AUF DEN ACHTEN TAG NACH EICHENSTAMMS FEIERLICHEM BEGRÄBNIS war der
Kongreß der neuen Gesellschaft zur Wahl eines Präsidenten einberufen.
Die Delegierten, an die vierhundert, Frauen und Männer, waren schon am
Abend vorher fast vollzählig eingetroffen. In vielen Klubs und Gasthäusern
fanden hitzige Besprechungen statt. Soviel sich an diesem Vorabend erkennen
ließ, lag die Wahl zwischen Dr. Marcus, dem Präsidenten der Akademie, und
Joseph Levy, dem Generaldirektor der neuen Gesellschaft. Die Aussichten der
beiden waren ungefähr gleich. Wenn man nun annahm, daß mehrere weniger
ernste Kandidaten einen Teil der Stimmen im ersten Wahlgange auf sich lenken
würden, so durfte man vermuten, daß keiner die absolute Majorität erreichen
und eine Stichwahl zwischen Marcus und Levy nötig sein wird.
Joseph Levy war übrigens von seiner Europareise noch gar nicht
zurückgekehrt. Man erwartete ihn stündlich. Es gab Leute, die behaupteten,
er wolle eine Wahl zum Präsidenten überhaupt nicht annehmen. Andere wieder
sagten, dieses Gerücht werde nur von den Anhängern des Dr. Marcus
ausgesprengt. Kurz, es entwickelte sich das Treiben, das man überall in der
Welt um eine Wahl herum beobachten kann: Schliche der Parteigänger, Lärm,
Zank, Scherz und Ernst. Kingscourt unterhielt sich dabei ausgezeichnet.
Aber am Morgen des Wahltages kam David mit bestürzter Miene in Friedrichs
Zimmer.
"Sie müssen ohne mich in das Kongreßhaus gehen, meine Herren. Ich habe
eine Depesche erhalten, die mich nach Tiberias ruft. Meine Mutter..." Sein
Blick verdunkelte sich und seine Stimme brach: "Der Zustand meiner Mutter
hat sich verschlimmert. Ich reise mit Mirjam sogleich nach Tiberias. Meine
Frau wird mit Fritzchen später nachkommen."
"Sollen wir nicht mit Ihnen fahren, lieber Littwak?" fragte Friedrich
teilnehmend.
"Ach, Sie können ja nicht helfen. Ich fürchte, da kann niemand mehr
helfen... Bleiben Sie ruhig beim Kongreß — für Sie wird es immerhin ein
Erlebnis sein. Was aber mich betrifft, mir ist das alles gleichgültig
geworden. Mögen sie wählen, wen sie wollen."
Kingscourt sagte:
"Wir werden Ihre Frau und Fritzchen später nach Tiberias begleiten."
"Danke!" erwiderte David. "Ich habe nur die eine Bitte, daß Sie niemand
etwas von meiner Abreise sagen. Es gibt Momente, wo einem auch die Freunde
zu viel sind. Man würde mich mit Erkundigungen bestürmen! Ich will allein
sein... Leben Sie wohl!"
"Ich wünsche Ihrer Mutter eine baldige Besserung!" sagte Friedrich.
David zuckte traurig die Achseln:
"Ich weiß, wie die Besserung aussehen wird. Leben Sie wohl!"
Nach Davids und Mirjams Abreise fuhren die Freunde nach dem Kongreßhause.
Blauweiße, wegen Eichenstamms Tod umflorte Fahnen wehten, und eine große
Menschenmenge wogte um das monumentale Gebäude.
Der Raum, in welchem die Wahl stattfinden sollte, war ein weiter, hoher,
ernster Marmorsaal mit Oberlicht, das durch eine matte Glasdecke
hereindrang. Die Bänke waren noch leer, denn die Delegierten hielten sich
vor der Sitzung in den Vorsälen, Wandelgängen und Kommissionszimmern auf. Es
ging heiß her, wie ab und zu einer auf die Galerien melden kam.
Die Galerien aber waren schon dicht gefüllt. In den Logen sah man mehr
Damen als Herren. Gedämpfte Farben herrschten in der Frauentracht vor, denn
es war noch die Trauerzeit für Eichenstamm. Nur in der Loge neben Kingscourt
und Friedrich saßen einige Damen in sehr hellen Kleidern und mit schreiend
bunten Hüten. Es waren die Damen Weinberger, Mutter und Tochter, die alte
und die junge Laschner, Herr, Frau und Fräulein Schlesinger, und Dr. Walter,
Schiffmann, auch Grün und Blau, die Humoristen, fehlten nicht. Am liebsten
wäre Friedrich auf und davon in eine andere Loge gegangen, aber es gab
nirgends mehr einen Platz. Auch wollte Kingscourt diese Nachbarschaft, die
ihn höchlich amüsierte, nicht aufgeben, Sie hörten alles, was in der
Nebenloge geredet wurde. Vom an der Brüstung saßen die Damen und Herr
Schlesinger, der Vertreter der Barone von Goldstein.
Der wortwitzige Herr Grün, der Mann mit den "uneingesäumten" Ohren,
sagte:
"Also das ist der Kongreß? Mir scheint, mehr Kohn als greß. Obwohl einem
auch gräßlich zumut sein kann, wenn man ein Kandidat ist, was durchfallt."
"Ich hab' gehört, Marcus wird durchfallen," erklärte Herr Schiffmann.
"Woher wissen Sie das?" fragte der Vertreter der Barone von Goldstein.
"Mir is es, unter uns gesagt, ganz einerlei."
Schiffmann lächelte geheimnisvoll:
"Ich hab' meine Informationen. Alles soll man wissen, nix soll man
brauchen."
Blau bemerkte neidisch:
"Schiffmann is imstand und spielt auch damit auf der Börse."
"Das möchte ich wissen, wie sich diese Wahl in Hausse oder Baisse
ausdrücken soll," erkundigte sich Dr. Walter.
"Sehr einfach," meinte Schiffmann; "Levy ist ein unternehmender Kopf,
also gibt es unter ihm mehr Geschäfte, also Hausse. Hingegen ist Marcus mehr
eine beschauliche Natur, also nix zu handeln, also Baisse."
"GroßartigI" höhnte Blau, "wenn ich einmal vierundzwanzig Stunden so
wenig Verstand hätt', wie Sie, Herr Schiffmann, hätt' ich ausgesorgt für
mein Leben."
Schiffmann wehrte sich:
"Es ist besser, daß Sie mehr Verstand haben wie ich, denn sonst könnten
Sie nicht auf Hochzeiten Spaß machen gehen."
"Wer sind denn die Leute, die dort beim Maler Isaaks sitzen?" fragte
Ernestine Weinberger über die Logenwand hinweg Friedrich. "Ich sah vorhin,
daß Sie sich grüßten."
"Das ist Lord und Lady Sudbury."
Frau Laschner mischte sich ein:
"Man sieht auf Ehre, daß sie ist mindestens eine Lady. Auf Ehre! Den Hut
hat sie sich gewiß in Paris gemacht."
Dr. Walter wurde feierlich:
"Die Anwesenheit solcher Personen beweist immerhin, daß unsere
Einrichtungen das Interesse auch besserer Kreise erwecken."
Friedrich neigte sich zu Kingscourts Ohr:
"Wenn ich diese Leute höre, möchte ich wieder mit Ihnen auf unsere Insel
zurückkehren."
"Hohoh, ein Rückfall!... Da bin ich doch schon weiter. Ich weiß, daß es
in jedem besseren Tiergarten auch einen Affenkäfig jeben muß. So auch im
Menschengarten."
Jetzt begann es unten im Saale lebhaft zu werden. Einzelne Delegierte
suchten ihre Plätze auf. Auf den Stufen zwischen den im Halbkreise
ansteigenden Bankreihen bildeten sich Gruppen.
Auf der Rechten, in einem Knäuel weiblicher Delegierten, sahen die
Freunde Mrs. Gothland sitzen. Sie schien ihren Zuhörerinnen eine kleine
Agitationsrede zu halten. Es war bekannt, daß Mrs. Gothland zu den
Parteigängern des Dr. Marcus gehörte. Daß der Architekt Steineck für Joe
Levy hitzig eintrat, konnte man leicht wahrnehmen, wenn man ihn jetzt am
Fuße der Rednertribüne gestikulieren sah und aus dem wachsenden
Stimmengebrause seine schrille Stimme heraushörte: "Tschoh! Tschoh!"
Reschid Bey kam zu Kingscourt und Friedrich. Er brachte das Neueste aus
den Couloirs: die Wahl Joseph Levys sei nahezu gesichert. Er werde schon im
ersten Wahlgange durchdringen. Er sei nämlich im ganzen Lande, dessen
Aufblühen ja seiner Energie zu danken war, volkstümlich, und die Delegierten
wollten in der Mehrzahl darauf Rücksicht nehmen. Marcus hingegen stehe doch
nur den Höhergebildeten nahe. Joseph Levy sei übrigens heute morgen von der
Reise zurückgekehrt und werde selbstverständlich in den Kongreß kommen.
"Den Mann müssen Sie mir schleunigst zeigen, wenn er kommt, jeliebtester
Pascha," sagte Kingscourt. "Scheint nach alledem ein schneidijer Kerl zu
sein. Ich bin begierig, mit welcher Art Anstand er unter sein versammeltes
Kriegsvolk tritt."
Im "Affenkäfig", wie Kingscourt gescherzt hatte, machte man indessen
weiter Glossen und Witze. Je mächtiger das Bild der Versammlung wurde, um so
schlechter wurde die Laune einzelner im Affenkäfig, als wäre dieser
Zusammentritt befreiter, selbstbewußter Menschen für sie da oben eine
persönliche Beleidigung.
Herr Schlesinger, der Vertreter der Barone von Goldstein, ließ sich
vernehmen:
"Na also! Jetzt sieht man doch, auf was es herausgegangen ist. Der eine
hat die Stelle und der andere jene Stelle haben wollen. Jetzt haben sie sie.
Jetzt ist die Judenfrage gelöst."
Herr Dr. Walter hatte schon die ganze Zeit gierig in den Saal
hinuntergeblickt, in dem leider für ihn kein Platz war, und er entgegnete
dem übrigens hochgeschätzten Goldstein'schen Vertreter:
"Entschuldigen Sie, verehrter Herr Schlesinger, wenn ich da ein wenig
widerspreche. In dem Erstreben eines Mandates von seinesgleichen kann ich an
und für sich nichts Unschönes erblicken. Es kann ja im einzelnen Fall etwas
Unschönes sein, gewiß haben Sie da recht. Und ich begreife, daß ein Mann wie
Sie, der einige dreißig Jahre im Hause Goldstein tätig ist, strenge
Anforderungen an die Menschen stellt. Aber schließlich: warum soll man sich
nicht um ein Amt in der neuen Gesellschaft bemühen?"
"Wenn es etwas einträgt!" ergänzte der Spaßmacher Herr Blau, und er
fügte, als er das ermunternde Lächeln Schlesingers bemerkte, hinzu: "Aber
ich glaube, Herr Dr. Walter, da hätten Sie früher aufstehen müssen, wenn Sie
hätten eines bekommen wollen."
Dr. Walter wurde rot vor Zorn und brummte dem Spötter zu:
"Sie haben, Herr Blau, schon lange keine fremde Hand im Gesicht gehabt."
Aber Schiffmann stiftete Frieden, indem er die Empfindungen aller in die
wehmütigen Worte zusammenfaßte:
"Mir scheint, wir haben alle die Überfuhr versäumt. Wir stehn schon
wieder alle und sehn beim Gitter heraus, wo die freien Menschen sein. Es is
mir gegangen so seit meiner Jugend — wo ich immer bin hingekommen, hab' ich
nur Schlesinger und Laschner, Grün und Blau getroffen. Es is ein Pech..."
Ein Glockenzeichen ertönte. Das kündigte das Erscheinen des
Kongreßpräsidiums an. Die Galerien wurden mit einem Schlage still, und auch
der Affenkäfig verstummte.
Die Delegierten strömten zu allen Türen herein in den Saal.
"Der dort ist Joe Levy," sagte Reschid Bey und zeigte hinunter. "Der mit
dem buschigen grauen Schnurrbart und der Glatze. Der jetzt dem Architekten
Steineck die Hand gibt."
Sie sahen ihn. Es war ein hagerer Mann von Mittelgröße, sehr gebräunt im
Gesicht und an der Stirn bis an die Hutlinie, sehr rasch und energisch in
seinen Bewegungen. Er drückte viele Hände, weil sich die Delegierten an ihn
herandrängten, um den Heimgekehrten zu begrüßen. Den Ferneren nickte er
lächelnd zu, winkte wohl auch mit erhobener Hand. Er sah unbefangen und gar
nicht feierlich aus.
Ein zweites längeres Glockenzeichen. Alle nahmen ihre Plätze ein, hinter
dem erhöhten Sitz des Präsidiums öffneten sich beide Flügel der vergoldeten
Tür, und der Vorsitzende des Kongresses erschien mit seinem ganzen Bureau.
Vor allen Dingen hielt er dem hingegangenen Präsidenten der neuen
Gesellschaft einen schönen Nachruf, den alle stehend anhörten. Dann
verkündigte er:
"Wir haben uns heute versammelt, um einen neuen Präsidenten zu wählen."
Da ertönte zum allgemeinen Erstaunen die Stimme Joseph Levys, der in der
dritten Bank im Zentrum saß:
"Ich bitte ums Wort!"
Der Vorsitzende sprach:
"Herr Joseph Levy hat das Wort."
Ein leichtes Brausen stieg aus dem Saal auf, während Joe Levy mit
elastischem Schritt der Rednertribüne zustrebte. Was hatte er vor? Jetzt war
er oben:
"Geehrte Kongreßmitglieder ! Ich habe nur eine kurze Erklärung abzugeben.
In meiner Abwesenheit waren einige meiner Freunde so freundlich, meine
Kandidatur aufzustellen. Sie haben mich vorher nicht befragt, ob es mir auch
recht ist."
Kleiner Lärm in den Reihen der Marcuspartei: "Hört, hört!"
Architekt Steineck schrie:
"Ausreden lassen!"
Joe Levy wiederholte:
"Ich habe nur eine ganz kurze Erklärung abzugeben. Es ist für mich eine
hohe Ehre. Aber ich will dem Kongreß nicht die Mühe einer namentlichen
Abstimmung machen. Nach unserer Wahlordnung für die Präsidentschaft muß bei
Namensaufruf jeder Delegierte persönlich seinen Stimmzettel hier auf der
Tribüne abgeben. Dieser Vorbeimarsch dauert vier Stunden. Dann wird das
Skrutinium vorgenommen. Das dauert wieder zwei Stunden. Dann kommt es
vielleicht erst noch zu einer Stichwahl. Diesen Zeitverlust kann ich nicht
auf mein Gewissen nehmen. Schade um die Zeit. Denn ich bin fest
entschlossen, die Wahl, wenn sie auf mich fiele, nicht anzunehmen."
Jetzt lärmten wieder seine Anhänger: "Warum, warum?"
"Die Gründe, verehrter Kongreß, sind einfach. Ich fühle in mir noch die
Kraft, zu arbeiten, und wenn Sie mit mir zufrieden sind, so lassen Sie mich
weiterarbeiten. Wenn Sie mich wählen, schicken Sie mich eigentlich in
Pension. Ich glaube, dazu bin ich trotz meiner grauen Haare noch zu jung. Im
übrigen wird Ihnen Herr Dr. Marcus meine Meinung sagen. Ich habe ihn nämlich
heute früh gleich nach meiner Ankunft aufgesucht, weil er, wie ich hörte,
der Gegenkandidat ist. Wir haben uns verständigt. Wir sind nämlich nicht so
weit auseinander wie unsere beiderseitigen Freunde..." (Heiterkeit.) "Herr
Dr. Marcus wird Ihnen seine und meine Ansicht sagen — besser, als ich es
kann. Was mich anbelangt, bei meinem Entschluß bleibt es. Meine lieben
Freunde, ich danke euch für die Absicht! Geehrte Kongreßmitglieder, wählen
Sie mich nicht!"
Es entstand nun eine allgemeine Unruhe im Saal. Rufe des Unwillens, der
Überraschung, der Enttäuschung rauschten auf. Levy, der die Tribüne verließ,
wurde von seinen Anhängern umringt und mit Fragen bestürmt. Er lächelte und
zuckte die Achseln.
"Der Mann jefällt mir," sagte oben Kingscourt. "Reden kann er nicht, aber
ein nobler Kerl scheint er zu sein."
Anders wurde der Vorfall im Affenkäfig kommentiert.
"Die Trauben werden ihm zu sauer gewesen sein," vermutete Blau.
"Seine Nation is de Resignation," bemerkte Grün witzig.
Schiffmann aber sagte:
"Nu, Herr Schlesinger? Da is gleich einer, der kein Amt schnappen will.
Was sagen Sie jetzt?"
"Wie heißt, was ich sag'? Weiß ich denn, was ihm seine jetzige Stellung
eintragt? Wahrscheinlich kann er bestehen. Ein praktischer Mensch is er ja.
Wer weiß, was er abgemacht hat mit Marcus? Das müßte man auch wissen."
Friedrich hörte diese Bemerkungen und war empört, obwohl er dem Dr.
Marcus erst einmal begegnet war und Mr. Joe Levy heute zum ersten Male sah.
Er hatte nur den Wunsch, daß Kingscourt und Reschid Bey diese
Abscheulichkeiten nicht ebenfalls hören mögen. Er schämte sich des
Affenkäfigs. Zum Glück waren die beiden mit den Vorgängen im Saal
beschäftigt.
Der Vorsitzende läutete stark, um Ruhe zu schaffen für den
Akademiepräsidenten Marcus, der das Wort erbeten hatte. Dr. Marcus stieg
nicht ohne Mühe die wenigen Stufen hinan, und er wartete, bis der Saal ganz
ruhig war, sonst hätten sie seine schwache Stimme nicht vernommen. Jetzt war
lautlose Stille eingetreten, und er sprach:
"Geehrter Kongreß! Mein Freund Levy hat in seiner tüchtigen Weise- vom
Zeitsparen gesprochen. Ich glaube, wir werden mit der kostbaren Zeit der
neuen Gesellschaft gut zu Rate gehen, wenn wir uns vor allem verstehen. Erst
verstehen, dann entschließen!
Wir sind hier nicht, um ein Staatsoberhaupt zu wählen, denn wir sind kein
Staat.
Wir sind eine Gemeinschaft, in neuen Formen zwar, aber zu einem Zwecke,
der so alt ist, daß er schon im ersten Buche von den Königen vorkommt. Dort
heißt es, daß Juda und Israel sicher wohneten, ein jeglicher unter seinem
Weinstock und unter seinem Feigenbaum, von Dan bis gen Beer-Seba.
Wir sind einfach eine Genossenschaft, eine große Genossenschaft,
innerhalb deren es wieder eine Anzahl kleinerer Zweckgenossenschaften gibt.
Und dieser unser Kongreß ist im Grunde nichts als die Generalversammlung der
Genossenschaft, welche die neue Gesellschaft genannt wird. Dennoch aber
fühlen wir alle, daß es hier um mehr geht als um die rein materiellen
Interessen einer Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft. Wir pflanzen Parks
und Schulen, wir bekümmern uns über die gemeine Deutlichkeit und
Nützlichkeit der Dinge hinweg auch um die Weisheit und Schönheit. Denn auch
dies wird als ein Vorteil der Genossenschaft von uns verstanden. Wir
verstehen, daß für eine Gemeinschaft von Menschen das Ideal ein Nutzen, ein
Vorteil — sagen wir es heraus: daß es unentbehrlich ist. Das Ideal zieht uns
hinan. Auch diese Wahrnehmung haben wir nicht zuerst gemacht, sie ist alt
wie die Welt. Was für den einzelnen Wasser und Brot ist, das ist für die
Gesamtheit das Ideal. Und unser Zionismus, der uns hierherführte und höher
hinaufführen soll in noch unbekannte Regionen der Gesittung, er ist nichts
anderes als ein endloses, endloses Ideal.
Glaubt jemand, ich sei abgeschweift? Nein, Freunde, ich bin bei der
Sache, bei unserer Wahl. Der, den wir an die Spitze unserer neuen
Gesellschaft wählen sollen, der hat nur ein Pfleger des Ideals zu sein. Das
Materielle geht ihn nichts an, um so mehr das Ideale. Er soll dabei ein
ruhiger Mann, ein Gerechter und Bescheidener sein, entrückt dem Streite
augenblicklicher Meinungen. Wir wählen ihn ja auf sieben Jahre. Freund Levy
hat die Wahl abgelehnt, weil er in solchen sieben Jahren uns durch seine
Arbeit mehr glaubt nützen zu können. Ich pflichte ihm bei. Aber auch ich
lehne meine Wahl ab. Ich bin zu alt. Ich glaube nicht, daß ich die sieben
Jahre noch leben werde. Zu häufige Wahlen sind aber nicht gut, sie reizen
die Ehrbegierde in einer ungesunden Weise auf, sie führen zu persönlichen
Parteiungen. Wählen Sie mich nicht, ich bin zu alt. Ich habe nicht mehr die
Beweglichkeit des Körpers, vielleicht auch nicht mehr die des Geistes.
Vielleicht verstehe ich die Ideale jüngerer Menschen nicht mehr. Denn auch
das Ideal wird immer neugeboren, und es gibt Renaissancen, die unsereiner
nicht mehr begreift.
Aber Levy und ich wollen nicht nur Nein sagen. Wir wollen Ihnen auch
einen Vorschlag machen. Der Vorschlag ist von Levy, der sich auf die Auswahl
von Menschen versteht, und das empfiehlt den Vorschlag; ich habe ihm nur von
ganzem Herzen zugestimmt.
Der Mann, den wir Ihnen empfehlen wollen, ist noch jung, jünger als Levy,
viel, viel jünger als ich. Er ist einer von den neuen Menschen, welche diese
alte Erde wieder fruchtbar und schön machten. Er ist an der Seite seines
Vaters hinter dem Pfluge gegangen, er hat aber auch hinter den Büchern
gesessen. Er hat einen gesunden Sinn für das öffentliche Leben, ohne sich
hervorzudrängen. Ich sehe ihn jetzt nicht im Saal. Wenn er aber hier ist, so
ist er gewiß der Letzte, der meine Worte auf sich bezieht, so wahr ist seine
Demut. Er ist auch tüchtig in seinen eigenen Angelegenheiten. Er hat sich
aus den bescheidensten Verhältnissen ehrlich hinaufgearbeitet, ein
Emporkömmling ist er nicht. Und gerade, daß er von ganz unten aufgestiegen
ist, macht ihn uns wert. Wenn wir ihn wählen, so ehren wir nicht nur den
wackeren Mann, der er ist, wir eifern auch eine ganze Jugend zu den edelsten
Anstrengungen an, wir tun damit ein Werk von unermeßlicher Bedeutung für die
Zukunft unserer neuen Gesellschaft. Jeder Sohn Venedigs konnte Doge werden.
Jedes Mitglied der neuen Gesellschaft soll auf den höchsten Sitz gelangen
können."
Brausend erhob sich bei diesen Worten der Beifall im Hause. Viele riefen:
"Den Namen, den Namen! Wer ist es?" Dr. Marcus hob die Hand zum Zeichen, daß
er noch etwas hinzufügen wolle. Da wurde es still, und er sagte:
"Ich will den Namen unseres Kandidaten nicht von der Tribüne herab
nennen, weil es nach unserer hergebrachten Übung nicht angeht, den
Wahlkongreß zu einer Wahlbesprechung zu machen. Ich bitte den Herrn
Vorsitzenden, die Sitzung zu unterbrechen."
Dies geschah. In großer Bewegung verließen die Delegierten ihre Plätze.
Marcus und Levy wurden umringt. Sie standen den stürmisch auf sie
Eindringenden Rede. Sie nannten den Namen ihres Kandidaten. Die
Näherstehenden schrien ihn den Ferneren zu, in immer stärkeren Zurufen
schwirrte der Name durch den Saal, und nach wenigen Minuten kam er zu den
Galerien hinaufgeflogen, der Name — David Littwak.
"Donner und Gloria!" schrie Kingscourt begeistert.
Friedrich drückte ihm bewegt die Hand: "Und er sitzt jetzt am Sterbebett
seiner Mutter... Soll man es ihm telegraphieren?"
"Nee, mein Junge. Wir wollen was Jescheiteres tun. Der arme Kerl hat
jetzt jenug Aufregung mit seiner Mutter. Wozu sollen wir ihn noch mit der
Wahl quälen. Am Ende wird er jar nicht jewählt. Nehmen wir lieber den
nächsten Zug nach Tiberias. Bis die hier mit der Wahl fertig sind, können
wir dort sein. Dann treten wir ein und fragen einfach: Wohnt hier der
Präsident der neuen Jesellschaft, Herr Littwak?"
Reschid Bey wurde ins Vertrauen gezogen. Er solle ihnen das Resultat der
Wahl schleunigst nach Tiberias telegraphieren. Den Aufenthaltsort Davids
möge er aber bis nach der Wahl geheimhalten.
Im Affenkäfig wurde die Kandidatur Davids mit gemischten Gefühlen
aufgenommen. Grün und Blau machten schauerliche Witze.
Grün sagte: "Wer littwakt — gewinnt."
Blau erklärte: "Wenn ich das nächstemal auf die Welt komm', werd' ich
auch der Sohn von ä Hausierer."
Herr Schlesinger, der Vertreter der Barone von Goldstein, meinte
mißmutig: "Nu frag' ich Sie, kann man in eine solche Gesellschaft eintreten?
Das nennt sich die neue Gesellschaft."
"Und
wissen Sie, was wir sind?" rief plötzlich Schiffmann, in dem eine Reue mächtig
aufstieg. "Wir sind — eine schöne Gesellschaft."