AM FOLGENDEN SONNTAG FANDEN IM GANZEN LANDE DIE DELEGIERTENWAHLEN statt.
David war in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag nach Haifa gefahren,
um den Wahltag vom Mittelpunkte der Bewegung aus zu leiten. Die Partei Geyer
machte überall die größten Anstrengungen. Geyers Zeitungen brachten den Tag
über in rasch aufeinander folgenden Extraausgaben zuversichtliche
Stimmungsberichte. Damit waren unbestimmte Verdächtigungen vermischt. Eines
dieser unsauberen Blätter nahm den Generaldirektor der neuen Gesellschaft,
Joseph Levy, besonders aufs Korn. Es wurde von der allzu unbeschränkten
Gewalt dieses Mannes über die Millionen der neuen Gesellschaft gesprochen.
Der Schreiber des Artikels beteuerte zwischendurch immer wieder, daß er
Herrn Joseph Levy nicht anklagen wolle; es handle sich lediglich um das
allgemeine Wohl, um die sauer erworbenen Groschen der Armen, um die Existenz
der uns allen so teuren Gemeinschaft. Geschrieben war das Ganze in einem
süßlichen Tone und mit Bibelworten fromm unterspickt.
Professor Steineck, der dieses Blatt im Beisein Kingscourts erhielt,
wurde beim Lesen hochrot im Gesicht und stieß fort und fort dumpfe Wutrufe
aus:
"Oh du Rabenvieh!... Oh du Schweinehund!... Oh du — du — du Geyer!... Der
Schuft weiß ganz gut, daß unser Joe die Ehrlichkeit selbst ist. Er weiß, daß
Joe sich geschunden und gerackert hat, um die neue Gesellschaft in die Höhe
zu bringen. Denn das weiß jedes Kind, das weiß die ganze Welt. Und dieser
Lumpenkerl wagt es, Joe's Namen in seinen verruchten Lügenmund zu nehmen.
Alles nur wegen der Wahlen — Sie verstehen? Das soll die Leute bei der
Abstimmung beeinflussen, daß sie Delegierte der Opposition wählen. Sie
verstehen?"
Grimmig zerriß er das Blatt, ballte die Fetzen zu einem Knäuel und
schleuderte diesen mit einem Ausruf des Ekels zum Fenster heraus.
Kingscourt lachte: "Ob ich das verstehe! Geliebter Mikrobenvater, ich
habe doch auch in der Welt jelebt. Ich werde doch wissen, was die Menschen
für jemeine Bestien sind. Wissen Sie, offen jestanden hab' ich an manches in
eurer neuen Jesellschaft trotz Oojenschein nich jeglaubt. Die ganze
Jeschichte war mir 'n bißchen zu rosenrot und potemkinisch. Seh' ich aber,
daß ihr auch Halunken von allen Sorten auf Lager habt, dann fängt es an, mir
einzuleuchten. Dann muß auch ich oller Wüstenpilger zujeben, daß die
Jeschichte wahr ist."
Im übrigen war aber in diesem Kreise von den Wahlen nicht mehr viel die
Rede, so schwer es auch schien, dem Tagesereignis auszuweichen, das durch
alle Ritzen hereindrang. Man bedauerte David Littwak, weil er sich so tief
in den Streit eingelassen habe; doch nun kam er ja bald zur Ruhe. Er hatte
oft erklärt, daß er gleich nach den Wahlen zu seinen gewohnten Arbeiten
zurückkehren werde. Das Mandat eines Delegierten strebte er zwar an und
wollte es ausüben, aber der Kongreß tagte nur wenige Wochen im Jahre.
Auf Mirjams Anregung benutzten Friedrich und die Freunde gerade diesen
Wahltag, um einen von der Politik weit abgelegenen Ort aufzusuchen, nämlich
eine Künstlerwerkstatt. Mirjam und Friedrich fuhren mit dem Professor hinaus
nach dem Atelier des Malers Isaaks. Das Haus des Meisters lag in einer
stillen Gegend im Osten der Neustadt. Es enthielt Kunstschätze erlesener
Art. Isaaks liebte die edle Geselligkeil, und die Feste, die er öfters in
seinem Palästchen veranstaltete, waren durch ihre Pracht und Feinheit
berühmt.
Die Mauer des Künstlerhauses, die der Straße zugekehrt war, ließ noch
nichts von der heiteren Eleganz des Inneren ahnen. Um so freudiger war man
überrascht, wenn man den Vorhof betrat. Isaaks hatte sich ein reizendes Heim
geschaffen. Die Vorhalle, deren Glasdach auf den vergoldeten Knäufen
schlanker Marmorsäulen ruhte, war mit alten Gobelins verkleidet. Hier
standen einige meisterhafte Nachbildungen antiker Skulpturen. Die Gäste
wurden von einem Diener weitergeführt und kamen in einen Hof, der die Mitte
des Hauses einnahm. Es war dies eigentlich ein Salon ohne Zimmerdecke. Der
blaue Himmel war sein Plafond. Auf drei Seiten war der mit großen
Steinplatten belegte Hof von Säulengängen umgeben, auf der vierten Seite
grenzte ihn gegen den Garten ein auf Rädchen verschiebbares, vergoldetes
Gitter ab, das jetzt weit geöffnet stand. Man blickte in den Garten hinaus,
der um mehrere Stufen tiefer lag und nicht sehr groß war, jedoch durch eine
kunstvolle Stellung der Gebüsche den Eindruck bedeutender Tiefe machte. Aus
dem Palmengrün leuchtete da und dort der Marmor edler Bildsäulen. Im Hofe
selbst befand sich in der Mitte ein Springbrunnen mit weitem Becken, dessen
Wasser leise rauschten. Gute Lehnstühle von reicher Verschiedenheit der
Formen waren in Plauderwinkeln gruppiert. Der breite, um einige Stufen
erhöhte Säulengang, der von drei Seiten den Hof umgab, konnte in einen
geschlossenen Raum verwandelt werden, indem man aus der Tiefe Glaswände
aufsteigen ließ. Aber in der milden Jahreszeit war alles offen. Dieser Hof
mit seinen Kolonnaden bildete einen einzigen herrlichen Saal. Es führten aus
dem Säulengange hohe, geschnitzte Türen nach den anderen Räumen des Hauses.
Einzelne waren geöffnet, man erblickte den Prunk ihrer Ausstattung. Es war
der Palast eines Fürsten der Kunst.
Und dort die Tür, die jetzt aufging, war die seines Ateliers. Isaaks, dem
die Gäste gemeldet worden, kam in Begleitung eines vornehm aussehenden
Paares. Professor Steineck stellte Friedrich vor, und Isaaks nannte die Dame
und den Herrn, die bei ihm waren: Lord Sudbury und Lady Lillian, dessen
Gemahlin. Sie hielten sich in Jerusalem auf, weil Isaaks das Porträt der
schönen Lady Lillian malte. Meister Isaaks war ein stattlicher Mann von etwa
vierzig Jahren. Er bewegte sich und sprach mit einer heiteren Würde; man sah
ihm die Gewohnheit an, mit eleganten Leuten als Gleichgestellter zu
verkehren. Und doch war auch er ein armer Juden junge gewesen, der es nur
von Talentes. Gnaden zu seinem jetzigen Range in der Welt gebracht hatte.
Isaaks weckte durch seine liebenswürdige Art sehr bald ein Gefühl des
Behagens bei seinen Gästen. Diener trugen Erfrischungen herbei. Dann
brannten die Herren Zigarren an — duftende Kräuter, die, wie der Hausherr
lächelnd bemerkte, in Palästina gewachsen waren. Es war das einzige, worauf
er mit sichtlichem Stolze hinwies. "Blume des Jordans" nenne man die Sorte.
Die Tabakpflanzungen lagen nämlich im Jordantal.
Während die Herren schmauchten und plauderten, hatte sich die schöne Lady
Lillian der ihr schon von früheren Besuchen her bekannten Mirjam genähert
und flüsterte ihr bittend etwas zu. Mirjam schien abzulehnen und milderte
ihre Weigerung durch ein Lächeln. Es kam Friedrich vor, als hätte Mirjam
beim verneinenden Kopfschütteln nach ihm hingeblickt. Auch Lady Lillian sah
ihn daraufhin flüchtig an. Die Damen standen jetzt am goldenen Gitter, zwei
schlanke Gestalten, die den Blick erfreuten. Mirjam, dunkelhaarig und von
etwas kleinerem Wuchs, machte in ihrer sehr einfachen Kleidung doch keine
schlechte Figur neben der hochragenden, blonden Engländerin, deren Toilette
auf die Kunst eines Pariser Schneiders hinwies. Friedrich hatte ein
unbestimmtes Gefühl von Stolz, als er das Judenmädchen, die Tochter des
Hausierers, in so bescheidener und doch nicht unsicherer Haltung neben der
englischen großen Dame sah. Und im Tone seines abwesenden Freundes
Kingscourt dachte er sich:
"Alle Deibel — nu bringen wir es sogar zu einem bescheidenen Auftreten in
der Gesellschaft."
Aber die Lady und Mirjam schritten jetzt langsam in den Garten hinaus,
und Friedrich, so gern er ihnen auch gefolgt wäre, mußte dableiben, denn das
Gespräch wandte sich hauptsächlich an ihn. Ihm erklärte man Dinge, die er
noch nicht wußte: die Rolle der Kunst und Philosophie in der neuen
Gesellschaft. Jetzt erst, als Meister Isaaks mit seiner wohlklingenden
Stimme davon sprach, fiel es Friedrich ein, daß ihm ein Aufschluß über die
Fragen bisher gefehlt hatte. Er hatte den Tempel und die elektrischen
Maschinen, das alte Volk und die neuen Formen seiner Vergesellschaftung in
Altneuland gesehen. Aber wie stand es mit den Bedürfnissen feiner
Geister in Kunst und Wissenschaft? Dies war ja vorzeiten ein gewichtiger
Einwand der sogenannten modernen Menschen gegen die zionistische Bewegung
gewesen. Man hatte die Idee von der Wiedergeburt des jüdischen Volkes als
eine blödsinnige Reaktion, als eine Art chiliastischen Schreckens
hingestellt.
381Altneuland
Und nun hörte Friedrich von Maler Isaaks, daß es mit nichten so war. In
der neuen Gesellschaft herrschte alles eher als Volksverdummung, wenn man
auch einen jeden nach seiner Fasson selig werden ließ. Glaubenssachen waren
ein für allemal von der öffentlichen Beeinflussung ausgeschaltet. Ob einer
im Tempel, in der Kirche, in der Moschee, im Kunstmuseum oder im
philharmonischen Konzerte die Andacht suchte, die ihn mit dem Ewigen
verbinden sollte, darum halte sich die Gesellschaft nicht zu kümmern. Das
machte jeder füglich mit sich selbst aus.
Kunst und Philosophie hatten ihre unabhängige Pflegestätte in der
jüdischen Akademie, die ja auch keine funkelnagelneue Erfindung war, sondern
in der französischen Akademie ein jahrhundertealtes Vorbild besaß. Die
Mittel zur Errichtung dieser Akademie waren von einem reichen Amerikaner
gestiftet worden, der als Gast die Reise des Dampfers Futuro mitgemacht
hatte. Der Geist vom Futuro sollte auch immer die jüdische Akademie
erfüllen, dafür war in den Satzungen nach Möglichkeit vorgesorgt. Vierzig
war die Zahl der Mitglieder, gleichwie im Palais Mazarin, und wenn ein
Fauteuil durch Todesfall frei wurde, so wählten die übrigen Mitglieder den
würdigsten Nachfolger. Die Mitglieder bezogen ein Gehalt, welches sie jeder
Sorge um den Lebensunterhalt enthob, so daß ihre Kunst, Philosophie und
Gelehrsamkeit nach keiner Gunst auszuschielen brauchte. Es ergab sich auch
von selbst, daß die vierzig Juden der Akademie von nationalem Chauvinismus
frei waren. Als dieses Institut errichtet wurde, kamen seine ersten
Mitglieder aus verschiedensprachigen Kulturen zusammen und einigten sich auf
dem Boden der Menschlichkeit. So schuf ihr Beisammensein einen Geist,
welcher nicht entthront werden konnte, weil sie selbst sich die folgenden
Genossen wählten. Die erste Satzung des Stifters aber lautete:
"Die jüdische Akademie hat die Aufgabe, das Verdienst einzelner um die
Menschheit aufzusuchen."
Diese Aufgabe war selbstverständlich nicht an die Grenzen des Landes
gebunden.
Die Vierzig der jüdischen Akademie bildeten auch das Ordenskapitel der
Judenehre, die ebenfalls nach einem französischen Muster geschaffen war:
nach der Ehrenlegion. Das Abzeichen war ein gelbes Band im Knopfloch.
Friedrich hatte dieses Bändchen schon bei mehreren gesehen, aber es nicht
sonderlich beachtet. Es war offenbar die wohlbekannte Ordensnarrheit der
früheren Zeit. Dennoch machte es auf ihn einen gewissen Eindruck, als
Meister Isaaks, der gleich dem Professor Steineck das gelbe Bändchen besaß,
in dieser Weise davon sprach:
"Sie dürfen nicht glauben, lieber Doktor Löwenberg, daß wir das aus
lauter Dummheit und Eitelkeit eingerichtet haben. Die Ehre verlangt auch
nach einer Umlaufsmünze, das haben die Staatskünstler der alten Gesellschaft
wohl erkannt. Warum hätten wir dieses Mittel verschmähen sollen, womit man
für die Gemeinschaft so viel erzielen kann? Nur haben wir seinen Wert von
vornherein hochzuhalten uns bemüht, indem wir es schwer erreichbar machten.
Die höheren Grade sind sehr selten. Großmeister ist der Präsident unserer
Akademie, und diese, das Ordenskapitel der Judenehre, besteht aus Leuten,
die keinerlei Privatinteressen haben und von allem politischen Treiben
entfernt sind. Daraus ergibt sich, daß diese Auszeichnung für Geld oder
Parteidienste nicht zu haben ist. Wenn einer gute Geschäfte gemacht hat, so
zeichnen wir ihn dafür nicht aus. Darum waren ja die Orden in der alten
Gesellschaft lächerlich. Bei uns bedeutet dieses sonst so komische Bändchen
ernste Leistungen, die dazu dienten, das allgemeine Niveau zu heben. Die
Farbe aber soll uns an die schwersten Zeiten unserer Volksgeschichte
erinnern und uns noch im Erfolge zur Demut mahnen. Aus dem gelben Fleck, den
unsere unglücklichen, standhaften Väter tragen mußten, aus dem Zeichen der
Schande haben wir das Zeichen der Ehre gemacht." "Sie verstehen?" rief
Steineck.
Friedrich nickte nachdenklich.
In diesem Augenblicke meldete ein Diener den Doktor Marcus. Meister
Isaaks erhob sich rasch und eilte dem weißbärtigen alten Herrn entgegen:
"Sie kommen wie der Wolf in der Fabel, Herr Doktor!" sagte Isaaks und
stellte den Lord und Friedrich vor. "Herr Doktor Marcus ist der Präsident
der jüdischen Akademie... Ich habe meinen lieben Gästen soeben einiges von
der Akademie erzählt. Lord Sudbury wußte ja das meiste schon, aber diesem
Herrn, obwohl er ein Jude ist, war alles neu."
"Wie ist es möglich?" fragte Doktor Marcus.
Friedrich berichtete mit wenigen Worten seine Schicksale. Der Präsident
der Akademie hörte mit leisem Kopfschütteln zu. Dann sagte er:
"Vor zwanzig Jahren! Ja, ja, ich begreife Ihre Verwunderung. Und doch war
schon alles vorhanden. Erinnern Sie sich der Worte des Koheleth: Was ist's,
das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist's, das man getan
hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter
der Sonne..."
"Erlauben Sie, mein lieber Präsident!" schrie Steineck auf. "Das ist denn
doch wohl nur cum grano salis zu verstehen. Alles, was ist, war noch nicht
da, und alles, was kommen wird, liegt noch nicht hinter uns. Ich erinnere
Sie nicht an Koheleth, aber, an Stockton-Darlington. Sie verstehen?"
"Was ist das mit Stockton-Darlington?" erkundigte sich Lord Sudbury.
"Meinen Sie die erste Eisenbahnlinie der Welt, die George Stephenson vor
hundert Jahren baute?"
"Ganz recht, Mylord!" rief der Professor. "Wir haben in unserer Akademie
vor einigen Tagen den Beschluß gefaßt, der gesamten zivilisierten Welt einen
Vorschlag zu machen. Es soll im Jahre igaö die Feier von Stephensons Tat
begangen werden, und zwar in würdiger Weise. Es sollen nämlich in der
Minute, wenn die hundert Jahre voll sind, alle eben fahrenden Lokomotiven
auf allen Linien der Erde drei lange Signalpfiffe ertönen lassen. Das ist
die Stockton-Darlington-Feier, die wir proponieren. In der ganzen Welt
werden die Menschen, die in dieser Minute- im Kupee sitzen, an Stephenson
denken müssen, an den Bringer der neuen Zeit... Sie werden mir zugeben, mein
guter Präsident, daß die Weisheit des Koheleth zwischen Stockton und
Darlington entgleist."
Doktor Marcus entgegnete freundlich:
"Das gebe ich gern zu, um so lieber, als ich es gar nicht bestritten
habe. Ich dachte nur an die Koexistenz der Dinge, die mich oft beschäftigt.
Es ist der Gedanke meiner Ruhe, meiner Beruhigung. Die Jahre oder Monate
oder Tage, die ich noch im Lichte zu verbringen habe, sind mir darum
angenehm. Ich sage keineswegs: sie gefallen mir nicht. Es ist mein Trost,
daß alle Dinge, die waren, da sind. Auch das Künftige ist schon vorhanden,
und ich kenne es: es ist das Gute. So komme ich aus denselben
Voraussetzungen zu- einem anderen Schlüsse als der Prediger, der Sohn
Davids, der über Israel König war zu Jerusalem. Aber vielleicht hat auch der
Prediger Salomo dasselbe gemeint, obwohl er sagte, daß alles ganz eitel sei,
und obwohl er fragte, was der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe unter
der Sonne habe. Alles ist eitel, jawohl, wenn wir es aus dem vergänglichen
Gesichtspunkte unserer Person ansehen. Aber es ist nicht eitel, wenn wir
imstande sind, unsere eigene Person davon hinwegzudenken. Dann sind sogar
meine Träume ewig, denn andere werden sie träumen, wenn ich nicht mehr da
bin. Schönheit und Weisheit gehen nicht verloren, auch wenn ihre
Hervorbringer sterben. Gleichwie es keinen Gebildeten gibt, dem die
Erhaltung der Energie unbekannt ist, so müssen wir uns auch von dem
Lehrsatze durchdringen lassen, daß es eine Erhaltung der Schönheit und
Weisheit gibt. Ist etwa die Kunst der heiteren Griechen vergangen? Nein, sie
wird in anderen Zeitaltern immer wieder neu geboren. Sind die Sprüche
unserer Weisen etwa erloschen? Nein, sie leuchten fort, wenn sie auch am
Tage des Glückes weniger sichtbar sind als in der Nacht des Unglücks. Darin
gleichen sie allen Flammen... Und was folgt daraus? Daß wir es uns sollen
angelegen sein lassen, die Schönheit und Weisheit auf dieser Erde zu
vermehren, bis zu unserem letzten Augenblick. Denn die Erde sind wir selbst.
Wir sind von ihr und kehren wieder zu ihr hin. Sagt es doch schon Koheleth,
und dem haben wir auch heute nichts hinzuzufügen: Die Erde bleibet aber
ewiglich!..."
Nach den Worten des Doktor Marcus' schwieg man ein Weilchen. Jeder gab
sich seinen Gedanken hin. Und in dieser Stille hörte man auf einmal den
Gesang einer Frauenstimme, die durch Mauern und Türen gedämpft herausklang.
Nun wollte erst recht keiner mit lauter Rede stören.
"Wer ist die Sängerin?" sagte Friedrich flüsternd.
"Wie, Sie wissen es nicht?" entgegnete Isaaks. "Fräulein Mirjam!" Der
Meister erhob sich und schritt in den Säulengang. Er öffnete geräuschlos die
Tür des Musikzimmers, in das die beiden Damen sich vorhin zurückgezogen
hatten. Jetzt kam der herrliche Gesang voll heraus. Mirjam, die sich nicht
belauscht wußte, sang der Lady Lillian Schumann und Rubinstein und Wagner,
Verdi, Gounod — die Musik aller Völker vor. Unerschöpflich flössen die
Melodien, und eine Seligkeit überkam den zuhörenden Friedrich im Kreise
dieser erlesenen Geister, die still und hoch das Leben in den edelsten
Formen verwirklichten: in Schönheit und Weisheit. Als aber die Sängerin
Mirjam das Lied anhub, das er immer sehr geliebt hatte, das sehnsuchtsvolle
Lied aus Mignon:
"Kennst
du das Land, wo die Zitronen blühn..." da sagte Friedrich halblaut vor sich hin:
"Dies ist das Land!"