[BUCH
BESTELLEN]
Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
FÜNFTES BUCH:
Jerusalem
Sechstes Kapitel
ALS KINGSCOURT UND FRIEDRICH IN DEN GASTHOF KAMEN, UM FRAU Sarah und
Fritzchen auf die Reise abzuholen, waren diese schon fort. Frau Sarah war
ihrem Gatten mit dem nächsten Zuge nachgeeilt. Es ging aber gleich wieder
ein Express nach Tiberias, und diesen benützten die Freunde. Im Wagen der
elektrischen Eisenbahn sitzend, schauten sie in die Landschaft hinaus, die
vorüberflog, und sie hielten auch eine Rückschau über die bisher
wahrgenommenen Einrichtungen von Altneuland.
Kingscourt war sehr überrascht, als Friedrich im Eifer dieses Gespräches
plötzlich sagte: "Ich möchte nach Europa hinüber."
"Was, Sie launenhafter Schlingel? Nun haben Sie das Land Ihrer
hebräischen Ahnen schon wieder satt bekommen?"
"Nein, mein lieber Kingscourt. Ich bin zu froh, daß Sie hierbleiben
wollen, und daß ich wenigstens noch versuchen kann, ein nützliches Mitglied
der neuen Gesellschaft zu werden. Vielleicht kann ich meine juristischen
Kenntnisse irgendwie verwerten? Vielleicht bekomme ich in irgendeinem Zweige
der Verwaltung eine Arbeitsgelegenheit? Aber ich möchte dennoch für kurze
Zeit nach Europa hinüber, um zu sehen, wie sich die Verhältnisse seither
dort gestaltet haben. Ich kann mir nämlich gar nicht vorstellen, daß in den
zwanzig Jahren unserer Abwesenheit nicht auch dort große Veränderungen
eingetreten seien. Wenn ich bedenke, daß wir hier eigentlich nur die schon
damals bekannten Materialien in einer neuen Ordnung wiedergefunden haben, so
muß ich glauben, daß ähnliches wie hier auch dort existieren muß. Die Worte
des Akademikers Marcus brachten mich auf diesen Gedanken. Er sagte: wir sind
kein Staat, sondern eine große Genossenschaft..."
"Die Jenossenschaft mit dem endlosen Ideal!" schmunzelte Kingscourt.
"Ich frage mich nämlich," fuhr Friedrich ernst fort, "ob wir da nicht bei
einer Antwort auf manche Frage unserer vergangenen Zeit stehen. Damals
sprach man viel vom Zukunftsstaate, qualmig taten es die einen, höhnisch die
anderen, grimmig die dritten. Das Ausmalen künftiger Zustände war in den
Augen der sogenannten praktischen Leute eine große Lächerlichkeit. Sie
vergaßen, daß wir immer in künftigen Zuständen leben, denn das Heute ist die
Zukunft von gestern. Man sah den unmöglichen Zukunftsstaat nur auf den
unwahrscheinlichen Trümmern der bisherigen Einrichtungen. Also ein
Weltuntergang, an den wirklich nur ein Hasenfuß glauben kann. Zuerst ein
Chaos, und dann irgend etwas, von dem es fraglich blieb, ob es besser wäre
als das Frühere. Aber derselbe Marcus sprach neulich ein Wort, welches mir
nachgeht: daß es eine Koexistenz aller Dinge gebe. Das Alte muß nicht mit
einem Ruck untergehen, damit das Neue entstehe. Nicht jeder Sohn ist ein
Posthumus, in der Regel leben die Eltern noch eine Zeitlang mit den Kindern
fort, und eine alte Gesellschaft geht noch nicht unter, weil eine neue
kommt. Seit ich hier gesehen habe, wie man mit lauter alten Materialien eine
neue Ordnung der Dinge errichtet, glaube ich weder an eine völlige
Zerstörung, noch an eine völlige Erneuerung der Institutionen. Ich glaube —
wie soll ich es nur sagen — an einen allmählichen Umbau der Gesellschaft.
Ich glaube auch, daß ein solcher niemals planmäßig, sondern zufällig vor
sich geht. Das Bedürfnis ist der Baumeister. Zur Auswechslung eines
Fußbodens, einer Stiege, einer Mauer, eines Daches, einer Wasserleitung,
einer Beleuchtungsform entschließt man sich erst, wenn die Not drängt oder
eine Erfindung siegt. Das Haus bleibt als ganzes, was es war. So kann ich
mir auch den Staat, den wir einst sahen, erhalten denken, auch wenn das Neue
hinzukam. Und dies möchte ich in Europa suchen ... Als wir damals von der
Kulturwelt Abschied nahmen, sahen wir schon überall neue Lebensformen
aufsprießen. Ich verstehe das Stockton-Darlington-Jubiläum. Damit hat alles
angefangen. Es ist die Feier der Entstehung einer anderen Zeit. Wie lange
war diese da, neben der früheren, sie durchdringend, von ihr durchdrungen —
und die klugen praktischen Leute sahen davon noch gar nichts. Die Grenzen
bestanden fort, aber die Menschen und Waren durchzogen die Welt. Und wo kam
man mit den Maschinen und auf der Eisenbahn überall hin! In andere
Verkehrs-, in andere Wirtschaftsverhältnisse. Das Alte lebte noch, und das
Neue war schon da. Die Genossenschaft der Kleinen, das Kartell der Großen —
die beiden Formen kannten wir schon. Warum sollten sich nicht auch die
Genossenschaften kartellieren, wenn es die einzelnen Fabrikanten tun
konnten? ... Es kam schon früher vor, daß vernünftige Unternehmer die
Fürsorge für ihre Arbeiter und deren Familien übernahmen. Jede große Fabrik
hatte ihre Wohlfahrtseinrichtungen, je größer das Unternehmen, um so größer
konnte die Wohlfahrt eingerichtet sein. Die Karlelle wieder konnten, wenn
sie wollten, das Los ihrer Arbeiter freundlicher gestalten, weil sie mehr
Mittel hatten als der einzelne Fabrikant und weil sie sturmfester
organisiert waren. Das weiß ich aus Ihren eigenen Erzählungen, Mr.
Kingscourt. Die amerikanischen Trusts haben ja Sie mich kennen gelehrt."
"Janz richtig. Und wo wollen Sie raus?"
"Ich meine, daß es eine notwendige Entwicklung war, wenn die
Produktivgenossenschaft sich gegenüber dem Einzelunternehmen bildete. Das
Betriebskapital war ursprünglich die schwache Seite dieser Genossenschaft,
aber die Möglichkeit, auch den Konsum zu organisieren, war ihre starke
Seite. Und die Genossenschaften mußten wachsen mit der allgemeinen Bildung.
Und ich meine endlich, daß die großen Trusts wohltätig wirken mußten, weil
sie den Weg bahnten zur Organisierung der Arbeit. Die Genossenschaften
konnten sich nach diesem Beispiel einmal kartellieren. Die neue
Gesellschaft, die wir hier gesehen haben, ist in meinen Augen nichts als ein
Kartell von Genossenschaften. Ein großes Kartell, das alle Geschäfte in sich
macht, die gemeine Wohlfahrt im Auge hat und aus lauter Nützlichkeit auch,
das Ideal pflegt. Ich möchte nun sehen, ob dergleichen jetzt auch schon in
Europa vorhanden ist."
"Wollen Sie vielleicht jar sagen, daß so 'ne neue Jesellschaft auch
anderswo möglich ist?"
"Ja, das will ich sagen. Diese neue Gesellschaft könnte überall
existieren, in jedem Lande, ja, es kann in jedem Lande mehrere solcher
Genossenschaftskartelle geben. Der Übergang zu dieser Form der Wirtschaft
ist ja denkbar, wenn es Genossenschaften und Kartelle gibt. Dabei braucht
der alte Staat keineswegs aufzuhören, er besteht vielmehr fort und schützt
die Entwicklung der neuen Gesellschaft, die ihm ja zugute kommt, die ihn
stärkt und erhält. Das ist die Koexistenz der Dinge, und daran glaube
ich..."
Da waren sie in Tiberias angelangt.
Sie eilten vom Bahnhof nach der Villa des alten Littwak. Ein Diener, der
sie an der Tür empfing, antwortete auf ihre Frage nach dem Befinden von
Davids Mutter mit einem traurigen Kopfschütteln. Zugleich übergab er
Kingscourt eine dringende Depesche, sie war soeben eingetroffen.
Kingscourt riß das Papier auf, indem er Friedrich bedeutsam anblickte.
Und wirklich, da stand es zu lesen:
"David Littwak ist vom Kongresse mit 363 von 395 abgegebenen Stimmen zum
Präsidenten der neuen Gesellschaft gewählt worden. Reschid."
Sie stiegen die Treppe hinan und kamen in den Salon, an den das
Krankenzimmer grenzte. Im Salon saß der alte Littwak mit Frau Sarah. Die Tür
stand offen, und sie konnten in die Leidensstube blicken. Sie sahen Davids
Mutter im Bett liegen. Das Antlitz der Dulderin war schon so bleich wie das
Kissen, von dem es sich abhob, doch sie lebte noch. Ihre sanften Augen waren
mit einem unendlich liebreichen Ausdruck auf ihre Kinder gerichtet, die am
Fußende des Bettes standen und leise mit ihr sprachen. Der Arzt saß an der
Seile des Bettes und betrachtete sie aufmerksam.
Kingscourt gab wortlos die eben erhaltene Depesche dem alten Littwak.
Dieser nahm das Papier teilnahmslos, starrte darauf, dann gab es ihm einen
Ruck. Er wischte sich die Augen mit dem Handrücken und las nochmals. Dann
reichte er es seiner Schwiegertochter, seine Stimme zitterte:
"Sarah, les' mir das vor!"
Frau Sarah überflog das Telegramm mit den Blicken. Sie wurde blutrot, es
schössen ihr die Tränen in den Augen, dann las sie es mit erstickter Stimme
dem Alten vor. Dann sprang sie auf, schwang das Blatt hoch und winkte damit
ihren Mann heran.
David kam auf den Fußspitzen heraus. Er sah Kingscourt und Friedrich im
Hintergrunde stehen, da nickte er ihnen kurz und ernst zu. Er wandle sich an
Sarah und sagte mit leisem Unwillen:
"Was gibt es denn?"
Sein Vater war aufgestanden und ging mit schwankenden Schritten auf ihn
zu:
"David, mein Kind — David, mein Kind!"
Die Frau hatte ihm das Telegramm gereicht. Er las es ruhig und runzelte
die Stirn:
"Nein, daß Reschid solche Scherze macht, hätte ich nicht geglaubt! Ich
bin wahrlich dazu nicht aufgelegt."
"Es ist kein Scherz!" erklärte Friedrich und berichtete den Hergang,
soweit er dessen Zeuge gewesen war.
"Nein, nein!" sagte David. "Wie komme ich dazu? Es ist ja gar nicht
möglich. Ich habe mich nicht beworben."
"Eben darum!" bestätigte Kingscourt.
"Ich eigne mich nicht dazu. Hundert andere sind eher berufen als ich. Und
ich nehme es auch nicht an. Bitte, telegraphieren Sie gleich an Marcus, daß
ich es nicht annehme."
Da sagte sein Vater stark:
"Du wirst es annehmen, David! Du mußt es annehmen — wegen deiner Mutter.
Es ist die letzte Freude, die du deiner Mutter machen kannst."
David bedeckte sich die Augen.
Mirjam trat aus dem Krankenzimmer:
"Was geht hier vor? Die Mutter ist unruhig; sie will wissen, was hier
vorgeht."
Und sie gingen an das Lager der Sterbenden.
"Mutter!" sagte der alte Littwak, "der Herr Doktor Löwenberg hat uns
etwas Gutes gebracht."
"Ja?" hauchte die Dulderin, ihre Züge verklärten sich. "Wo ist er? Ich
will ihn sehn. Man soll mich aufrichten."
Der Arzt holte Friedrich aus dem Salon, während Mirjam und David ihre
Mutter aufsetzten und ihren schmalen Rücken mit Kissen stützten.
Nun stand auch Friedrich an dem Bett. Die Mutter blickte ihn so gut an.
Sie murmelte:
"Ich — hab' — mir's — gleich gedacht — damals — wie ihr — am Balkon
war's... Da draußen... Kinder!..." Sie tastete schwach in der Luft herum.
"Mirjam hat mir — nichts gesagt... Aber — eine Mutter — sieht das ...
Kinder!... Ihr sollt euch — die Hand geben... Meinen Segen — meinen Segen !"
Und so geschah es, daß Mirjam und Friedrich einander die Hände reichten.
Aber sie taten es so zögernd und verlegen, daß es ihr auffiel. Da blickte
sie mit Angst von einem zum anderen und flüsterte:
"Oder — oder? ..."
"0 ja!" sagte Friedrich warm und drückte die Hand des Mädchens fester.
"Ja," sagte auch Mirjam leise.
So wahr ist es, daß eine Mutter, auch wenn sie schon ganz schwach und
hilflos ist, noch immer die Kraft hat, ihres Kindes Glück zu schaffen.
Sie lehnte nach dieser großen Anstrengung mit geschlossenen Augen in den
Kissen und atmete kaum noch. Da erschrak der Alte, daß sie entschlummern
könnte, bevor er ihr die Größe ihres Sohnes gemeldet hätte.
"Mutter!" schrie er laut. Sie öffnete noch einmal die Lider, und es war
ein Bedauern in ihrem Blick, daß man sie in dem schönen Traum störe, den sie
fein hinüberspinnen wollte — hinüber ...
"Mutter!" rief der Alte. "Wir müssen dir sagen etwas Großes. Weißt du,
wer geworden ist der Präsident von der neuen Gesellschaft? ... Unser David
ist geworden der Präsident! Mutter, unser David!..."
Da lag David wie als Knabe auf den Knien vor seiner kranken Mutter und
weinte bitterlich auf ihre wachsbleiche, erkaltende Hand. Sie aber zog die
Hand hervor und streichelte ihm sanft das Haar, als ob sie ihn hätte im
voraus trösten wollen.
"Mutter!" rief der Alte noch einmal angstvoll, "hast du gehört?"
"Ja!" hauchte sie, "mein — mein David..."
Und ihre Augen brachen.
Man begrub sie.
Man sang die alten hebräischen Gesänge, und der gute Rabbi Samuel von
Neudorf sprach die Gebete. Es wurde keine Grabrede gehalten. David hatte es
nicht gewünscht.
Aber als er mit den Freunden vom Friedhofe kam und im Trauerzimmer
niedersaß, da hielt er selbst ihr den Nachruf:
"Sie war meine Mutter. Sie war für mich die Liebe und das Leiden. Die
Liebe und das Leiden waren in ihr verkörpert, so daß mir die Augen
übergingen, wenn, ich sie nur sah. Ich werde sie nicht mehr sehen, und sie
war meine Mutter. Sie war unser Haus und unsere Heimat, als wir nicht Haus
noch Heimat hatten. Sie hielt uns aufrecht, als wir im Elend waren, denn sie
war die Liebe. Sie lehrte uns Demut, als es uns besser ging, denn sie war
das Leiden. Sie war in bösen und guten Tagen die Ehre, die Zierde unseres
Hauses. Als wir so arm waren, daß wir auf Stroh lagen, da waren wir doch
reich, weil wir sie hatten. Sie dachte immer an uns, und nie an sich. Unser
Haus war nur eine kümmerliche Stube, und es barg einen Schatz. Mancher
Palast hat keinen solchen Schatz. Das war sie, die Mutter. Sie war eine
feine Dulderin. Das Leiden beugte sie nicht, es erhöhte sie. Da habe ich sie
manchmal angeschaut als das Judentum in der Zeit der Leiden. In ihrer
Gestalt sah ich es. Sie war meine Mutter — und ich werde sie nicht mehr
sehen. Nie mehr, Freunde! Nie mehr. Und ich muß es tragen..."
Die Freunde hörten seinem Schmerze zu, und sie schwiegen.
Allmählich kamen ihrer mehr herein in das Trauergemach. Es waren alle da,
welche David Littwak und seinem Hause näherstanden.
Dr. Marcus begann das Gespräch hierhin und dorthin zu führen. Es war
erkennbar, daß er Davids Gedanken ablenken, ins Leben zurückgeleiten wollte.
Die Reden hatten einen ernsten und hohen Zug.
In dieser Stimmung warf Friedrich Löwenberg die Frage auf, die sie
nacheinander beantworteten. Jeder tat es in seiner Weise.
Dies aber war die aufgestellte Frage:
"Wir sehen hier eine neue, eine glücklichere Form des Zusammenlebens von
Menschen — wer hat das nun geschaffen?" Der alte Littwak sagte: "Die Not!"
Architekt Steineck sagte: "Das wiedervereinigte Volk!" Kingscourt sagte:
"Die neuen Verkehrsmittel!" Dr. Marcus sagte: "Das Wissen!" Joe Levy
sagte:
"Der Wille!" Professor Steineck sagte: "Die Naturkräfte!"
Der englische Prediger Hopkins sagte: "Die gegenseitige Duldung!"
Reschid Bey sagte: "Das Selbstvertrauen!" David Littwak sagte: "Die Liebe
und das Leiden!" Der alte Rabbi Samuel aber stand feierlich auf und sagte:
"Gott!"
Ende
NACHWORT DES VERFASSERS
... Wenn Ihr aber nicht wollt, so
ist es und bleibt es ein Märchen, was ich Euch erzählt habe.
Ich gedachte, eine Lehrdichtung zu verfassen. Mehr Dichtung als Lehre!
werden die einen sagen - - mehr Lehre als Dichtung! die anderen.
Denn jetzt, nach drei Jahren der Arbeit, müssen wir uns trennen, und es
beginnen deine Schmerzen, du mein liebes Buch. Durch Feindschaften und
Entstellungen hindurch wirst du deinen Weg nehmen müssen, wie durch einen
finsteren Wald.
Wenn du aber zu freundlichen Leuten kommst, so grüße sie von deinem Herrn
Vater. Er meint: das Träumen sei immerhin auch eine Ausfüllung der Zeit, die
wir auf der Erde verbringen. Traum ist von Tat nicht so verschieden, wie.
mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war vorher Traum und wird später zum
Traume.
|
[BUCH
BESTELLEN]


Grundlagentexte zum Zionismus
ALTNEULAND -
Der utopische Roman von Theodor Herzl
|