Die zwei Gesichter des Eichmann-Prozesses
Von Tom Segev
Am 15. Februar 2000 versammelten sich einige hundert
Menschen zu einer philosophischen Debatte über das Erinnern. Auf Einladung
des Instituts d'études livinassiennes(1) versuchten Bernard-Henri Lévy und
Alain Finkielkraut den "Sinn" von Auschwitz und die Einzigartigkeit des
Holocaust zu beleuchten. Es ging um die Frage, ob das Erinnern über das
Vergessen oder umgekehrt das Vergessen über das Erinnern gesiegt habe, und
darum, ob die Kultivierung des Holocaust-Gedenkens Israel letztlich nutze
oder schade. Es schade wohl eher, meinte Alain Finkielkraut, denn wenn die
Juden den Holocaust als das absolute Böse hinstellten, leugneten sie ein
wesentliches Erbe Europas: den Antisemitismus.
Derart groß angelegte, abstrakte Debatten sind in Israel
selten. Für die Mehrheit der Bevölkerung sind die Schrecken der
Vergangenheit schlicht Teil der eigenen Biografie bzw. integrativer
Bestandteil der kollektiven Identität. Fast täglich findet man in einer
Zeitung einen Bezug zum Holocaust, auch wenn nur wenige Israelis das
Erinnern als solches reflektieren.
Die Debatte fand im Übrigen - symbolträchtig - in genau
dem Raum statt, in dem man vor vierzig Jahren Adolf Eichmann verurteilt
hatte. Damals, mit diesem Prozess, begann Israel, sein kollektives
Gedächtnis vom Holocaust zu entwickeln.
Der SS-Obersturmbannführer und Organisator der
Judenvernichtung, Adolf Eichmann, war vom israelischen Geheimdienst im Mai
1960 aus Buenos Aires entführt worden. Die Mossad-Agenten hätten ihn auch
töten können, aber das wollten sie nicht. Bis dato war die Jagd auf Altnazis
für Israel nicht von vorrangiger Bedeutung gewesen. Premierminister David
Ben Gurion interessierte sich nicht für die Person Eichmann, sondern er
wollte den Prozess: "Wichtig ist nicht die Strafe, sondern die Tatsache,
dass der Prozess stattfindet, und zwar hier in Jerusalem."
Ben Gurion hatte zwei Ziele vor Augen: Erstens sollte die
Weltöffentlichkeit an ihre Pflicht erinnert werden, nach dem Holocaust den
einzigen jüdischen Staat der Welt zu unterstützen. "Die Nazi-Anhänger in
Ägypten und Syrien", sagte er, "wollen Israel zerstören - das ist die
derzeit größte Gefahr, der wir ausgesetzt sind." Und dann fügte er hinzu,
die antizionistische Propaganda der arabischen Staaten mit ihrem
nazistischen Gedankengut nähre sich aus dem Antisemitismus. "Sie sagen
'Zionisten' und meinen 'Juden'." Daraus wurde kurzerhand der Schluss, dass
die Feinde Israels immer auch die Feinde des jüdischen Volkes seien und dass
jeder Unterstützer Israels gegen den Antisemitismus streite. Entsprechend
konnte der Völkermord die moralische Geltung der zionistischen Idee
untermauern und den Interessen des Staates Israel von Nutzen sein.
Bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die
zionistische Bewegung den Holocaust als diplomatisches Mittel eingesetzt, um
die Staatsgründung voranzubringen. Die Behauptung, Israel sei aus dem
Völkermord hervorgegangen, entbehrt jedoch jeder Grundlage. Natürlich
führten Schock, Schrecken und Schuldgefühle weltweit zu einem tiefen
Mitgefühl mit den Juden im Allgemeinen und den Zionisten im Besonderen, was
denn auch deren diplomatischen Zielen nutzte. Doch die sozialen,
wirtschaftlichen, politischen und militärischen Fundamente Israels wurden
dreißig Jahre vor dem Holocaust gelegt. Tatsächlich hat die Vernichtung des
europäischen Judentums den zionistischen Traum stark lädiert, denn sie zwang
Israel, Juden aus den arabischen Staaten einwandern zu lassen, was den
ursprünglich angestrebten europäischen Charakter des Staates abschwächte.
Tatsächlich trugen die sozialen Unruhen dieser
Bevölkerungsteile, vor allem der neu eingewanderten marokkanischen Juden(2),
wesentlich dazu bei, dass Ben Gurion den großen Holocaust-Prozess
initiierte. "Sie kamen aus Asien oder Afrika und hatten nicht die geringste
Vorstellung davon, was Hitler getan hatte. Man musste ihnen das alles von
Anfang an erzählen", erklärte der Premierminister.
Das zweite Ziel, das Ben Gurion mit dem Eichmann-Prozess
verfolgte, war also, den Bewohnern Israels, vor allem den jungen, ein paar
Lektionen über den Holocaust zu geben. Es ging darum, die Gesellschaft in
einer nationalen, ergreifenden, reinigenden und patriotischen Katharsis zu
einen. Darüber hinaus wollte man mit dem Prozess zweifellos auch der
Anschuldigung entgegentreten, die von Ben Gurion angeführte zionistische
Bewegung habe während des Krieges nicht alles in ihrer Macht Stehende getan,
um die europäischen Juden zu retten. Mit dem Prozess erbrachte man den
Beweis, dass man dem Holocaust nicht gleichgültig gegenüberstand, und dies,
obwohl man enge wirtschaftliche und militärische Beziehungen mit der
Bundesrepublik Deutschland zu knüpfen suchte.
Die zentrale Bedeutung dieses Prozesses jedoch lag in
seiner kollektiven therapeutischen Funktion. Vor dem Eichmann-Prozess war
der Völkermord an den Juden in Israel weitgehend tabuisiert. Eltern sprachen
nicht mit ihren Kindern darüber, die Kinder trauten sich nicht, Fragen zu
stellen. Schrecken, Schuld und Scham sorgten dafür, dass der Holocaust
gründlich beschwiegen wurde. Viele Israelis fühlten sich schuldig, weil sie
vor Beginn der Katastrophe aus Europa geflohen waren und ihre nächsten
Angehörigen dort zurückgelassen hatten. Und viele Entkommene empfanden
Scham, weil sie überlebt hatten und glaubten, sich andauernd dafür
rechtfertigen zu müssen. Zahlreiche Israelis verachteten die Opfer für deren
Schwäche und fragten, warum die Juden sich nicht gewehrt hätten. Einige
schauten von oben auf die Überlebenden aus den Lagern herab und sahen sich
selbst als die "neuen Juden" der zionistischen Mythologie. Einige
Überlebende waren körperlich und geistig gebrochen und warfen den Israelis
Gleichgültigkeit vor. Viele hätten nur zu gerne ihre Erfahrungen mitgeteilt,
aber kaum jemand interessierte sich dafür.
Daher war der Eichmann-Prozess der Anfangspunkt für etwas
Neues: Der Holocaust wandelte sich von einem geheimnisvollen und schrecklich
schmerzhaften Trauma zu einer institutionalisierten nationalen Erinnerung
und wurde schließlich ein wesentliches Element der israelischen Identität -
seiner Kultur wie seines politischen Lebens.
Die meisten Israelis von heute betrachten sich, wie
Meinungsumfragen zeigen, als Überlebende des Völkermords, auch wenn ihre
Familien aus der arabischen Welt stammen. Die Studienreise an die Orte der
Vernichtung in Polen gehört zum festen Lehrplan der Gymnasiasten.
Die Art und Weise, wie der Holocaust zu einem zentralen
Element des täglichen Lebens geworden ist, hängt nur zu Teilen mit dem
israelisch-arabischen Konflikt zusammen. Vielmehr spiegeln sich in der
veränderten Haltung Israels gegenüber dem Völkermord zwei Hauptentwicklungen
der letzten Jahre, die Israels postzionistisches Stadium einläuten könnten:
Israel ist sowohl jüdischer als auch amerikanischer geworden, und beide
Entwicklungen haben ihren Höhepunkt wahrscheinlich noch nicht erreicht.
Im Gegensatz zu den Träumen der Gründungsväter haben die
meisten Einwohner Israels nach wie vor jene in der zionistischen Ideologie
so verhasste "entartete" Mentalität des Exils: Je mehr Jahre verstreichen,
desto mehr entdecken sie ihre jüdischen Wurzeln und pflegen die jüdischen
Traditionen. Die alternative Identität des "neuen Menschen", die unmittelbar
an die großen biblischen Gestalten anknüpft, erweist sich als unzureichend.
Zweitausend Jahre Geschichte lassen sich eben nicht durch eine neue
Ideologie ersetzen. Allenthalben ist zu erkennen, dass die Bedeutung der
jüdischen Tradition wächst - das belegt nicht zuletzt der zunehmende
Einfluss der Religion. Ein weiteres Beispiel ist der Raum, den der Holocaust
vor allem für die nichtreligiösen Israelis einnimmt. Die Erinnerung hat sie
zum Judentum zurückgebracht.
Im Zentrum von Jerusalem gibt es ein koscheres
McDonalds-Restaurant, das in den US-Medien gerne als Beispiel für die
Amerikanisierung Israels angeführt wird. Außerdem ist in Israel der Anteil
an Internetnutzern höher als in vielen anderen entwickelten Ländern. Der
amerikanische Einfluss hat in den letzten zwanzig Jahren das
wirtschaftliche, politische und kulturelle Gefüge der israelischen
Gesellschaft grundlegend verändert.
Während der Achtzigerjahre, als der Holocaust zum
zentralen Element der israelischen Identität wurde, gab es innerhalb der
jüdischen Gemeinschaft sowohl der USA als auch anderer Länder eine ganz
ähnliche Entwicklung. So gesehen könnte man sagen, das nationale Gedächtnis
habe neben vielen anderen Tendenzen aus Amerika auch den Holocaust als
identitätsstiftenden Mythos übernommen.
Die meisten Israelis sind heute jüdischer und
amerikanischer, selbstsicherer und ganz offensichtlich reifer,
individualistischer und weniger ideologisch denn je. Sie leben nicht mehr in
einer geistigen Welt der Lager- und Stammesmentalitäten, sie existieren
vielmehr im Hier und Jetzt, ganz so wie die Menschen in den USA. Diese neue
Grundeinstellung erklärt, warum so viele den Friedensprozess von Oslo
mittlerweile unterstützen.
Die offenbar hoffnungslos festgefahrenen
Friedensverhandlungen verhindern, dass die historische Veränderung der
israelischen Position bereits sichtbar wird. Noch vor einigen Jahren
weigerte sich Israel kategorisch, die PLO anzuerkennen. Es gab sogar ein
Gesetz, das private Kontakte von Israelis zu Mitgliedern der PLO untersagte.
Friedensaktivisten, die dem zuwiderhandelten, wurden damals bestraft und
inhaftiert. Israel erklärte, dass bis zu einem endgültigen Friedensvertrag
von den 1967 besetzten Gebieten kein Quadratmeter aufgegeben werde - und hat
sich bis heute daran gehalten. Israel lehnte die palästinensische
Unabhängigkeit ab - und hat seine Haltung inzwischen geändert. Israel
verweigerte früher jegliche Veränderung am Status von Jerusalem - Ehud Barak
hat den Palästinensern eine gemeinsame Verwaltung der Stadt angeboten und
damit fast ein Sakrileg begangen. Mehr Israelis als erwartet haben all diese
Schritte gutgeheißen. Und die Mehrzahl der Israelis hat den Rückzug der
Armee aus dem Libanon begeistert unterstützt.
All diese Entwicklungen vollzogen sich in den Jahren, in
denen der Holocaust an Einfluss gewann: Das heißt, die Erinnerung hat die
Köpfe der Israelis nicht härter gemacht. Am schwierigsten ist es letztlich,
klar zu unterscheiden zwischen den authentischen, durch den Holocaust
erzeugten Gefühlen und gezielt manipulativ eingesetzten Argumenten. Israel
hat gewiss unter dem Eindruck der Ersteren gehandelt, aber auch Letztere
benutzt. Man kann mit gutem Grund annehmen, dass bei Ben Gurions
Entscheidung, das Land mit Atomwaffen auszurüsten, der Holocaust eine
wichtige Rolle gespielt hat. Hier handelt es sich unzweifelhaft um ein
authentisches Gefühl. Aber als Premierminister Menachem Begin dem
US-Präsidenten Ronald Reagan schrieb, er wolle seine Armee nach Beirut
schicken, um Adolf Hitler - das heißt Jassir Arafat - in seinem Bunker
gefangen zu nehmen, hat er den Holocaust in ein politisches Argument
umgefälscht. Auch die Gegner von Oslo haben den Völkermord weidlich für ihre
Zwecke genutzt: Noch kurz vor seiner Ermordung war Jitzhak Rabin auf einem
Plakat in SS-Uniform zu sehen.
In der Debatte gibt es zwei Gruppen: Die einen betonen die
nationalen, die anderen die universellen Lehren des Holocaust. Trotz der
nach wie vor quälenden Frage, welche Rolle Gott im Holocaust gespielt hat,
hegen diverse ultraorthodoxe Bildungsinstitutionen ihre eigene Ansicht über
den Holocaust und machen sie auch öffentlich. Rabbi Ovadia Josef, der
Anführer der nichtaschkenasischen, ultraorthodoxen Schas-Partei, hat erst
kürzlich gefordert, man dürfe ihn nicht länger aus dem nationalen Gedächtnis
des Holocaust ausschließen.
Je mehr Zeit vergeht, umso weniger werden die
Überlebenden. Die meisten, die heute noch am Leben sind, haben die
Erfahrungen im Lager als Kinder durchgemacht - weshalb in der Darstellung
der Judenvernichtung zunehmend Verbrechen an Kindern im Mittelpunkt stehen.
Dass man heute weniger als früher von den "sechs Millionen" Toten redet und
sich stattdessen auf konkrete Einzelerinnerungen konzentriert, ist
symptomatisch für den wachsenden, typisch amerikanischen Individualismus.
All diese Veränderungen liegen in der Natur der Sache und vollziehen sich
zumeist spontan. Sie prägen derzeit den politischen und kulturellen Diskurs
einer Gesellschaft, der es bislang nicht gelungen ist, eine konsensfähige
gemeinsame Identität herauszubilden.
Wer die israelische Erinnerung an den Völkermord als
blankes zionistisches Propagandainstrument darstellt - wie es einige
Holocaust-Leugner, unverbesserliche Antizionisten und Palästinensersprecher
tun - ist bösartig oder dumm oder beides. Im Falle der Palästinenser könnte
diese Position schädlich sein: Denn Israel verstehen kann nur, wer versteht,
welche Rolle der Holocaust tatsächlich für die Mentalität der Israelis
spielt. Und man weiß schließlich, dass nur der mit einem Feind Frieden
schließen kann, der ihn zuvor verstanden hat.
Le Monde diplomatique,
12.4.2001, dt. Marie Luise Knott
Fußnoten:
(1) Benannt nach dem jüdischen Philosophen litauischer Herkunft Emmanuel
Levinas (1906-1995).
(2) Im Jahr 1959 gab es in Israel sehr heftige Unruhen, vor allem in Haifa,
im Stadtviertel Wadi Salib.
(3) In dieser Geschichte klang immer der Vorwurf mit, dass die Zionisten
1934 mit den Nazis verhandelt hatten.