Ausschau nach Alternativen
Antwort auf Uri Avnerys Artikel "Das Bett von Sodom"
Von Ilan Pappé
Uri Avnery klagt die Unterstützer der
Ein-Staat-Lösung an, die Fakten in das Bett von Sodom zu zwingen. Er
scheint, diese Leute bestenfalls als Tagträumer zu betrachten, die nicht die
politische Realität um sich herum begreifen und die in einem ständigen
Zustand des Wunschdenkens verharren. Wir sind alle alte Kameraden auf der
israelischen Linken und deshalb ist es schon möglich, dass wir in Momenten
der Verzweiflung in die Falle geraten, zu halluzinieren, zu phantasieren und
dabei die unerfreuliche Realität um uns herum zu ignorieren.
Und deshalb mag die Metapher des Sodomer Bettes sogar für jene passen, die –
auf ihrer Suche nach einer Lösung in Palästina - vom südafrikanischen Modell
inspiriert werden. Aber in diesem Fall ist es ein Kinderbettchen von Sodom,
verglichen mit dem königlichen Bett, in das Gush Shalom - und andere
ähnliche Mitglieder der zionistischen Linken - bestehen, ihre
Zwei-Staatenlösung zu drücken. Das südafrikanische Modell ist jung –
tatsächlich ist es kaum ein Jahr her, seit dies ernsthaft betrachtet wurde –
während die Formel der zwei Staaten 60 Jahre alt ist: eine erfolglose und
gefährliche Illusion, die Israel in die Lage versetzte, mit der Besatzung
fortzufahren, ohne nennenswerte Kritik von der internationalen Gemeinschaft
zu erhalten.
Das südafrikanische Modell passt gut für eine vergleichende Studie – aber
nicht als Objekt falschen Wetteiferns. Einige Kapitel in der Geschichte der
Kolonisierung Süd-Afrikas und der Zionisierung Palästinas sind tatsächlich
identisch. Die herrschende Methode der weißen Siedler in SA ähnelt sehr der,
die die zionistische Bewegung und – seit Ende des 19. Jahrhunderts - Israel
gegenüber der einheimischen Bevölkerung Palästinas angewandt hat. Seit 1948
war die offizielle israelische Politik gegen einige Palästinenser sogar
nachsichtiger als das Apartheidregime - gegen andere Palästinenser dagegen
noch rabiater.
Vor allem aber inspiriert das südafrikanische Modell jene, die sich mit der
palästinensischen Sache in zwei wichtigen Richtungen befassen: die
Einführung des einen demokratischen Staates, der eine neue Orientierung für
eine zukünftige Lösung anbietet, anstelle einer Zwei-Staaten-Formel, die
fehl geschlagen ist, und es belebt ein neues Nachdenken, wie die israelische
Besatzung besiegt werden kann – durch Boykott, Divestment und Sanktionen
(die BDS-Option).
Die Fakten vor Ort sind glasklar: die Zwei-Staaten-Lösung ist schmählich
fehlgeschlagen, und wir haben keine Zeit zu verschwenden mit sinnloser
Vorfreude einer anderen illusorischen Runde diplomatischer Bemühungen, die
nirgendwo hinführen. Wie Avnery zugibt, ist es dem israelischen
Friedenslager nicht gelungen, die israelisch-jüdische Gesellschaft davon zu
überzeugen, den Weg des Friedens zu gehen. Eine nüchterne und kritische
Einschätzung von der Größe und Macht dieses Lagers führt zu dem
unvermeidlichen Schluss, dass es keine Chance gegen den vorherrschenden
Trend in der israelischen Gesellschaft hat. Es ist zweifelhaft, ob es
überhaupt seine sehr kleine Präsenz halten kann. Ja, es besteht die Sorge,
dass sie überhaupt verschwindet.
Avnery ignoriert diese Fakten und behauptet, dass die Ein-Staat-Lösung ein
gefährliches Allheilmittel ist, das man einem schwer kranken Patienten
verabreicht. Lasst uns dies also in mehreren Stufen beschreiben. Aber nehmen
wir dem Patienten – um Himmels willen - die sehr gefährliche Medizin, die
wir ihn 60 Jahre lang zu schlucken gezwungen haben und die ihn fast getötet
hat.
Um des Friedens willen ist es wichtig, unsere Untersuchung auf das
südafrikanische Modell und andere historische Fallstudien auszudehnen. Auf
Grund unseres Fehlschlages sollten wir jeden anderen erfolgreichen Kampf
gegen Unterdrückung studieren. All diese historischen Fallstudien zeigen,
dass die Kämpfe von innen und von außen einander stärken und sich nicht
gegenseitig ausschlossen. Selbst als die Sanktionen über Südafrika verhängt
wurden, setzte der ANC seinen Kampf fort und die weißen Südafrikaner hörten
nicht mit dem Versuch auf, ihre Landsleute davon zu überzeugen, das
Apartheidsystem aufzugeben. Aber es gab keine einzige Stimme, die auf
Avnerys Artikel eingeht, die behauptet, dass eine Strategie des Druckes von
außen falsch ist, weil es die Möglichkeiten der Veränderungen von Innen her
schwächt. Besonders wenn die Misserfolge des Kampfes innen so deutlich und
offensichtlich sind. Sogar als die De Klerk-Regierung mit dem ANC schon
verhandelte, wurden die Sanktionen fortgeführt.
Es ist auch schwer verständlich, warum Avnery die Bedeutung der
Weltöffentlichkeits-meinung so unterbewertet. Ohne die Unterstützung dieser
Weltöffentlichkeitsmeinung, die der zionistischen Bewegung zuteil wurde,
wäre es nicht zur Nakba gekommen. Hätte die internationale Gemeinschaft die
Idee der Teilung zurückgewiesen, hätte ein einheitlicher Staat das
Palästina-Mandat ersetzt, was tatsächlich der Wunsch vieler Mitglieder der
UN war. Doch diese Mitglieder haben dem starken Druck der USA und der
zionistischen Lobby nachgegeben und ihre vorige Unterstützung für solch eine
Lösung zurückgezogen. Und wenn die internationale Gemeinschaft ihre Position
heute ändern und ihre Haltung gegenüber Israel neu überdenken würde, würden
die Chancen einer Beendigung der Besatzung enorm wachsen und auf diese Weise
helfen, das Blutvergießen zu beenden, das nicht nur die Palästinenser,
sondern auch die Juden selbst betrifft.
Der Ruf nach einer Ein-Staat-Lösung und die Forderung nach Boykott,
Divestment und Sanktionen sollten als eine Reaktion gegen den Fehlschlag der
vorigen Strategie verstanden werden, die zwar von der politischen Klasse
aufrecht erhalten wurde, aber niemals vom Volk selbst unterstützt wurde. Und
jeder, der das neue Denken kurzerhand und auf solch kategorische Art
zurückweist, mag sich weniger beunruhigen an dem, was mit dieser neuen
Option falsch läuft, als über seinen eigenen Platz in der Geschichte. Es ist
tatsächlich schwierig, persönliche oder kollektive Fehler zuzugeben. Aber um
des Friedens willen ist es zuweilen notwendig, sein eigenes Ego beiseite zu
stellen. Ich neige dazu, in dieser Weise zu denken, wenn ich das falsche
Narrativ von Avnery lese, das er sich über das Erzielte der israelischen
Friedensbewegung zusammendenkt. Er verkündet, dass die Anerkennung der
Existenz des palästinensischen Volkes allgemein wurde und so auch die
Bereitschaft der meisten Israelis, die Idee eines Staates mit Jerusalem als
Hauptstadt beider Staaten. Dies ist ein klarer Fall für das Bett von Sodom:
beide Beine und die Hände des Patienten werden amputiert, damit er ins Bett
passt. Und noch weiter hergeholt ist die Erklärung „wir haben unsere
Regierung gezwungen, die PLO anzuerkennen, und wir werden sie dahin bringen,
auch die Hamas anzuerkennen – jetzt, nachdem dem Patienten auch noch seine
anderen Gliedern weggenommen wurden (pardon, für diese grausame Metapher,
aber Avnery hat sie mir aufgezwungen) . Diese Erklärungen haben sehr wenig
mit der Stellungnahme der jüdischen Öffentlichkeit in Israel in Richtung
Frieden zu tun – von 1948 an bis heute. Aber Fakten können zuweilen den
Sachverhalt verwirren.
Aber um jede Debatte über die Ein-Staat-Lösung zu ersticken, zieht Avnery
die Gewinnerkarte aus dem Zauberhut: „unter der Oberfläche, in den Tiefen
des Nationalbewusstseins haben wir Erfolg“. Lasst uns die Palästinenser mit
Metalldetektoren und Röntgenapparaten ausrüsten – dann entdecken sie
vielleicht nicht nur den Tunnel, sondern auch das Licht am Ende des Tunnels.
Die Wahrheit ist, dass das, was in den tiefsten Schichten des israelischen
Nationalbewusstseins liegt, viel schlimmer ist, als das, was an der
Oberfläche erscheint. Hoffen wir, dass dies für immer dort bleibt und nicht
an die Oberfläche kommt. Es sind Ablagerungen von dunklem, primitiven
Rassismus, der , wenn es ihm erlaubt ist, überzufließen, uns alle in einem
Meer von Hass und Bigotterie ertränken würde.
Avnery hat recht, wenn er behauptet, dass zweifellos 99,99% der jüdischen
Israelis einen Staat Israel mit einer robusten jüdischen Mehrheit wünschen –
egal wie seine Grenzen sind. Eine erfolgreiche Boykottkampagne wird diese
Position nicht in einem Tag ändern, aber eine klare Botschaft an diese
Öffentlichkeit schicken, dass diese Positionen rassistisch und im 21.
Jahrhundert nicht annehmbar sind. Ohne die kulturelle und wirtschaftliche
Sauerstoffzufuhr, mit der der Westen Israel versorgt, würde es für die
schweigende Mehrheit schwierig sein, fortzufahren und zu glauben, dass es
vor der Welt möglich sein wird, einen rassistischen und legitimierten Staat
zu haben . Sie werden wählen müssen und hoffentlich wie De Klerk die
richtige Entscheidung treffen.
Avnery ist auch davon überzeugt, dass Adam Keller sehr erfolgreich das
Argument für einen Boykott entlarvte, indem er darauf hinwies, dass die
Palästinenser in den besetzten Gebieten dem Boykott nicht nachgegeben hat.
Das ist tatsächlich ein guter Vergleich: ein politischer Gefangener liegt
festgenagelt auf dem Boden und wagt Widerstand zu leisten; als Strafe wird
ihm sogar die bis jetzt spärliche Kost verweigert. Seine Situation wird
verglichen mit der einer Person, die illegal das Haus des Gefangenen besetzt
und die das erste Mal sich der Möglichkeit gegenüber sieht, wegen seiner
Verbrechen vor Gericht gebracht zu werden. Wer hat mehr zu verlieren? Wann
ist die Drohung nur grausam, und wann ist sie ein gerechtfertigtes Mittel,
um vergangenes Übel zu korrigieren?
Der Boykott wird nicht stattfinden, stellt Avnery fest. Er sollte mit den
Veteranen der Anti-Apartheidbewegung in Europa reden. 20 Jahre waren
vergangen, bevor die internationale Gemeinschaft davon überzeugt war, in
Aktion zu treten. Auch ihnen war am Anfang ihrer langen Reise gesagt worden,
dass es nicht funktionieren wird – dass in Südafrika zu viele strategische
und wirtschaftliche Interessen mit einander verwickelt seien.
Außerdem – so fügte Avnery hinzu – würde an Orten wie in Deutschland die
Idee des Boykotts der Opfer der Nazis kurzerhand abgelehnt werden. Das
Gegenteil ist der Fall. Die Aktion, die schon in diesem Sinne in Europa
aufgenommen wurde, hat die lange Periode der zionistischen Manipulation des
Holocaustgedächtnisses beendet. Israel kann nicht länger seine Verbrechen
gegen die Palästinenser im Namen des Holocaust rechtfertigen. Immer mehr
Leuten in Europa wird bewusst, dass die kriminelle Politik Israels das
Holocaustgedenken instrumentalisiert und deshalb sind so viele Juden
inzwischen Mitglieder dieser Boykottbewegung. Deshalb wird auch dem Versuch
Israels, die Unterstützer des Boykotts als Antisemiten zu verklagen, mit
Verachtung begegnet. Die Mitglieder der neuen Bewegung wissen, dass ihre
Motive humanistisch sind und ihre Impulse demokratisch. Für viele von ihnen
werden ihre Aktionen nicht nur durch universale Werte ausgelöst, sondern
auch durch ihre Achtung vor dem historischen jüdisch-christlichen Erbe . Es
würde für Avnery am besten gewesen sein, wenn er seine immense Popularität
in Deutschland dazu benützen würde, der Gesellschaft dort zu sagen, sie
möchte ihren Anteil nicht nur am Holocaust anerkennen, sondern auch an der
palästinensischen Katastrophe und mit dieser Anerkennung sie auch
auffordern, ihr beschämendes Schweigen gegenüber den israelischen
Grausamkeiten in den besetzten Gebieten aufzugeben. Am Ende seines Artikels
skizziert Avnery die Eigenschaften einer Ein-Staat-Lösung aus der
gegenwärtigen Realität. Und dies, weil er nicht die Rückkehr der Flüchtlinge
oder einen Regimewechsel als Komponente der Lösung einschließt – er
beschreibt die heutige trostlose Realität als die Vision von morgen. Dies
ist tatsächlich eine Realität, für die zu kämpfen, es sich nicht lohnt, und
für die niemand, den ich kenne, sich einsetzt. Aber die Vision einer
Ein-Staat-Lösung ist genau das Gegenteil des gegenwärtigen Apartheidstaates
Israel, so wie der Nach-Apartheidstaat in Südafrika. Das ist es, warum diese
historische Fallstudie für uns so aufschlussreich ist.
Wir müssen aufwachen. An dem Tag, an dem Ariel Sharon und George W. Bush
ihre loyale Unterstützung für die Zweistaaten-Lösung erklärten, wurde diese
Formel zu einem zynischen Mittel, durch das Israel seine diskriminierende
Herrschaft innerhalb der 1967er Grenzen und seine Besatzung der Westbank und
der Ghettoisierung des Gazastreifens aufrecht erhalten kann. Jeder, der eine
Debatte über alternative politische Modelle blockiert, erlaubt den Diskurs
über zwei Staaten und deckt damit die kriminelle israelische Politik in den
palästinensischen Gebieten.
Außerdem gibt es in den besetzten Gebieten nicht nur keine Steine mehr, mit
denen ein Staat aufgebaut werden könnte, nachdem Israel in den letzten sechs
Jahren die Infrastruktur zerstört hat, eine ( reasonable?) Teilung bietet
den Palästinensern bloße 20% ihres Heimatlandes. Die Basis sollte mindestens
die Hälfte ihres Landes sein – auf der Basis der 181-Teilungsroute oder
einer ähnlichen Idee. Hier gäbe es noch einen sinnvollen Weg zu erforschen,
statt sich auf immer in den Sodom und Gomorrah-Topf hineinziehen zu lassen,
wie ihn die Zwei-Staatenlösung vor Ort bis jetzt geliefert hat.
Und schließlich wird es für diesen Konflikt keine Lösung geben, solange
nicht das palästinensische Flüchtlingsproblem gelöst wird. Diese Flüchtlinge
können nicht in ihre Heimat zurückkehren – und zwar aus demselben Grund, aus
dem ihre Brüder und Schwestern aus Groß-Jerusalem und entlang der Mauer
vertrieben werden und ihre Verwandten in Israel diskriminiert werden. Es ist
derselbe Grund, warum sie nicht zurückkehren können, aus dem jeder
Palästinenser in der potentiellen Gefahr der Besatzung und Vertreibung steht
– solange bis das zionistische Projekt in den Augen ihrer Führer vollendet
worden ist.
Sie sind berechtigt, sich zur Rückkehr zu entscheiden, weil es ihr volles
politisches und Menschenrecht ist. Sie können zurückkehren, weil die
internationale Gemeinschaft ihnen schon versprochen hat, dass sie dies
können. Wir als Juden sollten ihnen wünschen, dass sie zurückkehren, weil
wir sonst weiter in einem Staat leben, in dem der Wert der ethnischen
Überlegenheit und Unterlegenheit sich über jeden anderen menschlichen und
zivilen Wert rücksichtslos hinwegsetzt. Und wir können weder uns noch den
Flüchtlingen versprechen, dass es innerhalb einer Zwei-Staaten-Lösung solch
eine faire und gerechte Lösung geben wird.
Electronic Intifada / ZNet 26.04.2007,
Übersetzt von: Ellen Rohlfs
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