doktor?" fragte Mirjam freundlich. "Es
fällt mir schwer aufs Herz, Fräulein Mirjam! Ich sehe jetzt, daß ich eine
Pflicht versäumt habe. Ich hätte mittun können, mittun müssen an diesem
wundervollen Werke der Volksaufrichtung. Ich war einer von den Gebildeten und
hätte verstehen müssen, was in der Zeit sich vorbereitete. Aber nein, ich war
nur mit meinen eigenen jämmerlichen Schmerzen beschäftigt. Ich lief davon, ich
verbrauchte zwanzig Jahre in der dümmsten Nutzlosigkeit. Ich kann Ihnen gar
nicht sagen, wie mir zu Mute ist. Ich - ich schäme mich."
Sie wollte begütigend abwehren.
"Nein, Fräulein Mirjam, versuchen Sie nicht, mich zu trösten.
Sie, mit Ihrem nützlichen Leben, Sie können mir nur aus Erbarmen widersprechen,
nicht aus Überzeugung. Ich schäme mich meiner Untätigkeit, meines Egoismus. Ein
gebildeter Jude meiner Zeit hatte die Pflicht, sich seines armen Volkes
anzunehmen. Diese Pflicht habe ich schmählich versäumt. Beklagen Sie' mich,
Fräulein Mirjam, aber verachten Sie mich wenigstens nicht!"
"Verachten? Wie könnte ich das?" erwiderte sie mit ihrer weichen
Stimme. "Sie, den Wohltäter unseres Hauses verachten?"
"Ach, bitte, sprechen Sie nicht mehr davon !" sagte er. "Sie
demütigen mich nur, wenn Sie mich loben. Ich weiß ja zu gut, daß ich kein Lob
verdiene. Es gibt eine Pflicht der Intellektuellen, wie es in alten Zeiten ein
Noblesse oblige gab. Es ist die Pflicht, an der Erhöhung des
Menschengeschlechtes mitzuwirken, jeder nach seiner Kraft und Einsicht! Mit all
Ihrer Güte, Fräulein Mirjam, werden Sie mir nicht begreiflich machen können, daß
ich mir keinen Vorwurf zu machen habe."
"Ist es denn schon zu spät?" gab sie zur Antwort. "Sie können ja
noch in die Reihen der neuen Gesellschaft eintreten. Man wird Ihnen einen Platz
anweisen, wo Sie sich betätigen können. Bei uns ist jede Kraft willkommen. Sie
hörten es von meinem Bruder. Und wie gern wird man Sie aufnehmen!"
"Glauben Sie das wirklich, Fräulein Mirjam?" sagte er beglückt.
"Es wäre noch nicht zu spät?. Ich könnte noch ein nützlicher Mensch werden?"
"Gewiß !" lächelte sie. In ihm wallten Hoffnungen auf. Er fühlte
sich plötzlich verjüngt, er sah ein neues Leben vor sich auftauchen. Aber dann
fiel es ihm ein, und er seufzte stärker:
"Ach nein, Fräulein Mirjam! Es wäre zu schön. Ich kann nicht
tun, wie ich' wollte. Ich darf nicht hierbleiben. Ich bin nicht frei."
Da wurde sie um einen Schatten blässer, und ihre Stimme zitterte
leicht:
"Sie sind nicht frei?"
"Nein, ich bin für Lebenszeit an jemanden gebunden." Sie sagte
tonlos: "Darf man wissen, wer es ist?" "Mr. Kingscourt !" Und er setzte ihr sein
Verhältnis zu dem Alten auseinander. Er habe sich Kingscourt durch Ehrenwort
verpflichtet, ihn nie zu verlassen. Er könne also nicht länger im Lande
verweilen, als es seinem Freunde gefiele, und das werde wohl nicht übermäßig
dauern.
Mirjams Gesicht hatte sich bei dieser Auskunft aufgehellt. Sie
fragte:
"Und wenn Mr. Kingscourt Ihnen Ihr Wort zurückgibt?" "Er wird es
nicht, wenn ich ihn nicht darum bitte. Aber schon eine solche Bitte wäre
Treulosigkeit und Undankbarkeit gegen diesen prächtigen Menschen. Ich habe
keinen besseren Freund als ihn auf der Welt, und er hat nur mich. Was sollte aus
ihm werden, wenn ich ihn verließe?"
"Er müßte eben auch bei uns bleiben !" meinte Mirjam. Das hielt
Friedrich, wie er den Alten kannte, für ganz und gar ausgeschlossen. Im
günstigsten Falle würde Kingscourt noch ein paar Tage oder Wochen im Lande
herumreisen, die Sehenswürdigkeiten betrachten, aber dann ginge es unaufhaltsam
weiter nach Europa.
Während sie so sprachen, hatten die übrigen ihren Rundgang
beendet. Im Hause des Vorstehers Friedmann wurde den Gästen das einfache
Mittagsmahl vorgesetzt. Man saß noch ein Stündchen bei Tische und redete
allerlei über Neudorfs Vergangenheit und Zukunft. Die meisten Dörfler waren nach
der vormittägigen Versammlung zur Arbeit und auf die verstreuten Höfe
zurückgekehrt. Nur eine kleine Anzahl von Leuten, die im Kern der Ortschaft
wohnten, war bei der Abfahrt des Motorwagens zugegen. Diese schwenkten die Hüte
und ließen Tücher flattern, als Davids Gesellschaft zum Dorfe hinausfuhr.
Rechts und links von der Landstraße wohlgepflegte Felder, Wein-
und Tabakpflanzungen, Baumschulen, und nirgends mehr ein Fuß breit wüsten
Landes. In einiger Entfernung vom großen Wege sahen sie eine Mähmaschine über
das Kleefeld streichen. Ab und zu schwankte ein mit Heu hochbeladener Wagen an
ihnen vorbei; Heu von Luzerne für Viehfutter. Mirjam erklärte dem in diesen
Dingen unbewanderten Friedrich die natürlichen und wirtschaftlichen Vorgänge in
der Landschaft, die sie durcheilten. Da und dort lugte schon die Sommersaat,
Mais und Sesam, Linse und Wicke aus der Erde. Auf den Brachfeldern durchfurchten
elektrische Pflüge den noch vom Winterregen etwas feuchten Boden, um ihn für die
nächste Wintersaat vorzubereiten. Der Tabak war gerade aus den Saatbeeten
übergepflanzt, und die Leute waren damit beschäftigt, von den zwei Pflänzchen,
die der vorsichtige Bauer an jeder Stelle zusammensetzt, das schwächere zu
entfernen. Die Hopfenstöcke waren schon in vollem Austreiben, und die Landleute
holten sich Eukalyptusäste herbei, um sie als Stützen der Hopfenranken zu
benutzen. Andere gebrauchten zu demselben Zwecke Drahtgeflechte. Die aber Äste
vom Eukalyptus nahmen, ließen an diesen die Zweige unbeschnitten, damit sich die
Hopfenranken auch gut verzweigen könnten und ihre Blüten mehr Schutz vor den
Sonnenstrahlen genössen.
Architekt Steineck mischte sich hier ins Gespräch und sang ein
begeistertes Loblied auf den Eukalyptus, diesen herrlichen australischen Baum,
dessen hundert Arten in unzähligen Schiffsladungen lebend herbeigeschafft worden
waren, als die große planmäßige Kulturarbeit in Palästina begann. Ohne den
Eukalyptus, der so schnell wächst, der die Sümpfe wie mit Zauberkraft,
austrocknet und auch sonst noch, so viele Eigenschaften der Nutzbarkeit und
Schönheit hat — ohne den Eukalyptusbaum hätte man vielleicht überhaupt nichts
anfangen, gewiß aber keine solchen raschen Kulturerfolge erzielen können.
"Ja," sagte Frau Sarah scherzend, "Herr Steineck hat dafür auch
unseren guten Eukalyptus aus Dankbarkeit in Stein verewigt. Seine
Lieblingsornamente an den Häusern sind vom Eukalyptus genommen."
So fuhren sie weiter, und es war Heiterkeit von der Landschaft
in ihrem Gemüte. Denn ein lieber Frühling sproßte um sie her. Alle Raine und
Wegränder bedeckt mit herrlichstem Blütenflor, mit kleinen blauen Iris und
hochragenden rosenfarbenen Schwertlilien, mit sonnenäugigen Tulpen und
prächtigen Orchideen. An manchen Stellen waren in die Felder hinein Pflanzungen
von Mandelaprikosen- und Maulbeerbäumen verstreut.
Durch eine romantische Schlucht lief jetzt der Fahrweg. Das
waren die Felsen mit den abenteuerlichen Höhlenlöchern, in denen sich einst in
verschollenen bösen Tagen die Verteidiger des jüdischen Landes vor ihren Feinden
bis zum letzten Kampfe verborgen hatten.
David erinnerte mit einigen bewegten Worten an diese Zeit. Und
noch eine kurze Strecke mußten sie fahren, da machte die Straße eine Biegung und
vor ihnen lag plötzlich im Nachmittagssonnenglanze die holde Ebene von
Genezareth; vor ihnen lag der See. Ein Ausruf des Entzückens entrang sich dem
Munde Friedrichs bei diesem unerwarteten und herrlichen Anblick.
Auf der weiten Fläche des Sees von Genezareth zogen viele
große und kleine Schiffe ihre leuchtenden Furchen. Segel schimmerten und
Messingteile der elektrischen Barken blitzten. Am jenseitigen Ufer und
überall im Grün der beforsteten Höhen sah man weiße Villen glänzen. Und
hier war Magdala, ein funkelnd neues, zierliches Städtchen mit Gärten,
mit schmucken Häusern.
Aber die Reisenden fuhren ohne Aufenthalt weiter gegen Tiberias,
südwärts am Strande hin. Sie hatten ein Schauspiel von heller Lebensfreude vor
sich, etwas, das an die glorreichen Saisontage an der Riviera zwischen Cannes
und Nizza erinnerte. Allerlei lustiges Fuhrwerk mit eleganten Leuten trieb
vorüber. Zumeist waren es Motorwagen von hübscher Gestalt für zwei, drei und
mehr Insassen. Doch sah man auch altertümliche, mit Pferden oder Mauleseln
bespannte Karren und zwischendurch Radfahrer, Reiter und auf dem glatten
Fußpfade längs des Wassers wohlgelaunte Spaziergänger. Es war das internationale
Publikum jener Badeorte, die den modischen Zulauf haben. Kingscourt und
Friedrich erfuhren jetzt, daß Tiberias wegen seiner heilkräftigen warmen Quellen
und wundervollen Lage von den wohlhabenden Winterflüchtlingen aus Europa und
Amerika aufgesucht werde, die gewohnt waren, den ewigen Frühling in Sizilien
oder Ägypten aufzusuchen. Sobald die ersten vornehmen Hotels in Tiberias
errichtet waren, begann der Fremdenstrom auch hierher zu fließen. Geschickte
Schweizer Gastwirte hatten die klimatischen Vorzüge und landschaftlichen
Schönheiten der Gegend von Tiberias zuerst erkannt, ausgenützt und dabei
glänzende Geschäfte gemacht.
Der Motorwagen fuhr jetzt an einigen dieser Hotels vorbei. Auf
den Balkonen saßen Damen und Herren und betrachteten das bunte Schauspiel der
Fahrstraße, das heitere Treibein auf dem See. Hinter den Gasthöfen waren
Tenniswiesen, auf denen Mädchen und Jünglinge in weißer Tracht Ball spielten.
Auf einigen großen Terrassen gab es Musik, ungarische, rumänische und
italienische Banden im Nationalkostüm. Dies alles nahmen Davids Gäste nur im
Vorübereilen wahr, denn ihr Ziel war ferner. Sie durchführen die Stadt Tiberias
der Länge nach vom Norden nach Süden, blickten flüchtig in die netten Gäßchen,
die sich von der Hauptverkehrsader abzweigten, sahen Plätze mit feinen stillen
Palästen und einen orientalisch lebhaften kleinen Hafen. Sie sahen stattliche
Moscheen, Kirchen mit dem lateinischen und griechischem Kreuz, und Synagogen in
steinerner Pracht. Dann waren sie am Südende der Stadt, wo es wieder Villen und
Hotels gab, die sich in schmucker Reihe, nur von Gärten unterbrochen, beiläufig
eine halbe Gehstunde weit bis zu einem größeren Haufen von Gebäuden fortsetzten:
dort befanden sich die heißen Quellen, die ausgedehnten Badeanstalten.
Ungefähr in der Mitte zwischen der Stadt und den Bädern, vor dem
Gitter einer in Laubwerk halb verborgenen Villa machte der Motorwagen halt.
"Wir sind angelangt !" rief David, indem er seinen Sitz verließ.
Das Gitter öffnete sich. Ein alter Herr trat auf die
Steinschwelle, lüpfte mit freudigem Gesichtsausdruck sein Käppchen und fragte:
"David, mein Kind, wo ist er?"
Friedrich wußte nicht, wie ihm geschah. Auch hier, im Hause des
alten Littwak, wurde er schon sehnsüchtig erwartet. Es ging dabei freilich nicht
mit Wundern zu, denn 'die fröhlich unerwartete Botschaft von seiner Ankunft war
den Eltern Davids und Mirjams durch das Telephon von Friedrichsheim aus
mitgeteilt worden.
Und dieser stattlich und frei auftretende alte Mann war jener
kümmerliche Hausierer, dem Friedrich einst in dem Wiener Kaffeehause ein Almosen
hatte reichen wollen. Welch eine merkwürdige, glückliche Veränderung. Und doch
war alles auf die natürlichste Weise von der Welt gekommen. Die Littwaks hatten
eben zu den ersten gehört, welche beim Beginn der großen Kulturarbeit
hierhergeeilt waren. Sie ernteten die Früchte des wirtschaftlichen Aufschwunges,
den sie redlich mitbereiten geholfen hatten.
Aber es gab auch einen Schmerz im Hause, und zu diesem Schmerze
wurde Friedrich vor allen Dingen geführt Das war die kranke Mutter Davids und
Mirjams. Oben im ersten Stocke, auf der Veranda, von der man eine so schöne
Fernsicht über den See genoß, da lag sie mehr als sie saß in ihrem Lehnstuhle.
Sie streckte Friedrich ihre abgezehrte gelbliche Hand entgegen, als er zu ihr
hintrat, und ihre schmerzensreichen Augen blickten aus dem wächsernen Gesichte
mit unendlicher Dankbarkeit zu ihm auf.
"Ja," sagte sie nach den einleitenden Begrüßungs- und
Dankesworten mit leidender Stimme, "ja, lieber Herr Doktor, Tiberias ist schön,
und die Bäder sind gut — aber herkommen muß man, solang es noch Zeit ist. Bei
mir war es schon zu spät! Zu spät!"
Mirjam stand neben ihr und streichelte ihr das Gesicht: "Mutter,
du siehst besser aus, seil du hier bist. Die Kur hat dir wohlgetan. Du wirst es
erst recht spüren, wenn du wieder zu Hause bist."
Frau Littwak lächelte wehmütig;
"Mein gut' Kind, ich bin schon so auch zufrieden. Ich bin ja
beinah schon im Garten Eden. Schauen Sie da hinaus, Herr Doktor, was ich da vor
mir hab'. Nicht wahr, der Garten Eden?"
Friedrich trat, wie sie ihn anwies, an die Brüstung der Veranda
und blickte in die Landschaft hinaus. Da schimmerte der See von Genezareth. Vom
Frühling weich die Umrisse der Ufer und fernen Höhen. Jenseits die steilen
Abhänge des Golan, die sich in den Wassern spiegelten. Am Nordrande des Sees die
Mündung des Jordanflusses und dahinter großartig, in schneeiger Majestät der
Hermon, wie ein greiser Riese die kleineren Berge, die verjüngten Lande
überschauend. Und hier zur Linken, immer näher die milden Buchten, die
lieblichen Gestade, die Ebene von Genezareth, Magdala, Tiberias, das neue
steinerne Juwel, überragt von den dunklen Mauern der Burgruine auf dem Berge.
Und überall ein Grünen und Blühen, eine junge duftende Welt.
"Es ist der Garten Eden!" sagte Friedrich ganz leise vor sich
hin, und als er Mirjam neben sich fühlte, ergriff er unwillkürlich ihre Hand und
preßte sie sanft, als ob er ihr dafür danken wollte, daß das Leben noch so schön
sei.
Die Kranke sah es von ihrem Lehnstuhl aus. Eine Freude stieg in
ihr auf, ihr Herz klopfte stärker.
"Kinder !" murmelte sie unhörbar, und versank in Träume.