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Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
VIERTES BUCH:
Passah
Zweites Kapitel
Die Nachtischfeier folgte, und als sie mit allen Vorschriften
der Hagadah fertig waren, gingen sie in den Salon hinüber, wo schon der
Phonograph mit Joes Erzählung auf einem Tischchen bereit stand. Es war der
Kingscourt wohlbekannte Apparat, verbessert durch eine einfache automatische
Vorrichtung, welche die Rollen nacheinander abgleiten ließ. Die ganze
Erzählung konnte so abgespielt werden, ohne daß eine Unterbrechung fühlbar
geworden wäre. Wollte man aber eine Pause machen oder sich etwas wiederholen
lassen, so genügte ein Handgriff, um die Walze aufzuhalten oder einige Sätze
weit zurückzustellen. Alle hatten auf Lehnstühlen und Sofas Platz genommen.
David setzte sich an das Tischchen, stellte den Schalltrichter nach den
Zuhörern hin, rückte einen kleinen Knopf an dem Apparat und sagte:
"Unser Freund Joe Levy hat das Wort."
Im Phonographen schnurrte es ein wenig, dann wurde mit
völliger Deutlichkeit eine kraftvolle Mannesstimme laut:
Meine geehrten Anwesenden!
Ich soll Ihnen über die neue Judenwanderung berichten. Die
ganze Sache war sehr einfach. Ich glaube, es wird zuviel Wesens daraus
gemacht. Um die politische Vorbereitung hatte ich mich nicht zu kümmern.
Glücklicherweise. Ich bin kein Politiker, war es nie, werde es nie sein. Ich
hatte meinen Auftrag und führte ihn aus. Unsere Gesellschaft war unter dem
Titel "Neue Gesellschaft für die Kolonisierung von Palästina" gegründet
worden. Sie hatte mit der türkischen Regierung einen Besiedlungsvertrag
geschlossen. Die Bedingungen dieses Abkommens sind aller Welt bekannt. Als
ich vor Abschluß des Charters gefragt wurde, ob wir die großen
Geldleistungen an den türkischen Staatsschatz alljährlich würden erschwingen
können, bejahte ich es unbedingt. Bei Unterzeichnung des Charters hatten wir
der türkischen Regierung zwei Millionen Pfund Sterling bar zu erlegen. Dazu
kam noch die jährliche Abgabe von fünfzigtausend Pfund Sterling durch
dreißig Jahre und ein Viertel des Reinerträgnisses der "Neuen Gesellschaft
für die Kolonisierung von Palästina", ebenfalls an den türkischen
Staatsschatz zu entrichten. Nach Ablauf der ersten dreißig Jahre aber werden
wir bekanntlich den Reinertrag der neuen Gesellschaft mit der türkischen
Regierung teilen, falls diese es nicht vorzieht, den letzten zehnjährigen
Durchschnitt der von uns erhaltenen Geldleistungen als für immer
gleichbleibende Abgabe zu beziehen. Die Erklärung hierüber hat uns die
türkische Regierung im siebenundzwanzigsten Vertragsjahre kundzumachen. Wir
können allerdings schon heute vermuten, daß die türkische Regierung lieber
den halben Reinertrag der neuen Gesellschaft in Anspruch nehmen wird, weil
dabei für sie viel mehr herauskommt. Für diese Abgaben erhielten wir die
Verwaltung der zu besiedelnden Gebietsteile, deren Oberhoheit dem Sultan
dabei erhalten blieb.
Nun waren das freilich sehr große Geldleistungen und es
regten sich anfänglich Zweifel, ob die neue Gesellschaft so gedeihen könne.
Das Land war bettelarm und unsere Ansiedler sollten aus dem Proletariat
aller Länder herkommen. Zwar gab es mehrere große Stiftungen für jüdische
Nationalzwecke. Ihr Gesamtbetrag wurde Ende 1900 mit zwölf Millionen Pfund
Sterling festgestellt. Aber es waren ja außer den Zahlungen an die türkische
Regierung noch große Aufwendungen für den privatrechtlichen Ankauf von Grund
und Boden, für das Ansiedeln ganz mittelloser Menschen, für die
Urbarmachung, Bepflanzung, Aufbesserung des Landes nötig. Woraus sollten
alle diese Erfordernisse bestritten werden? In unserem engeren Komitee gab
es Furchtsame, die den Zusammenbruch des Unternehmens vorhersagten. Meine
Freunde und ich trugen den Sieg über diese Bedenken davon. Es gelang uns,
darzutun, daß wir die Berechnung nicht nur auf Grund des Vorhandenen
anstellen müßten, sondern auch auf Grund dessen, was nach aller menschlichen
Erfahrung durch den Beginn unserer Arbeiten hinzukommen würde. Unser für die
Zukunft errichtetes Werk würde auch durch diese selbst erhalten und gestärkt
werden. Nach zehn Jahren sind die Knaben, die wir hinführen, Männer. Wenn
wir Menschen haben, haben wir alles. Die Menschen aber bringen wir selber
hin, erziehen sie, wie wir sie brauchen und benützen sie, wie es uns und
ihnen, das heißt der Gemeinschaft, frommt. Es ist das einfachste
Raisonnement von der Welt. Man macht es im kleinsten Ländchen, bei den
unbedeutendsten Völkern. Nur die Juden hatten dieses ABC des Volkstums
verlernt.
Es kam noch ein Wichtigeres hinzu, das unsere Juden
merkwürdigerweise nicht wußten, obwohl sie es täglich auf anderen Gebieten
ausübten: die Unternehmungslust! Ich will dazu ein Beispiel geben. Als zu
Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Goldfunde im unwirtlichen Klondyke
gemacht wurden, strömten erwerbshungrige Scharen nach dem eisigen Alaska.
Ich spreche nicht von den Goldsuchern, sondern von den Unternehmern, die
sich den Goldsuchern an die Fersen hefteten. Plötzlich wanderten Betten,
Tische, Stühle, Hemden, Stiefel, Röcke, Konserven, Weinflaschen, Ärzte,
Lehrer, Sänger nach Klondyke — mit einem Wort, alles, was man braucht und
nicht braucht, wanderte hin, weil einige Leute dort Geld in der
konzentriertesten Form erlangten. Die Nachströmenden waren nur zum Teile
Goldgräber. Sie gingen nicht dem Verdienste nach, der in der Erde verborgen
war, sondern dem, der schon zutage lag. Sie wollten an dem bereits
gefundenen Golde verdienen."
Der Professor konnte sich an dieser Stelle nicht enthalten,
ein lautes "Sie verstehen?" dazwischenzurufen, 'aber sein Bruder zischte ihn
so heftig nieder, daß er beschämt schwieg. Und der Phonograph sprach weiter:
"Ich habe dieses grelle Beispiel gewählt, um zu zeigen, wie
jede Erwerbsgelegenheit, wenn sie den Unternehmungsgeist anspricht, schnell
noch andere Erwerbsgelegenheiten schafft. Jeder praktische Mensch weiß das
beinahe instinktiv, ohne erst auf die Professoren der Nationalökonomie zu
warten, die es ihm in geheimnisvollen Ausdrücken erklären. Tatsächlich
gehörten wir Juden schon seit langer Zeit zu den findigsten Unternehmern.
Nur auf unsere eigene Zukunft hatten wir früher nie wirtschaftliche
Hoffnungen gebaut. Warum? Weil die Sicherheiten fehlten. Wenn die
Sicherheiten aber geschaffen wurden, mußten wir in diesem Lande mindestens
dieselbe Unternehmungskraft betätigen wie in anderen Ländern.
Darum machte mir das Hervorkommen der notwendigen Kapitalien
keine übermäßige Sorge. War das Land bereit und die Einwanderung
eingeleitet, so mußte jedes angemessene Gelderfordernis aufzubringen sein.
Und darum bejahte ich die Frage, ob wir die Geldleistungen an die türkische
Regierung in diesem Umfange auf uns nehmen könnten, ohne befürchten zu
müssen, daß es uns dann an den Investitionskapitalien fehlen werde. Das war
von mir kein Experiment. Es war die Anwendung von weltalten Tatsachen und
Erfahrungen.
Der Charter wurde abgeschlossen. Wir erlegten die Bezahlung.
Da mir von diesem Augenblick an die Leitung der Kolonisation übertragen war,
bedang ich mir vor allem aus, daß der Charter vorläufig noch nicht
veröffentlicht werden dürfe. Ich wollte kein tumultarisches Einwandern
haben. Es wäre gewiß zu argen Unordnungen gekommen. Die ärmsten, gierigsten
Leute wären hierhergestürzt, Kranke und Alte hätten sich hergeschleppt. Wir
würden vor allem anderen Hungersnot und Epidemien gehabt haben. Es gibt ein
altes französisches Theaterstück, das heißt: die Furcht vor der Freude. So
wie es darin zugeht, so halte auch ich Furcht vor der Freude meiner armen
Juden. Ich mußte sie behutsam vorbereiten. Ich mußte auch uns vorbereiten.
Das Direktorium der neuen Gesellschaft wurde eingesetzt. Das
Direktorium ernannte mich zum Generalmanager auf fünf Jahre. Dann erhielt
ich für die ersten Ausgaben den Kredit von einer Million Pfund. Einer meiner
Ingenieure meinte, das sei wenig."
"Verdammt wenig!" schrie Kingscourt und winkte heftig:
"Stoppen Sie 'mal den Klapperkasten!"
David halte den Phonographen schon zum Stillstand gebracht.
"Wenn Sie mich ollen Meerjreis ernstlich aufklären wollen,
müssen Sie mir jefälligst einiges sagen, sonst versteh' ich Ihren janzen Joe
mitsamt seinem Telephonographen nich... Was ist das für 'ne neue
Jesellschaft? Ist das dieselbe, von der in Neudorf mehrstenteils die Rede
war? Und was ist das für'n Direktorium? Und woher haben Sie das Jeld, wenn's
auch nich viel ist?"
David nickte mit dem Kopfe:
"Alle diese Fragen begreife ich. Joe Levy glaubte freilich
nicht, daß er davon erzählen müsse, weil jedes Kind es weiß. Die neue
Gesellschaft von damals und heute sind eins und dennoch verschieden. Es war
ursprünglich eine Aktiengesellschaft und ist heute eine Genossenschaft. Die
Genossenschaft ist vermögensrechtlich die Erbin der Aktiengesellschaft."
"Sie verstehen?" rief der Professor.
"Nee! Haben die Aktionäre ihr Jeld hergeschenkt? Dann ist es
'n Märchen."
"Mr. Kingscourt," entgegnete David, "es wird Ihnen gleich
klar sein, wenn Sie die verschiedenen Rechtspersönlichkeiten
auseinanderhalten. Wir haben da drei juristische oder moralische Personen:
die Stiftungen, die Ende 1900 ein Vermögen von zwölf Millionen Pfund hatten.
Zweite Person: die Aktiengesellschaft, die von den unserer Sache ergebenen
Londoner Finanziers mit einem Kapital von zehn Millionen Pfund Sterling
gegründet wurde, nachdem die Erteilung des Charters gesichert war. Dritte
Person: die Genossenschaft der Kolonisten. Die letzteren waren durch ihre
auf den Kongressen gewählten Führer vertreten. Diese Führer setzten die
Massen erst dann in Bewegung, als sie mit der Aktiengesellschaft über deren
spätere Vergenossenschaftlichung einig geworden waren."
"Sie erstaunen mich, edler Märchenprinz!" lachte Kingscourt.
"Auf solche Sache wären Aktienmenschen, Syndikatshyänen eingegangen?"
"Es waren keine Syndikatshyänen, Mr. Kingscourt," erwiderte
David. "Es waren anständige Geschäftsleute, die sich mit einem anständigen
Gewinne begnügten. Das Abkommen wurde zwischen Kapital und Arbeit gerecht
getroffen. Das Geld allein, die Arbeit allein konnten den Schwierigkeiten
nicht beikommen. Die Geldleute sollten ihre Sicherheit haben, die
Arbeitsleute auch. Wäre das nicht vorher in Ordnung gebracht worden, so
mußte mit der Zeit eine oder die andere Ungerechtigkeit eintreten: entweder
hätte sich das Volk über die Rechte der Aktionäre hinweggesetzt, oder es
wäre in ihre Sklaverei geraten. Beidem wurde durch die Vereinbarung
vorgebeugt, daß die Genossenschaft der Kolonisten berechtigt sei, nach
Ablauf von zehn Jahren die Aktien der neuen Gesellschaft einzulösen. Als
Ablösungssumme wurde die fünfperzentige Kapitalisierung des in den letzten
fünf Jahren erzielten Durchschnittsertrages bestimmt. Die Ablösungssumme
durfte aber nicht weniger als das tatsächlich eingezahlte Aktienkapital
nebst Zinsen betragen."
Hier wagte Friedrich ein wenig schüchtern die Bemerkung:
"Das scheint mir doch eine unmögliche Bedingung. Woher
sollten die mittellosen Kolonisten solche Summen erschwingen, um die Aktien
der Gesellschaft zurückzukaufen?"
"Nee, mein Sohn," meinte Kingsoourt, "mir ist es jetzt schon
klar wie Kloßbrühe. Wenn die Kolonisation gelang, waren die Kolonisten nicht
in Verlegenheit, sich das Geld zu verschaffen. Siel konnten es als
aufstrebende Genossenschaft auch jepumpt kriegen."
"Richtig!" sagte David. "Als die Genossenschaft an die
Einlösung der Aktien zu gehen beschloß, nahm sie das notwendige Geld in Form
einer vierprozentigen Anleihe auf. Schon daran hat die Genossenschaft ein
gutes Geschäft gemacht. Der Reinertrag vom fünften bis zum zehnten Jahre war
durchschnittlich eine Million Pfund gewesen. Für die Einlösung der Aktien
waren also zwanzig Millionen erforderlich. Mit einer jährlichen
Zinsverpflichtung, die dem bisherigen Reinertrage gleichkam, konnte aber die
Genossenschaft zu vier Prozent fünfundzwanzig Millionen Kapital erhalten. Es
blieben somit nach Erwerbung des Aktienvermögens noch fünf Millionen Gewinn
von dieser Operation übrig."
"Verdammte Jungens!" staunte Kingscourt. "Wodurch war denn
die Aktiengesellschaft so reich geworden?"
"Hauptsächlich durch die Wertsteigerung des Bodens, den sie
angekauft hatte," sagte David. "Diese Werterhöhung war den Arbeitern zu
verdanken, und ihnen mußte sie schließlich gerechterweise zugute kommen. Sie
sehen jetzt auch, wie wir den Übergang des Bodens an die Gemeinschaft
vollziehen konnten. Das Gemeingut wurde Eigentum der Genossenschaft, die von
da ab den offiziellen Namen ,Neue Gesellschaft' trug."
Architekt Steineck rief:
"Unseren lieben Gästen wird es vielleicht nicht gefallen, daß
wir uns solcher anrüchigen Mittel wie Aktien und dergleichen bedient haben.
Wir konnten uns aber nicht anders helfen."
"Da irren Sie sich groß," erwiderte Kingscourt "wenn Sie mich
für 'n solches Hornvieh halten. Ich habe ja in Amerika jelebt. Ich weiß
doch, was 'ne Harke ist. Eine Aktiengesellschaft ist 'n Jefäß, da kann man
Jutes und Schlechtes hineintun. Ebenso, könnte einer sagen, eine Flasche sei
verwerflich, weil man sie mit Gift oder Fusel füllen kann. Auch solche
Kolonialgesellschaften hat's doch in der Jeschichte jenug jegeben. Es waren
miserable und ausje-zeichnete drunter. Die ostindische Kompagnie war doch
nicht schlecht. In eurer neuen Jesellschaft find' ich sogar 'nen sittlichen
Grundzug. Das mit der Verjenossenschaf tlichung... Nu möcht' ich aber hören,
wie's weiter war. Lassen Sie doch 'mal Ihren Klapperkasten wieder laufen."
>>
Fortsetzung folgt...
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