Die stille Mehrheit Von
Tanya Reinhart, November 2002
Glaubt man Umfrageergebnissen, so liegt das politische
System Israels derzeit mit seinen Positionen sehr weit neben der Mehrheit
der Israelis. Laut dieser Umfragen spricht sich nämlich seit Monaten eine
(mindestens) 60-prozentige Mehrheit in der israelischen Gesellschaft für die
Aufgabe von jüdischen Siedlungen (in den palästinensischen Gebieten) aus -
sogar im Rahmen einer 'unilateralen Separation' (einer einseitigen
Abtrennung Israels von den 'Besetzten Gebieten' also). Die Fragestellungen
der einzelnen Umfragen entsprechen sich zwar leider nicht immer. In einer
'Dahaf'-Umfrage vom 6. Mai - in Auftrag gegeben von 'Peace Now' -, waren die
Fragen jedoch ganz klar und ebenso die Antworten (1).
Aber was ist 'die Forderung' eigentlich genau? Seit Februar diesen Jahres
ist nun schon die Rede davon, aber mittlerweile wird sie zunehmend mit
massiver Umzäunung und Worten wie 'Isolationsgebiete' in Verbindung
gebracht. Zu Beginn jedoch war 'die Forderung' ebenso klar wie stringent
formuliert: kompletter Rückzug. Ihr prominentester Fürsprecher ist Ami
Ayalon, der praktisch direkt aus dem Herzen des Sicherheitsapparats kommt.
In einem Interview mit 'Le Monde Diplomatique' hatte Ayalon am 22. Dez. 2001
gesagt: "Ich bin für einen bedingungslosen Rückzug aus den 'Besetzten
Gebieten'. Ein Rückzug aus den Gebieten ist das, was jetzt dringend erfolgen
muß - und zwar ein echter Rückzug, der den Palästinensern territoriale
Kontiguität mittels einer Verbindung nach Gaza verschafft und die Gebiete
auch nach Ägypten und nach Jordanien hin öffnet".
Und im darauffolgenden Februar bekam Ayalon mit seinem
Anliegen Unterstützung durch eins der wohl exklusivsten Gremien Israels:
"Nach vier Monaten intensiver Diskussion hat sich das 'Gremium für Frieden
und Sicherheit' - eine Gruppe bestehend aus tausend Top-level-Generälen der
Reserve, Obersten sowie Shin Bet- und Mossad-Offiziellen - dazu entschieden,
eine öffentliche Kampagne für einen unilateralen Rückzug Israels aus ganz
Gaza und aus einem Großteil der Westbank zu initiieren. Rund 80 Prozent des
Gesamtgremiums haben für diese Kampagne gestimmt. Im Unterschied zu früheren
einseitigen Rückzugsplänen - wie etwa 'Life Fence' - sieht der Gremiums-Plan
die Räumung von 40 bis 50 der jüdischen Siedlungen vor..."
Diesem Plan zugrundeliegend ist die Erkenntnis, daß
Israels Strategie der ewigen Verhandlungen, während denen man in aller Ruhe
weiterhin in den palästinensischen Gebieten verbleibt, gescheitert ist.
Die Lösung sieht genau umgekehrt aus: zuerst ein
sofortiger, einseitiger Rückzug - wie im Libanon - und daran anschließend
'echte' Verhandlungen. Evakuiert würden der gesamte Gazastreifen sowie 90
bis 95 Prozent der Westbank; ausgenommen wären Jerusalem sowie die zentralen
Blocksiedlungen, deren 150.000 Bewohner ja wohl kaum über Nacht evakuiert
werden könnten. Ich ergänze noch, was ich bereits am 8. Juli 2001 an dieser
Stelle in Yediot Aharonot geschrieben habe:
"Ein solcher Rückzug würde das Problem der großen
Siedlungsblöcke zwar ungelöst lassen, ebenso die Jerusalem-Frage sowie die
Frage der Interpretation des Rückkehrrechts. Dazu würde es weiterer
Verhandlungen bedürfen. Ich denke jedoch, während man über diese Dinge
weiterverhandelt, kann sich die palästinensische Gesellschaft allmählich
regenerieren, Fuß fassen in den geräumten Gebieten, demokratische Strukturen
aufbauen und sich wirtschaftlich entwickeln - indem sie in Kontakt treten
kann zu wem immer sie will. Unter solchen Voraussetzungen wird es dann wohl
auch möglich werden, Verhandlungen auf der Grundlage wechselseitigen
Respekts zu führen und sich schließlich mit der Zeit zum eigentlichen
Hauptproblem vorzuarbeiten: wie schaffen es zwei Völkern, die ein- und
dasselbe Territorium teilen müssen, gemeinsam ihre Zukunft aufzubauen."
Ich bin der festen Überzeugung, wenn wir auf diese Weise
vorgehen, brauchen wir keine Zäune.
Aber es existieren eben auch noch andere Pläne für eine
'unilaterale Separation' - wie z.B. jener von Barak favorisierte:
palästinensischen Enklaven sollen einzeln umzäunt werden, so daß sie nicht
nur von ihren Nachbarn, den jüdischen Siedlern, abgetrennt wären sondern
auch voneinander. Dieses Modell orientiert sich an dem, was im Gazastreifen
bereits praktiziert wird. Würde man diesen Plan realisieren, bräuchte man
wirklich sehr viel Draht sowie sehr viel Überwachungspersonal - und das auf
ewig. Demgegenüber würde eine sofortige bedingungslose - unilaterale
Evakuierung eine echte Chance auf Frieden bedeuten. Was ebenso erstaunlich
wie ermutigend ist, daß anders als in der israelischen Öffentlichkeit häufig
wahrgenommen, die Palästinenser nach wie vor eine Bereitschaft zu gerechtem
Frieden und Versöhnung zeigen und daß diese Bereitschaft in der
palästinensischen Gesellschaft noch immer sehr stark ist.
Eine im Februar 2002 durchgeführte Studie des 'Programms
für Entwicklungsstudien' an der Bir-Zeit-Universität / Westbank - fand
heraus, daß: "...77 Prozent daran glauben, daß sowohl Palästinenser als auch
Israelis ein Recht darauf haben, in Frieden und Sicherheit zu leben. 73
Prozent sind der Ansicht, wenn erst ein Palästinenserstaat errichtet sei,
müßten die Palästinenser und die Israelis gemeinsam am Ziel einer
friedlichen Koexistenz weiterarbeiten."(2) Diese Umfrage wurde allerdings
durchgeführt, bevor wir durch unsere letzte zerstörerische Invasion noch
mehr Haß gesät haben. Wir sollten uns daher endlich zügig zurückziehen -
bevor wir in dieser Hinsicht noch mehr Flurschaden anrichten.
Obgleich, wie gesagt, eine Mehrheit der in den Umfragen
befragten Israelis für Option eines 'sofortigen Rückzugs' votiert, fehlt
dieser Mehrheit bis jetzt noch die Stimme. Denn anstatt für diesen
sofortigen Rückzug einzutreten ('latzet myiad mehashtachim') reden die
Sprecher des 'Friedenslagers' immer nur von 'Separation' und 'Zäunen'. "Ich
mag das Wort 'Separation' nicht", sagt dagegen Ami Ayalon in dem oben
zitierten Interview, "es erinnert mich zu sehr an Südafrika."
Warum haben sie eigentlich nicht Ayalon auf die
Rednerliste gesetzt - auf jener Massendemo der Friedenskoalition? Die
Politiker im israelischen 'Friedenslager' haben jahrelange Erfahrung damit,
die Vielen, die gegen die Siedlungen sind, hinzuhalten bzw. den Status quo
zu bewahren. Die Barak-Anhänger wollen Separation und Zäune, Peres und
Beilins Leute wollen "die Wiederaufnahme von Verhandlungen" - und inzwischen
bleibt man ruhig in den 'Besetzten Gebieten'.
Amos Oz hat
auf jener Demonstration dafür geworben, sich wieder in die Sackgasse
von Camp-David und Taba zu begeben 'Peace now' bleibt dabei immer mehr auf
der Strecke. Und wenn die Mehrheit der Israelis jetzt nicht aufpaßt, werden
obige Leute erneut gewinnen.
Größte Friedensdemo seit Rabins Ermordung
(1) Ha'aretz online, 10. Mai 2002 ('Umfrageergebnis: 59
Prozent sagen, Rückzug aus der Westbank und Gaza würde den Friedensprozeß
erneuern' / Associated Press). Das ganze Umfrageergebnis unter:
www.peacenow.org/Campaign2002/PollMay2002.rtf
(2) Die Studie wurde anhand von 1,198 Befragten vom 7. bis 9. Februar in 75
palästinensischen Wohngebieten der Westbank, des Gazastreifens und Ost-
Jerusalems durchgeführt. Ihr Ergebnis (Palestinian Public Opinion Poll No.
6) ist nachzulesen unter:
http://home.birzeit.edu/dsp/polls/p6/
Amira Hass hat die Ergebnisse in der 'Ha'aretz' vom 19. Febr. 2002
zusammengefaßt.
ZNet Kommentar 28.05.2002, Übersetzt von: Andrea
Noll
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10-05-07 |