[BUCH
BESTELLEN]
Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
VIERTES BUCH:
Passah
Fünftes Kapitel
NACH EINER KLEINEN WEILE KAM DAVID WIEDER HEREIN. Er fragte
die Freunde, ob sie jetzt die Fortsetzung der Erzählung wünschten. Als sie
bejahten, ließ er den Phonographen an der vorigen Stelle einsetzen. Und der
unsichtbare Joe Levy sprach:
" ... ließ ich mir auch eine heitere Sache angelegen sein.
Sie wurde anfänglich als Unterhaltung und Sport gedeutet und vielfach
bekrittelt. Ich rüstete nämlich das Schiff der Weisen aus. Dieses Schiff
wollte ich den rückkehrenden Juden voraufziehen lassen nach dem alten und
neuen Lande. Schon sein Erscheinen in den mittelländischen Gewässern sollte
die andere Zeit bedeuten.
Die Veranstaltung war nicht schwer. Ich warb den ersten
Beamten eines großen englischen Reisebureaus an, sagte ihm mein Vorhaben,
und in vierzehn Tagen legte er mir alle Kostenvoranschläge, Vertragsentwürfe
und Pläne vor. Von einer italienischen Schiffsgesellschaft mietete ich auf
den Vorschlag des Reisemarschalls den eleganten modernen Dampfer "Futuro",
der zwischen Neapel und Alexandrien zu verkehren pflegte. Das Schiff sollte
am fünfzehnten März in Genua bereit sein und uns durch sechs Wochen zur
Verfügung bleiben. Ferner ließ ich durch den Reisemarschall die Verpflegung
von fünfhundert Passagieren in den besten Hotels der italienischen,
ägyptischen, kleinasiatischen und griechischen Städte versorgen. Die
Mitfahrenden konnten nach Belieben in Genua oder Neapel den Futuro
besteigen. Ihre Billette gaben ihnen das Recht zur Fahrt auf allen
italienischen Bahnen und zum Aufenthalt in den ersten Hotels. Äußerlich nahm
sich die Expedition wie eine der schon damals gebräuchlichen
Vergnügungsreisen nach dem Orient aus. Es war aber mehr. Die Damen und
Herren, die wir eingeladen hatten, auf dieser sechswöchigen Frühlingsfahrt
nach dem Morgenlande unsere verehrten Gäste zu sein, gehörten zum
erlauchtesten Geistesadel der Kulturwelt. Ein Komitee von Schriftstellern
und Künstlern war eingesetzt worden, um die Liste dieser Ehrengäste zu
entwerfen. Die Besten aus aller Welt wurden gerufen, selbstverständlich ohne
Unterschied von Nationalität und Konfession. Die Besten wurden gerufen und
sie kamen gern, nicht nur weil wir ihnen eine helle Frühlingsreise
versprachen, sondern vor allem, weil es eine so einzige Zusammenkunft mit
ihresgleichen war. Auf dem Futuro trafen sich Dichter und Philosophen,
Erfinder und Entdecker, Forscher und Künstler aller Zweige, Staatsgelehrte,
Volkswirtschaftler, Politiker und Journalisten. Für Körper und Geist war in
reichlichem Maße vorgesorgt. Der Reisemarschall hatte den ganzen Luxus, den
die besten Gesellschaftsausflüge der damaligen Zeit bieten konnten,
verschafft. Die Gäste des Futuro sollten in diesen sechs Wochen das Glück
der wolkenlosen Tage erfahren. Von der Musikkapelle, welche zur Tafel
aufspielte, bis zur täglich am Morgen ausgegebenen Bordzeitung war nichts
vergessen. Und daß es dieser im Schiffsräume gedruckten Zeitung an
fesselndem Inhalte nicht fehlte, das ergab sich schon aus der
Zusammensetzung der Reisegesellschaft. Es war viel Küstenfahrt und in allen
Häfen warteten schon die neuesten Depeschen aus der ganzen Welt auf den
Futuro. Wenn das Schiff nachts auf einer Reede angelegt hatte, fand man die
dort erhaltenen Depeschen am nächsten Morgen im Blatte. Aber viel köstlicher
war der literarische Teil. Denn die Vorgänge und Erlebnisse des Tages wurden
von den feinsten Federn geschildert. Namentlich erschienen in der
Bordzeitung von Tag zu Tag, wie sie gehalten worden, die später berühmt
gewordenen Tischgespräche; man hat sie die neuen Platonischen Dialoge
genannt. Von allen höchsten Fragen war da in erhabener Form die Rede. Die
edelsten Geister der Menschheit äußerten sich, unvergeßliche Anregung gebend
und empfangend. Ich will nur einige der behandelten Gegenstände erwähnen.
Man sprach über die Einrichtung eines wahrhaft modernen Gemeinwesens, über
die Erziehung durch die Kunst, über Bodenreform, über die Organisierung der
Wohltätigkeit, über die Arbeiterfürsorge, über die Rolle der Frau in einer
zivilisierten Gesellschaft, über die Entwicklung der Technik in Wissenschaft
und Praxis und noch über manches andere, woraus alle Menschen einen
unvergänglichen Nutzen ziehen konnten. Die "Tischgespräche des Futuro" sind
längst eine Kostbarkeit der Weltliteratur geworden. Ich selbst kenne sie nur
aus der Lektüre, denn es war mir nicht vergönnt, sie mitanzuhören. Ich hatte
ja nicht Zeit, diese einzige Vergnügungsfahrt mitzumachen, weil ich bei der
Arbeit sein mußte. Ich war schon lange in Haifa, als der Futuro noch in
Genua ankerte. Aber gelesen habe ich die Bordzeitung mit einer
Aufmerksamkeit und Dankbarkeit wie nie vorher oder nachher ein Tagblatt. Ich
bin kein Philosoph und konnte mich auch in jenen Tagen weniger als je mit
abstrakten Dingen abgeben. Aber was aus den Tischgesprächen des Futuro in
praktische Energie umzusetzen war, das bemühte ich mich herauszufinden und
anzuwenden. Denn mir kam es vor, als hätte vom Futuro her der Geist der
Menschheit zum jüdischen Volk gesprochen, als es eben daran war, sich eine
neue Existenz zu gründen. Diese Lehren mußten beherzigt werden. Besonders
reich und fruchtbar wurden sie, als unsere edlen Gäste den Boden von
Palästina betraten. Das Schiff der Weisen fuhr die Küste entlang, die
Reisenden schwärmten nach ihrer freien Wahl im Lande umher, in kleineren
Gruppen und Expeditionen, für die der Reisemarschall mit seinem Stabe von
Gehilfen alle Bequemlichkeiten und Erleichterungen vorbereitet hatte. Alle
interessierten sich nicht für alles in gleichem Maße. Die Geologen wollten
anderes sehen als die Elektrotechniker; die Botaniker anderes als die
Architekten; die Maler anderes als die Volkswirtschaftler. Die
wahlverwandten Gruppen zogen also aus und kehrten auf den Futuro zurück,
wann sie wollten. Die hohe und heitere Geselligkeit auf dem Futuro übte aber
auf manche eine derartige Anziehungskraft aus, daß sie sich vom Schiffe
selten entfernten. Einige sahen vom Lande nichts als die Bahnstrecke nach
Jerusalem und diese Stadt. Von einem geistreichen Schriftsteller wird
erzählt — ich weiß nicht, ob es wahr ist —, daß er das Schiff überhaupt
keinen Augenblick verlassen habe. Er soll gesagt haben: "Dieses Schiff ist
Zion!" Er beschrieb aber nachher ausführlich das Land und seine Leute.
Er konnte das freilich aus den besten Quellen schöpfen. Denn
die Ausflügler, die nach dem Futuro zurückkehrten, brachten Material in
Hülle und Fülle, mit sachkundigen Augen gesehen, in meisterhafter
Schilderung. Da hatten die Tischgespräche neuen Stoff, und es begann eine
Reihe wunderbarer Dialoge über das, was sich in Palästina schaffen ließe.
Diesen Teil der Tischgespräche habe ich mit Ehrfurcht oft und oft gelesen.
Ich weiß sie noch heute fast wörtlich auswendig. Den tiefsten Eindruck
machten auf mich die Ratschläge der Künstler, offenbar weil ich selbst
keiner bin. Im Praktischen war ja nur ein bißchen gesunder Menschenverstand
nötig, um die Dinge, die es anderswo schon gab, auf unsere Verhältnisse zu
übertragen. Den Künstlern vom Futuro verdankte ich die herrliche Lehre, daß
unser Land in seinen natürlichen Schönheiten erfaßt und entwickelt werden
müsse. Schön sollte es werden, schön überall, schön vor allem. Weil
Schönheit die Herzen der Menschen immer erfreut.
Zu meinen merkwürdigsten Erlebnissen gehört es, daß ich den
Futuro nicht einmal ordentlich zu Gesicht bekam. Ich hatte seine Fahrt
vorbereitet, mich um sein Wohl bekümmert, ich dachte immer an ihn und folgte
den Worten seiner Weisen. Aber gesehen habe ich ihn nicht, wenigstens nicht
genau. Und das kam so:
Als der Futuro an unserer Küste erschien, war ich eben im
Innern des Landes beschäftigt. Fischer, Steineck und Alladino begrüßten das
Schiff namens der neuen Gesellschaft, als es vor Jaffa anlegte. Ich wollte
mich unseren Gästen vorstellen, sobald ich meine damaligen dringenden
Arbeiten erledigt hätte. Denn das war eine Zeit, wo ich Tag und Nacht
unterwegs sein mußte, von einem Arbeitslager zum anderen. Ich schlief öfters
in meinem großen Motorwagen, der mich von Ort zu Ort brachte. Von unserem
heutigen Komfort war damals begreiflicherweise noch keine Rede. Wenn ich
vorher wußte, wo ich übernachten würde, ließ ich mir eine Baracke
aufschlagen. Aber das war nicht immer im vorhinein bestimmbar. Auch war es
nützlich, daß ich da und dort unerwartet auftauchte, um die Straßenarbeiten,
die Landverteilung und den Feldbau zu besichtigen. Wohl waren für alles
detaillierte Pläne und Instruktionen da, doch wollte ich mich auch
persönlich überzeugen, ob alles am Schnürchen ging. Mit meinem Hauptquartier
zu Haifa war ich in beständiger Verbindung. Von dort kamen Meldungen, die
mich zu hastigen Kreuz- und Querfahrten veranlaßten. Bei aller Planmäßigkeit
gab es doch Zwischenfälle mit den Arbeitern oder in der Verpflegung, die
rasches Eingreifen, Änderungen im Vorgesehenen, neue Dispositionen nötig
machten. Bei der Bodenzuweisung schürzten sich manchmal gordische Knoten,
die nur ich zerhauen konnte. Auf den eigenen Ländereien der neuen
Gesellschaft war man beim Frühjahrsanbau. Wir hatten zwar die
landwirtschaftlichen Produktivgenossenschaften nach dem System von Rahaline
eingerichtet, aber die Leute waren noch neu bei der Sache, sie brauchten
eine führende Autorität und gelegentlich eine höhere Entscheidung. Es waren
durchaus keine ungewöhnlichen Aufgaben, sie erforderten nur eine stete
Aufmerksamkeit. Sommerweizen, Gerste, Hafer, Mais, Rüben anzubauen ist gewiß
keine Kunst. Hier gab es jedoch allerlei Schwierigkeiten. Wir mußten mit dem
widerspenstig gewordenen Boden ringen. Wir hatten die modernsten Mittel und
den zähesten Willen, wir haben den Boden besiegt, und er ward unser Freund.
Die Organisation war die Hauptsache, und die hatten wir schon vor der
Mobilisierung fix und fertig. Der Arbeitstag der Leute, welche von der neuen
Gesellschaft abhingen, hatte nur sieben Stunden, aber es waren Stunden voll
konzentrierten Eifers. Die einen machten Wege, die anderen gruben Kanäle,
die dritten lasen Steine aus den Feldern, die der elektrische Pflug furchen
sollte, die vierten bauten Häuser, die fünften pflanzten Bäume, und so
weiter. Und jeder wußte, daß er für alle arbeite und alle für ihn. Singend
zogen sie zur Arbeit und singend kehrten sie in ihre Lager zurück. Und es
war ein rascher Frühling in diesem Werden, wie man es in der Natur sieht,
wenn die dürren Bäume plötzlich zu grünen anfangen. Und jeder Tag machte die
erworbene Geschwindigkeit unseres Fortschrittes wachsen. Ich hatte vor allen
Dingen das Telegraphen- und Telephonnetz zu legen begonnen. Dem allgemeinen
Verkehr konnte es natürlich nicht gleich dienen, unserer Verwaltung diente
es sehr bald. Von Haifa strahlten die Leitungen längs den Hauptlinien
unserer Arbeit aus. Ein Telegraphist fuhr in einem der Begleitwagen immer
hinter mir her, und der Anschluß an mein Bureau in Haifa, somit auch an die
Londoner Zentrale, war schnell hergestellt. Ein guter Nachrichtendienst war
mir natürlich immer das Wichtigste. Nur so konnte ich über Menschen und
Material übersichtlich disponieren. Jetzt gab es jeden Tag Landungen von
fünfhundert, tausend, zweitausend Einwanderern in den verschiedenen Häfen
von Jaffa bis Beirut. Am Tage nach der Ankunft wurden sie schon
weiterdirigiert, ohne Verzug an die Arbeit. Für die Eisenbahnlinien allein
waren zehntausende von Männern erforderlich. Andere zehntausend« für die
Errichtung der öffentlichen Gebäude unserer neuen Gesellschaft:
Betriebsämter, Verwaltungsstellen, Schulen, Krankenhäuser und so weiter. Die
Ausführung war kein Kunststück, wenn nur der Plan so feststand, wie es bei
uns der Fall war. Für die Arbeit an Wegen, Eisenbahnen und anderen
öffentlichen Bauten bekamen unsere Arbeiter nicht nur den Lohn ausgezahlt —
nach Abzug der Raten, die wir mit den Kaufhäusern für die von den einzelnen
bezogenen Waren verrechneten —, sie erwarben auch Anspruch auf die spätere
Kolonisierung. Der Mann, den wir vom Hafen weg zu den verschiedenen Arbeiten
kommandiert hatten, sollte bis zum Herbst bereits das für ihn inzwischen
hergestellte Haus in einer Kolonie beziehen und seine Familie zu sich rufen
können. Die Sache war, wie gesagt, sehr einfach, es mußte nur ein Plan da
sein. Die Militärverwaltungen der großen Staaten hatten im neunzehnten
Jahrhundert viel schwierigere Aufgaben gelöst. Es ist eigentlich schon
unbescheiden, daß ich unser Werk mit solchen Leistungen vergleiche. Wir
hatten bis zum Herbst nur eine halbe Million Menschen anzusiedeln und bis
dahin war eine erste Ernte zu gewärtigen. Die Heeresverwaltungen des vorigen
Jahrhunderts mußten Millionen Menschen versorgen, möglicherweise in
Feindesland, jedenfalls in einer Zeit allgemeiner Einschüchterung von Handel
und Verkehr. Wir dagegen befanden uns in Freundesland, nein, auf dem
väterlichen Boden, und wir verscheuchten nicht, wir zogen vielmehr Handel
und Verkehr gewaltig an. Die Leute, die wir zunächst verpflegten, schufen
sogleich die Mitte] zu ihrer baldigen eigenen Verpflegung und zu derjenigen
der Nachkommenden. Überall im Lande wurden von freien Unternehmern Fabriken
gebaut, die im Herbst unter Dach sein sollten. Tatsächlich mußte doch jeder
vernünftige Mensch einsehen, welch glänzende Aussicht für Industrien sich in
diesem Lande eröffnete. Der Absatz an Ort und Stelle bei so mächtiger
Einwanderung, die Möglichkeit, bei billigem Tarif die jetzt noch ohne
Rückfracht fahrenden Importschiffe zu benützen, die Küstenausdehnung, die
Lage des Landes in der Mitte zwischen Europa und Asien — das alles zusammen
lockte die Leute her. Und als ich nach der ersten Ernte, die nicht einmal
besonders gut, sondern eben nur erträglich war, den Stand der Dinge
überblickte, konnte ich den Entschluß fassen, die Einwanderung im Herbste
nicht zu unterbrechen. Ursprünglich war es so geplant gewesen. Aber die
Sistierung war, Gott sei Dank! nicht nötig. Ich telegraphierte dies dann an
alle Landeszentralen, und es erregte ungeheuren Enthusiasmus in den
Ortsgruppen. "Von unserer ersten Ernte datiere ich den Sieg der neuen
Gesellschaft. Es gab später viel reichere Ernten, das alte Gold der
Brotfrucht wuchs uns üppiger aus dem Boden, aber nie wieder heimsten wir so
viel ein. Denn wir ernteten damals das Vertrauen unserer Brüder in der
ganzen Welt. Kaum zwölf Monate waren vergangen, seit ich meinen großen
Generalstab in London versammelt hatte, und ich durfte meinen Freunden im
Hauptquartier zu Haifa sagen, daß das erste Jahr gut gewesen sei.
Unser Direktionsgebäude in Haifa war in jenem Herbste wohl
schon unter Dach, aber im Innern noch nicht fertig. Bezogen sollte es erst
im zweiten Frühjahr werden. Ich konnte dennoch schon meinen wackeren
Gehilfen erklären: Unser Haus ist unter Dach! Ich meinte damit die ganze
neue Gesellschaft. Es galt nur, von da weiter auch nichts zu versäumen,
immer mit gespannter Aufmerksamkeit unsere Pflicht zu tun. Die Aufgaben
wurden umfangreicher, und doch waren sie in der Folge leichter zu
bewältigen. Der Apparat war aufgestellt, wir mußten ihn nur richtig in Stand
und Gang erhalten. Die größeren technischen Werke wurden geschaffen,
namentlich unsere Wasseranlagen. Wir knüpften da an eine sehr alte Tradition
unseres Volkes wieder an. Die salomonischen Teiche zeugen noch von der
verschollenen Tüchtigkeit unserer Vorfahren. Wir hatten freilich andere
Wasserwerke herzustellen, nicht nur für die Trinkwasserversorgung von
Jerusalem und anderen Städten; auch für Kraft und Licht. Der Tote-Meer-Kanal
und die übrigen technischen Leistungen beweisen, daß die Ingenieure der
neuen Gesellschaft nicht rasteten. Ihnen allen immer voran ihr herrlicher
Chef, der unvergeßliche Fischer.
Und noch ein anderer Strom ergoß sich befruchtend über unser
Land: Kapital und Kredit. Unsere zielbewußte Arbeit, unsere ersten Erfolge
weckten das Vertrauen. So wie wir in den landwirtschaftlichen
Produktivgenossen neue Bauern auf die Scholle gesetzt hatten, so brachten
wir auch den modernen Ackerbaukredit ins Land. Früher hatte man geglaubt,
daß wir unsere Geldmittel erschöpfen würden, wenn wir unseren Ansiedlern
Wohnhäuser und Wirtschaftsgebäude, Felder und Maschinen, Pferde, Kühe und
Schafe und Geflügel, Wagen und Geräte, Lebensmittel, Saat und Futter gäben.
Die Klügsten unserer Gegner hatten sogar ausgerechnet, wann wir auf dem
Trocknen sitzen müßten. Eine Familie, nach dem Durchschnitt mit fünf Köpfen
angenommen, koste zur Ansiedlung ungefähr sechshundert Pfund Sterling.
Folglich kosteten tausend solche Familien sechsmalhunderttausend Pfund,
zehntausend sechs Millionen, das ist hundertundzwanzig Millionen Mark, und
so fort. Diese ausgezeichneten Rechner hatten dabei nur die Kleinigkeit
übersehen, daß die Ansiedler einen bedeutend größeren volkswirtschaftlichen
Wert repräsentieren, und daß man auf Wertvolles auch Geld geborgt erhält.
Die neue Gesellschaft konnte ihre Geldmittel durch wohlgedeckte und
amortisierbare Anleihen gewaltig vermehren. Mit einem Worte: je mehr der
Ansiedler wir herüberbrachten, um so mehr Geld strömte uns zu. So ist es
überall in der Welt, wo man zu wirtschaften versteht; warum hätte es nicht
auch bei uns so sein sollen? Das war ebenso einfach und selbstverständlich
wie alles andere.
Aber ich bemerke eben, daß ich von der Zeit abgekommen bin,
von der ich erzählen wollte. Das war die Zeit, in der uns der Futuro
besuchte. Ich war im Innern des Landes beschäftigt, wie ich schon erwähnte.
Von Tag zu Tag mußte ich meine Abreise nach Jaffa verschieben. Dort lag das
Schiff der Weisen, die ich so gern gesehen und gesprochen hätte, vor Anker.
Einmal geschah es, daß mehrere Wagen mit Ausflüglern vom Futuro in meiner
Nähe auftauchten. Ich war zu Pferde auf dem Feld, als sie auf dem neuen Wege
vorüberkamen. Sie betrachteten die große Dampfstraßenwalze, sahen auch einen
Augenblick unseren Leuten beim Arbeiten zu. Von den Hüten der Damen
flatterten die lichten seidigen Sonnenschleier, und das sah sehr hübsch aus.
Ich ritt aber doch nicht an die Wagen heran, weil ich, bestaubt und
verschwitzt wie ich war, den Eindruck eines Wegelagerers zu machen
fürchtete. Ich dachte mir, ich würde schon in Jaffa Gelegenheit haben, mich
diesen interessanten, feinen Menschen vorzustellen. Es kam anders. Am
nächsten Tage erhielt ich ein Telegramm, das mich zu schleuniger Fahrt nach
Konstantinopel zwang. Ich mußte mit der türkischen Regierung eine sehr
wichtige Sache ins Reine bringen. Die Zeit drängte. In aller Eile ließ ich
meine Jacht in Haifa heizen und berief die Cliefs der Abteilungen zusammen.
Den Oberbefehl übergab ich Fischer, der alle meine Absichten genau kannte,
und ich dampfte mit meinen Sekretären noch am selben Tage nach
Konstantinopel ab.
Den Futuro hatte ich nicht besuchen können, aber ich hoffte,
ihn bei meiner Rückkehr von Stambul noch an der Küste zu finden. Ich tat
auch mein Möglichstes, um die Verhandlungen rasch zu beenden. Doch wie es
nun einmal in dieser liebenswürdigen und schläfrigen Stadt geht, alles zog
sich in die Länge, und meine Ungeduld half mir nichts. Im Geiste und in den
Dispositionen war ich freilich bei unseren großen Arbeiten in Palästina. Mit
Fischer und dem Londoner Bureau blieb ich in allstündlichem Zusammenhange.
Nur mit der geistreichen Heiterkeit des Weisenschiffes konnte ich mich auf
telegraphischem Wege nicht verbinden. Mein Bedauern wuchs in dem Maße, als
der Futuro nordwärts fuhr. Die täglichen Telegramme Fischers brachten auch
über das Verbleiben des Futuro Nachricht. Schon war er in Tyrus, in Sidon
gewesen. Vor Beirut sollte er länger ankern, um den Ausflug nach Damaskus zu
ermöglichen. Da hoffte ich ihn auch zu finden, als ich endlich von
Konstantinopel wegkam. Ich hatte zwar die größte Eile, meine Arbeiten wieder
an Ort und Stelle aufzunehmen, aber einen halben Tag Aufenthalt in Beirut
wollte ich mir gönnen, um die Bekanntschaft dieser ausgezeichneten Menschen
zu machen. Meine gute Jacht flog nur so über die Wellen hin. Ich hatte den
Kapitän gebeten, das Äußerste der Geschwindigkeit zu leisten. Dennoch kamen
wir zu spät. Bei der Insel Cypern, an der wir eines Morgens vorüberkamen,
sah ich ferne ein Schiff in entgegengesetzter Richtung fahren. Wie der Blitz
durchzuckte es mich: das ist der Futuro! Ich stürmte auf die Kommandobrücke
und sah durchs Fernrohr. Ich hätte ein geübter Seemann sein müssen, um ein
Schiff auf diese Distanzen zu erkennen. Der Kapitän war leider nicht auf der
Brücke, sondern in seiner Kajüte. Bis man mir ihn holte, war jenes Schiff
aus unserem Gesichtskreise verschwunden. Aufs Geratewohl hinterdrein zu
jagen wäre nicht ratsam gewesen. Erstens war es fraglich, ob wir jenen
Dampfer noch erreichen konnten; zweitens versäumte ich vielleicht eben
dadurch den Futuro, falls er noch vor Beirut lag. Wir blieben also in
unserem Kurs. Erst in Beirut erhielt ich die Kunde, daß ich richtig vermutet
hatte. Jenes Schiff im Morgensonnenschein vor Cypern war de* Futuro gewesen.
Ich empfand darüber einen gewissen Schmerz. Und seither habe
ich den Wunsch, es möge mir wenigstens vergönnt sein, die Wiederkehr des
Futuro zu sehen. Denn fünfundzwanzig Jahre nach seiner ersten Fahrt soll er
wiederkommen. Allerdings nicht das gleiche Boot, weil es eine veraltete Form
hat; ein neues Prachtschiff wird seinen für immer berühmten Namen erhalten.
Und allerdings auch nicht ganz die gleichen Gäste, weil manche schon
gestorben sind; wir wollen eben außer den Überlebenden von der ersten Reise
auch noch diejenigen einladen, die inzwischen die Besten der Kulturwelt
geworden sind.
Und alle fünfundzwanzig Jahre soll ein Dampfer Futuro einen
solchen Areopag, vor dessen Urteil wir uns beugen wollen, zu uns bringen.
Wir werden nicht die Potemkinschen Dörfer einer Weltausstellung aufrichten.
Das ganze Land soll zur Besichtigung da sein, die Gäste vom Futuro unsere
werte Jury. Und wenn sie nun wiederkommen, und unser Herrgott mich sie
diesmal nicht versäumen läßt, und sie finden, daß Joseph Levy seine einfache
und doch schwere Aufgabe einigermaßen anständig gelöst hat, dann - dann will
ich in Pension gehen. Und wenn ich sterbe, legt mich an die Seite meines
teuren Freundes Fischer, dort oben hin auf den Karmelfriedhof, von wo man
den Blick hat auf mein liebes Land und mein liebes Meer."
>>
Fortsetzung...
[BUCH
BESTELLEN]
Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl |