Ein Brief an Theodor Herzl
den Gründer der zionistischen Bewegung, der vor 100 Jahren starb
(Juli 1904)
Von Ilan Pappé
Lieber Dr. Herzl,
erlauben Sie mir, mit einer persönlichen
Bemerkung zu beginnen: ich fühle mich irgendwie Ihrer Welt nahe, da meine
Eltern aus Deutschland kamen - sie fanden, dank Ihrer Bemühungen, den Weg
nach Palästina. Andere Mitglieder meiner Familie waren von Ihrer Vision,
Palästina in einen jüdischen Staat zu verwandeln, nicht so beeindruckt:
einige blieben in Deutschland und wurden im Holocaust umgebracht; andere –
in der Tat die Mehrheit - wählte England, die USA oder Australien. Ihre
Voraussage, dass die Juden in Europa einem entsetzlichen Unglück entgegen
gehen, hat sich bestätigt. Ihre Lösung für die bevorstehende Katastrophe war
... aber genau darum geht es mir in diesem Brief.
Die Juden, die Osteuropa und die deutschsprachige Welt verließen, um in die
angelsächsische zu gehen, halfen – so möchte ich wenigstens glauben – der
Menschheit im allgemeinen und den Juden besonders, eine viel bessere Welt zu
gründen. Es ist keine perfekte Welt – weit entfernt davon – aber sie war
besser als die, die sich zwischen den beiden Weltkriegen auf dem
europäischen Kontinent entwickelte.
Doch haben Sie nie solch einen Weg empfohlen. Stattdessen waren sie von zwei
Ideen faszinierzt: vom Nationalismus und Kolonialismus. Sie wollten die
Juden nicht nur davor warnen, dass Assimilation und Integration (für sie) in
Europa nicht funktioniert – Sie wollten sie zu einer Nation wie alle anderen
machen. Ihre Wahl aus der Palette der Nationalismen war jedoch nicht der der
liberal-demokratischen Art, sondern eher der, der in Wien damals unter Ihren
Landleuten kursierte und die sich weigerten, Sie wie einen der ihren
aufzunehmen. Es war der schwärmerische / zelotische Nationalismus von Rasse
und Blut. Die Leute wurden nach ihrer Rasse und Religion ausgewählt, nicht
nach einer (eigenen) Wahl, Teil einer neuen Nation zu werden. Dieser
Nationalismus eines Fichte und seiner Freunde brachte die Nazi-Verwirrung
schließlich hervor; er säte auch wilden Messianismus in die Herzen der
frühen Zionisten und ihrer Nachfolger – und dies wurde mit den Jahren immer
schlimmer.
Ich schreibe Ihnen aus Haifa – es ist die Stadt, die Sie visionär als eine
Art Paris des jüdischen Staates gesehen hatten. Und ich sitze hier voller
Schrecken und denke darüber nach, was unsere nationalistischen Zeloten als
nächstes auf ihrer verheerenden Kampagne gegen wirkliche und eingebildete
Feinde erfinden werden. Ach, und Sie haben auch all den vorausgegangenen
Wahnsinn nicht mitbekommen, der im Namen dieser von Ihnen in die jüdische
Seele und Existenz eingeflößten Schwärmerei begangen wurde. Doch waren Sie
nicht nur ein Phantast, der seine privaten Träume in eine mächtige Ideologie
verwandelte. Sie waren – und das müssen Sie, lieber Theo zugeben – auch ein
Kolonialist. Als Sie die Karriere eines Stückeschreibers und Journalisten
verfehlten – übrigens waren Sie gar nicht so schlecht und ich bedaure mit
meinen palästinensischen Freunden, dass Sie so schnell aufgaben – gingen Sie
auf die wirkliche Bühne der hohen globalen Politik. Weil Sie die Chancen,
Europa zu reformieren, aufgaben, schlossen Sie sich der europäisch
imperialistischen Bemühung an, alle anderen, nur nicht die Europäer zu
reformieren.
Dies war Kolonialismus – in Ihrer Zeit ein volkstümlicher und anerkannter
Terminus. Sie benutzten oft, wenn Sie den Gesamtplan des Zionismus
beschrieben, oft den Ausdruck „Palästina kolonisieren“. Ich kann Ihnen aus
persönlicher Erfahrung sagen, falls Sie in meiner Universität eine
Dissertation über den frühen Zionismus geschrieben und diesen Terminus zu
seiner Beschreibung verwendet hätten, dann wären Sie sofort disqualifiziert
und hinausgeworfen worden. Sie sehen, dass nach Ihrem Tod der Kolonialismus
seine PR-Kampagne verloren hat. Er wurde zum Synonym für Unterdrückung,
Vertreibung und Zerstörung. Dies ist übrigens genau das, was der
zionistische Kolonialismus der einheimischen Bevölkerung von Palästina
aufgebürdet hat. Dennoch wird dies im jüdischen Staat, den Sie aufzubauen
mithalfen, abgestritten und verdreht. Nachdem Sie den zelotischen
Nationalismus mit dem Kolonialismus den Seelen der Leute ohne Land eingaben,
die in ein Land mit vielen Menschen kamen, ist vielleicht ethnische
Reinigung die unvermeidliche Folge, so wie sie sich dann tatsächlich 1948
ereignete. Bis zu jenem Jahr waren die Zionisten unter dem britischen Mandat
eine Minorität innerhalb der palästinensischen Kolonie – und deshalb
außerstande, solch einen Plan auszuführen. Aber die Führer der Bewegung
konnten warten und hatten (im Rückblick) recht getan, sich mit den Britten
zu verbünden, wie Sie empfohlen hatten.
Als dann das Mandat zu Ende war, nahmen unsere Vorfahren scheinbar einen
Ihrer seltenen Kommentare über das vorgesehene Schicksal der einheimischen
Bevölkerung im begehrten Zion ernst. Sie schlugen vor, dass die Eingeborenen
„unbemerkt“ und „ behutsam“ vertrieben werden. Öffentlich sprachen Sie
jedoch von dem Wunsch, die Interessen der „eingeborenen Bevölkerung“ zu
berücksichtigen. Nun, mit diesem Ausspruch versorgten Sie die zionistische
Aktion von 1948 mit Doppelzüngigkeit. Während die zionistischen Führer laut
ihren Wunsch verkündeten, die Palästinenser mit allem Notwendigen zu
versorgen, befahlen sie die Vertreibung der Palästinenser.
Sie haben nicht hebräisch gesprochen – aber Sie erfanden den zionistischen
Diskurs. Das ist wirklich ein Erfolg, glauben Sie mir. Seit Jahren führt er
die Welt an der Nase herum und verbirgt die fortdauernde Zerstörung
Palästinas. .... Auf jeden Fall trieben die Juden 1948 die Araber nicht
diskret aber tatsächlich von den meisten unbemerkt in die „Wüste“ und
säuberten Palästina von seiner lokalen Bevölkerung. Es wird Zeit, Schluss zu
machen, lieber Herzl. Der Rest - so sagt man - ist Geschichte. Und was jetzt
geschieht, ist nicht besser – im Gegenteil, es wird schlimmer. Falls Sie
jemals mehr wissen wollen, kann ich Ihnen im nächsten Brief mehr erzählen.
Doch bevor ich schließe: ich hoffe, Sie sind nicht beleidigt, wenn ich Ihnen
eine Frage stelle, die mich sehr umtreibt. Warum Ihnen? Rund um Sie gab es
hervorragende Juden, die Humanisten, Intellektuelle und Visionäre waren.
Keiner von ihnen ist ein Zionist geworden, und leider ist keiner von ihnen
ein Vorbild für die Juden geworden, die in Palästina einen Staat
errichteten, (tatsächlich wurden diese von meinem inzwischen verstorbenen
Freund, dem herausragenden palästinensischen Intellektuellen Edward Said,
mehr bewundert als irgend ein Intellektueller im modernen Staat Israel.)
Ich warte auf Ihre Antwort.
Ilan Pappe
News from Within, AIC, Vol.XX No 5
/ ZNet 01.08.2004, Übersetzt von: Ellen Rohlfs
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