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Judentum und Israel
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Zur Klärung

Von Dr. M. J. Berdyczewski, Breslau

I.

Ist der Zionismus eine Macht von der Art, dass man ohne seine Gründe zu kennen, ohne das, was ihn hervorgerufen hat, zu prüfen, sich ohne weiteres von ihm angezogen fühlt im guten Glauben, dass er eine Wahrheit enthält und das Wort der Erlösung in sich birgt? Ist der Zionismus so beschaffen, dass er, wie der Sozialismus einem zur Religion wird, nicht weil er ihm gepredigt wurde, sondern weil man dasteht mit seinem Herzen für die Not der Armen und aus sich heraus eine soziale Gerechtigkeit herbeiwünscht? Ist der Zionismus nur eine politische Maxime, ein Schlagwort, das sich wie alle ähnlichen gebildet hat und unserer Zeit angepasst ist, oder weist er wirklich den Weg zur Umkehr und zur Einkehr ? Ging man in den Nationalitätenkampf, nur um mitzugehen und mitzutun, oder aus wirklicher Einsicht, dass das, was gewesen ist, nicht mehr sein kann und das, was uns durch alle Zeiten gehalten hat, uns nicht mehr halten kann? —

Nie ist ein Volk, das nicht gänzlich untergegangen ist, bis auf den letzten Mann aus seinem Boden herausgerissen worden, und nie hat es ein Volk versucht in dieser Entwurzelung, ohne nationalen Rückhalt im Heimatlande, in der Fremde für sich zu leben und doch an seinen Gütern, seinem Schrifttum und seinen Eigenheiten weiter zu bauen. Die Tatsache, dass wir über ein Jahrtausend so gelebt haben, — ich kürze mit Absicht die mit Unrecht ausgedehnte Zahl von 1800 Jahren, da die Zeit, welche die Juden, wenn auch den Römern Untertan, aber im eigenen Lande unter dem Esternarchenregime verbrachten, wie ihre Ansiedelung im benachbarten Babylonien, wo sie beinahe einen eigenen Staat bildeten, nicht Exil genannt werden dürfen, — dass wir unsere ethnische Einheit bewahren wollten, nachdem die territoriale Basis dazu nicht mehr vorhanden war, dass wir am väterlichen Erbe zähe hielten, wo wir mit unserem Willen und Recht zu leben einzig und allein auf die Gnade der Völker angewiesen waren, hat unser Sein zu einer Ausnahme im Völkerleben gestempelt und hat uns die bitteren Konsequenzen alles dessen tragen lassen, was mit einer Ausnahmestellung verbunden ist. — Die Klagen unserer Geschichtsschreiber und Chronisten über die Greueltaten, die während der Zeit der Zerstreuung an uns verübt worden sind, schmerzen uns doppelt, weil uns nicht  weniger die Schuld an all dem trifft. Denn nie darf es ein Volk darauf ankommen lassen als Splitter ohne natürliche Grenzen dem Winde und Wetter der Geschicke ununterbrochen ausgesetzt zu sein. Wir selbst haben als natürliches Volk begonnen: die fünf Bücher Mosis sprechen von Schlachten und Eroberungen nicht weniger als von Tugenden und frommen Geboten; wir wollten mehr als andere Nationen sein und sind dabei alles dessen verlustig worden, was das Leben einer jeden Nation bedingt und dafür bürgt.

Die Judenfrage ist, wenn sie auch mehr ein geistiges Problem ist, in ihrer jetzigen Gestalt doch nicht weniger eine Landfrage. Jedes andere Volk und nicht nur eines, das durch Religion und Gesittung von seiner Umgebung sich unterscheidet, konnte dasselbe harte Schicksal treffen, wenn es versuchen sollte, ohne eigenes Land unter anderen sich behaupten zu wollen. Jedes andere Volk an unserer Stelle wäre überhaupt zugrunde gegangen. Dass wir uns gehalten haben, mag ein Wunder gewesen sein, wehe aber einem Volke, dessen Leben nur auf Wunder begründet ist. . . . Israel hat sich berufen gefühlt, Licht und Wahrheit unter die Völker auszuteilen, und hat den Wanderstab ergriffen, hinter sich aber die Tür seiner Heimat zugeschlagen, und wandelt seit damals wie ein Bettler in der Welt herum.

Haben unsere Väter dies nicht gewusst? Haben sie es nicht geahnt, welche Gefahren für sie ein Leben im Exil bedeutet? Wohl haben sie es verstanden, und an dieser unmöglichen Lage hat ihr Herz stets geblutet. Dies hat auch unseren Gebeten und Klageliedern jenen tiefen Schmerz verliehen, jenes inbrünstige Lechzen nach Heimat und Erlösung. Die Kinder haben sich gegen ihren Vater versündigt, und deshalb hat er sie gezüchtigt und sie in die Fremde vertrieben. Das Exil ist in alten jüdischen Herzen eine gerechte Strafe für die Schuld der Ahnen. Auf dieser Auslegung ist das ganze spätere Judentum aufgebaut, und nur kraft dieser Auslegung, dass alle Leiden nur vorübergehend sind gegen den kommenden Tag der Sammlung und Erlösung, hat es das jüdische Volk vermocht, sich in der Fremde zu halten: Nicht der Universalismus, der Glaube an den grossen Gott alles Seienden hat die Juden durch alle Vernichtungsschläge getragen, sondern der unerschütterliche partikuläre Glaube an das eigene Volkstum, an den Wiederaufbau der Königstadt Jerusalem und ihrer Mauern. Die Erinnerung an David und seinen Thron hat mehr Licht in die Herzen gespendet, als die an den El Zebaath. Davon kann sich jeder überzeugen, der nur ein Gebetbuch in die Hände nimmt, und sei es auch ein solches, an dem die Reform ihre Versuche gemacht hat, es zu beschneiden.

Mit dem Eintritt der Juden in das Leben der Völker sollte der Begriff vom Exil als von etwas Unnormalem und Vergänglichem verschwinden, da sie das Land, das ihnen zugewiesen wurde, als ihre Heimat anzusehen begannen. Diese neue Wendung der Dinge förderte auch eine neue Auffassung des Judentums zutage. Die jüdische Reform, die bald darauf kam, war nicht allein aus dem Bedürfnis der Läuterung der Religion hervorgegangen, vielmehr entsprang sie der Notwendigkeit, das jüdische Leben mit der Aussenwelt in Einklang zu bringen. Das Partikuläre im Judentum sollte nun nach und nach abgestreift werden und nur dem Reinmenschlichen Platz lassen; damit wurde ihm aber das Wesentliche genommen, es wurde mitten ins Herz getroffen. — Nationale Gebilde, wenn sie auch das Allweltliche berühren, sind als solche begrenzt, sie bestehen nur dank den engen Schranken, die sie sich gesetzt haben und fallen, wenn diese Schranken niedergerissen werden. Und die Juden sind ein Volk, wenn auch ein religiöses Volk; noch mehr, ein grosses Stück ihrer Religion, wenn nicht ihre Wurzel, macht eben ihr Volkstum aus. Die Emanzipation war, logisch genommen, unleugbar die realste Möglichkeit weiter unter den Völkern zu leben, und sie hat auch in gewissem Sinne Früchte getragen; nur war damit ein Preis verbunden, und kein geringerer: als Juden zu sein aufzuhören. —

Man wird mir entgegenhalten: wie kann man von einem Aufhören sprechen, wo doch gerade zur selben Zeit die jüdische Wissenschaft entstanden ist und gar Vieles geleistet hat? Aber die Tatsache, dass ein Volk sich darauf beschränkt nur Gegenstand der Wissenschaft zu werden, beweist genug, dass es mit dem eigenen Leben abwärts geht.

Das nationale Gefühl, das sich von der Gegenwart nicht mehr zu nähren vermochte, konnte sich nur in einen Historismus umwandeln. Blosse Erinnerungen aber, Erinnerungen an Zeiten, die nie wiederkehren werden, deren Wiederkehr nicht einmal gewünscht wird und zu denen das Heute im striktesten Gegensatz steht, sind nicht Lebensfunktionen, die für ein ganzes Volk ausreichen können.

Nun sagt man aber: das Judentum ist kein vergängliches, nationales Gebilde, sondern eine Religion, deren Kraft nie versiecht, d. h. die Juden waren wohl eine Nation von Haus aus und waren auch durch die Not der Zeit gezwungen, ein abgesondertes Leben zu führen, sind aber jetzt im Begriff in eine Religionsgemeinschaft verwandelt zu werden, seitdem sie die Sprache und Kultur der anderen Nationen angenommen haben und sich von ihnen in nichts als in der Religion unterscheiden. Der Katholizismus in den protestantischen Ländern geht doch auch über die Grenzen des Vaterlandes hinaus, und dessenungeachtet können seine Bekenner gute Staatsbürger sein, die ihrer Religion treu bleiben und dabei im Dienste der nationalen Kultur stehen. — Man übersieht aber eins, nämlich, dass bei den christlichen Völkern das Volkstum noch vor der Annahme des Christentums ausgebildet war und dass sie vom partikulären und engeren nationalen Kreis sich erst zu einer Weltreligion zusammenschliessen haben lassen; das Nationale ist demnach bei ihnen das Gewesene, das Primäre, und die Religion der weitere Kreis, das Gewordene. Die Juden aber, die sich mit dem Exil abfinden, ihr Weilen unter den Völkern als einen normalen Zustand ansehen, gehen alle aus dem allgemeinen weiteren Kreise, der jüdischen Religion, die sie alle verbindet, hinaus zum engeren nationalen Kreise, sie werden Deutsche, Russen, Franzosen, Italiener, Ungarn jüdischen Glaubens. Das Gewesene bei anderen Völkern ist bei ihnen ein Gewordenes, und das, was allen Völkern das Ziel war, die gemeinsame Religion ist bei ihnen der Ausgangspunkt.

Wem dieser wesentliche Unterschied im Werdegang der Geschichte klar geworden ist, der wird es von selbst begreifen lernen, dass Beides nicht auf Eins hinauslaufen kann.

Und noch eins. Eine Religion, die leben will, muss sich mit allen anderen Lebens-Elementen verbinden. — Das hat das alte fromme Judentum verstanden und deshalb war auch das Christentum im Mittelalter auf der Höhe seiner Macht. Ein Judentum aber ohne Juden ist wie ein Sabbat, der sich nicht auf die Wochentage stützt. Religion ist der Höhepunkt des Lebens, muss aber vom Leben selbst seine Kraft empfangen und von ihm getragen werden. Ein Judentum, das auf jüdische Deutsche und jüdische Franzosen gestützt ist, die in allem Deutsche und Franzosen sind und für ihre Religion nur so viel übrig haben, wie für jedes über den Dingen schwebende Abstraktum, kann nicht von langem Bestand sein, weil es nie zu einem Lebenssystem — das glücklichste und treffendste Wort, das in dieser Frage Mathias Acher auf dem ersten zionistischen Kongress in Basel geprägt hat — werden kann. Die frommen Juden, die taub gegen alles Äussere waren und die es versucht haben, in allem sich auf sich selbst zu stellen, haben ihr Leben zu einem einheitlichen und ganzen gestaltet. Das Heimatliche, das ihnen abhanden gekommen ist, haben sie sich erdichtet und zwar so stark erdichtet, dass es wie eine sichtbare Macht über ihnen waltete.

Und ist dieser Wahn zerrissen, hat die Aussenwelt uns absorbiert, so kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass alles Tun um uns selbst unter diesen unsichern Umständen verlorene Mühe ist.

Und wenn man auch mit tausend Banden an seinem Volke hängt, wenn die Macht der Jahrhunderte über einen noch so gross ist, so muss jede Arbeit an einer Fortsetzung unserer Geschichte in der Fremde zerrinnen und gleicht dem Schöpfen des Wassers mit einem Siebe. Was heute in der Zerstreuung für das jüdische Volk getan wird, ist Abendröte, nicht Morgenröte. . . . Dieses Bangen im Herzen ist auch jedem jüdischen Schaffenden eigen. Ich zitiere hier eine Äusserung aus einem Briefe von Geiger, die ungefähr lautet: Wir sind wie Kohlen, die verbrennen, während die anderen da meinen, sie leuchten ....

II.

Der Zionismus hatte den Mut, dieses Stück Geschichte seit dem Eintritt der Juden ins Leben der Nationen zu negieren, es einfach zu überspringen und dort anzuknüpfen, wo das jüdische Volk noch für sich hoffte und an der Fahne der Erlösung hielt. Der Zionismus ist die Fortsetzung des Messianismus. Was dort als ein kommendes Wunder erwartet wurde, sollte hier auf natürlichem Wege geschehen, es ist aber derselbe Wunsch und dieselbe Verheissung. Der Messianismus aber, wo er den Anlauf nahm, die Herzen zu entflammen, hat wohl aus richtigem Instinkt zugleich mit der nationalen Erlösung auch eine geistige herbeigesehnt und wollte bei all seiner mystischen Färbung ein freies Volk haben und freie Geister; er folgte immer als Reaktion gegen die Übersättigung mit Religionssatzungen und Geboten und suchte auch dieses Joch abzuschütteln.

Der Zionismus, dem unmittelbar eine Abkehr von Religion voranging, verfiel dagegen mit seinem neuen Streben in eine religiöse Romantik und glaubte durch das Erwecken solcher Verehrungsgefühle für die Vergangenheit die Herzen auch für den neuen politischen Wunsch zu gewinnen. Der Zionismus schlug den Weg ein, wie ihn die nationalen Bewegungen bei anderen Völkern unter ähnlichen Umständen einschlagen, ohne daran zu denken, dass wir gerade darin ihnen nicht gleichen können.

Wenn es zugegeben wird, dass die tausend Jahre der Zerstreuung ein Irrtum in unserer Geschichte waren, wenn man eingesehen hat, dass dem ganzen Bauen in der Fremde die tragende Grundlage gefehlt hat und dass das jüdische Volk im wesentlichen, in dem, was ein Volk ausmacht und ihm Sicherheit bürgt, irre geleitet wurde, so dass wir jetzt nach all den schweren Kämpfen und nach aller Kraftvergeudung, deren Summe jedem anderen Volke, auch dem Heimatlosen, ein Heim gegeben hätte, von vorneherein wieder anfangen müssen und genötigt sind, erst einen Boden zu suchen, so ist nicht zu begreifen, wie man dabei stehen bleiben kann, eben nur diesen Boden zu suchen, ohne sich auf das Ganze, was voranging, zu besinnen. Nicht allein die Folgen des Exils müssen aufgehoben werden, sondern vor allem müssen seine Ursachen und das, was es erzeugt hat, verschwinden. Der Einschnitt muss ein viel tieferer sein und man muss auf die Zeiten zurückgreifen, welche unserer Exilgeschichte vorangingen. Wir haben bei einer neuen Wendung unserer Geschicke nicht nur mitzunehmen und hinüberzuretten, was hier in Schwanken gekommen ist, sondern mehr abzuschütteln, was sich über uns aufgetürmt hat und uns den realen Sinn für unser Leben so lange genommen hat.

Bei aller Auslegung des Exils im nationalen Sinne, wie sie oben geschildert wurde, bei aller Sehnsucht nach den Ufern der Heimat, haben unsere Väter es doch darauf ankommen lassen, bei blosser, wenn auch nationaler Religion zu bleiben und in ihr den Ersatz für das verloren gegangene Vaterland zu finden. Und die jüdische Religion, sagen wir der Rabbinismus, hat es instinktiv gefühlt, dass er beim synagogalen Leben viel besser wegkommt als bei einem irdischen, nationalen. Der Rabbinismus wuchs, indem er der Boden des jüdischen Volkes wurde und alle seine Kraft für sich absorbierte. Das profane Leben wurde unterdrückt und eine priesterliche Literatur und Kultur trat an dessen Stelle. — Die Juden waren aber nie ein Volk von Priestern, und nie gelang es, ihre Herzen allem Weltlichen zu entreissen. Die fortwährend gehemmte Sehnsucht nach profaner Kultur suchte immer Gelegenheit hervorzubrechen und beim Sprengen der Mauern des Ghetto hat neben dem Bedürfnis nach Heimat und Sesshaftigkeit auch diese Sehnsucht wesentlich mitgespielt. Und noch heute waltet sie stark in uns und bildet in vielen von uns eine viel stärkere Triebfeder, als das nationale Gefühl.

Wäre im Zionismus ein wirkliches Verständnis dafür, worauf es bei uns ankommt, so hätte er diesen beiden Bedürfnissen des Volkes gerecht werden müssen. Er hätte in weltlichen Dingen ebenso Nachfolger der Aufklärung werden sollen, die das Volk vom Druck des Gesetzes befreien wollte und Sinn für das lebendige Heute weckte, wie er in nationaler Hinsicht Nachfolger des Messianismus geworden ist. Er hätte naturgemäss eine Restauration des jüdischen Volkes auf durchaus weltlichen Grundlagen bewirken sollen, schon deshalb allein, weil zu jedem staatlichen Wesen mehr profane Organe gehören als religiöse. Solche Motive haben auch das Makkabäertum, das doch im Anfang für Religion gekämpft hatte, zu weltlicher Herrschaft geführt; der Zionismus hätte weltlich und nur rein weltlich beginnen sollen, wenn er als wirklich neuer geschichtlicher Faktor auftreten wollte und die wahre Stellung herausgefühlt hätte, die ihm von der Geschichte zugewiesen worden ist. Und weil der Zionismus ein ganz anderes Gesicht gezeigt hat, weil er sich gleich mit dem starren, unlebensfähigen Rabbinertum verbunden hat und da meinte, es komme bei uns nur auf eine politische Umwandlung an, Religion sei Privatsache, hat er eben bewiesen, wie er sich rein künstlich konstruiert und das aus dem Auge gelassen hat, was ihn hätte tragen können. — Der Zionismus sollte ein Volk, dessen Heimat die Synagoge wurde, wieder zu einer irdischen Heimat zurückführen, das konnte er aber nicht anders bewerkstelligen, als indem er sich von der Synagoge abwandte und nicht dadurch, dass er ihr Schleppenträger wurde. Der politische Zionismus meinte diplomatisch und klug zu verfahren und vielleicht auch Nutzen zu bringen dadurch, dass er statt einer kleinen Schar das ganze Volk für die Sache gewinnen wollte; indem er aber die Massen gewann, hat er die Wenigen verloren und das ganze Wollen geschwächt. — Man kann eben nichts Neues anfangen und eine totale Umwertung und Umwälzung im Leben eines Volkes herbeiführen, ohne das Bisherige zu prüfen und mit ihm abzurechnen. Der Grundfehler des Zionismus war, dass er sein durchaus neues Wollen mit dem Alten zu verbinden gedachte.

Satz für Satz hätte der Zionismus nein sagen sollen zu allem, was ihm voranging, denn es gibt in der Exilgeschichte nicht vieles, woran man anknüpfen könnte. Auch dasjenige, was sich im Exil als erhaltend erwiesen hat, wird auf dem neuen Boden das Gegenteil hervorbringen. Die Erschwerung der Mischehen war bekanntlich die Hauptursache der Erhaltung der jüdischen Rasse und das wichtigste Hindernis der Assimilation. Dieses Hindernis aber, welches sich der Auflösung der Juden unter den Völkern entgegenstellte, stellt sich nicht weniger in den Weg beim Wiedererobern des eigenen Landes, denn das Absorbieren der fremden Bevölkerung durch die eigene ist die erste Bedingung dazu. Auf diesem Wege der Mischehe hat jedes Volk, das erobern wollte, die Ureinwohner in sich aufgesogen, und damit sich so vergrössert und verstärkt, dass fremde Volkssplitter nicht mehr sein Wesen alterieren konnten. Israel selbst verfuhr so mit den Kanaanitern, die es einfach in sich aufnahm. Die Mission steht im Dienste einer jeden Kolonisation wie einer jeden Eroberungsmethode, richtiger jede Eroberungsmethode ist ohne Mission und eine Aufnahme der Urbevölkerung in seinen eigenen Kulturkreis ganz undenkbar. Was aber Israel einst vermochte, vermag das rabbinische Volk nicht mehr. — Und ist uns die Fähigkeit dazu im Exil ganz abhanden gekommen, ist die nationale Absonderung uns ins Fleisch und Blut übergegangen und Gebot und Pflicht geworden, so finden wir im eigenen Lande Tür und Tor verschlossen.

Aber neben der nationalen Absonderung, die uns als staatsbildendes Element geschwächt hat, hat uns auch die kulturelle Absonderung geschadet und zwar vornehmlich dadurch, dass sie umgekehrt nicht die ganze Macht über uns gewonnen hat und wir so immer nach der Kultur eines anderen Volkes schielen, weil wir keine eigene profane besitzen. Und diese Entzweiung mit sich selbst und das Hinauswollen über sich selbst wird auch im eigenen Lande statthaben, so lange die geistige Basis des jüdischen Volkes nicht eine ganz andere geworden ist und eine völlige Umwertung in allem stattgefunden hat; es muss an die Schaffung einer eigenen weltlichen Kultur gedacht werden, die souverän das Leben beherrschen soll, wie einst das religiöse Judentum. — Ich greife vorderhand nur diese Punkte hervor, die jedermann sieht, wer sich über unsere Geschichte klar geworden ist.

Und wie der Zionismus ausser acht gelassen hat, was aus den Juden ohne Land geworden ist, so hat er auch daran zu denken vergessen, was nun unterdessen mit dem Lande selbst ohne die Juden geschehen ist. — Schon die Tatsache, dass Palästina einem grossen Teile der Menschheit heilig wurde und von. dessen Herzen Besitz ergriffen hat, genügt allein, um zu beweisen, dass es den Juden nicht im vorigen Masse mehr gehört. Eine Frau, die von ihrem Manne geschieden ist und einen anderen geheiratet hat, gehört eben diesem anderen. Das Beispiel ist vielleicht banal, wer aber in unserem Schrifttum Bescheid weiss, dem ist es vielfach bekannt. — Der Zionismus hat es als einen Sieg für seine Sache angesehen, dass eine zionistische Deputation vom deutschen Kaiser in Palästina empfangen worden ist, und erst neulich hielt das offizielle zionistische Organ es für nötig, die wichtigen Dokumente jener grossen Tage der Öffentlichkeit zu übergeben. Für denjenigen, der die Dinge gerade sieht, kommt dabei etwas ganz anderes in Betracht, nämlich, dass der deutsche Kaiser im heiligen Lande nicht weniger zu suchen hat, als die Führer» der Zionisten. — Es ist sehr leicht, sich selbst zu betrügen, Tatsache ist es, dass Palästina im Herzen der christlichen und islamitischen Völker einen viel grösseren Raum einnimmt, als im Herzen der Juden. Man vergleiche die zu Tausenden und Abertausenden zählenden Reisebücher, Erforschungen des heiligen Landes und alles, was damit zusammenhängt mit dem, was die Juden auf diesem Gebiete geleistet haben. Man vergleiche die jüdischen Palästinabeschreibungen der letzten zwanzig Jahre, auch seit die jüdische nationale Woge sich erhoben hat mit denen der Christen. Man vergleiche die Rhetorik des Reiseberichtes von Hermann Struck, eines Mannes, der als Künstler gewiss tief empfindet, mit der gewaltigen Glut des gewesenen Theologen Paul Rohrbach 1). Das sind Tatsachen, die schwer ins Gewicht fallen. Und je tiefer man diese Tatsachen erwägt, je klarer einem die Weltlage im Orient wird, desto stärker muss der Zweifel kommen, ob die Juden ihr Land zurückerobern werden und ob es in der Macht eines einzelnen Volkes liegt, die Geschichte zurückzuschrauben. . . . Kein Wunder, dass manche sich nach einem anderen Lande umsehen und an ein jüdisches Transvaal als an einen Ersatz für Amsterdam—Jerusalem denken. Dass der Zionismus auch hier vermittelnd auftrat, und den Wunsch nach eigenem und fremdem Lande zu vereinigen suchte, zeigt, wie er es nicht gelernt hat eine Sache ganz zu wollen.

Soviel über das Warum und Wohin. Wir wollen nun untersuchen, wie der Zionismus zu seinem Ziele gelangen will und was er dann tut.

III.

Man hört über den Zionismus häufig folgende Äusserung: Der Zionismus hat zwar bisher keine praktischen Resultate gezeitigt, er hat aber durch das Erwecken des nationalen Bewusstseins der Juden, durch ihre Sammlung unter einer Fahne eine grosse moralische Wirkung hervorgerufen und ist schon deshalb allein als eine geistige erlösende Tat zu begrüssen. — Statt einer Bewegung also, die darauf hinarbeitet, eine völlige Verschiebung unserer Lage zu bewirken und die eine nationale Gemeinschaft, welche mit all ihrem geistigen und wirtschaftlichen Streben seit Jahrhunderten in der Zerstreuung unter den Völkern weilt, wieder zu einem Stamm auf eigener Scholle umwandelt, haben wir es mit einer geistig-moralischen Strömung zu tun, die eine Renaissance des jüdischen Volkes in der Fremde befördert und nicht mehr als ein "Judentum unterwegs" ist. — An geistig-ethischen Bewegungen aber hat es auch vor dem Zionismus wahrlich nicht gefehlt, und alle zerrannen sie aus Mangel an eigenem Boden. Als Kinder der Zerstreuung mussten sie zerfallen, wenn sie auch logisch sich hätten halten können. Der Zionismus, wenn wir ihn recht verstehen, war es doch, der darauf losging, eine Basis für alle nationalen Güter zu schaffen. Das war eben das Neue an ihm, dass er sich nicht den vorigen geistigen Strömungen anreihen wollte, sondern dass er das zu finden gedachte, was jenen gefehlt hat, nämlich eine territoriale Einheit für alles. Das konnte nun allerdings Begeisterung hervorrufen und die Herzen entflammen, die des langen Wanderns und des aussichtslosen Bauens in der Luft müde geworden waren. Und um so grösser musste die Enttäuschung sein, als es sich herausgestellt hat, dass dieser vielverheissende Zionismus nicht mehr als alle vorigen Bewegungen bedeutet. Eine historische Wendung, die, berufen den bisherigen Faden der Geschichte zu zerschneiden, sich in denselben verstrickt, richtet sich von selbst.

Freilich ist es jeder nationalen Bewegung eigen, dass sie mit dem Minimum beginnt und Schritt für Schritt die Herzen für den grossen Morgen vorbereitet. Gewiss ist für jedes Volk, das unter anderen zersplittert ist und dem ein Untergang droht, jedes Wecken des nationalen Bewusstseins ein Gewinn, und die Werbung einer einzelnen Seele für die gute Sache bedeutet schon eine Tat. Und ein Blick auf die Nationalitätenkämpfe um uns zeigt, wie Geschichte gemacht wird und mit welchen Mitteln die Wiederbelebung eines Volkes angefangen wird. Schule und Haus, Schrifttum und Vereinswesen werden in Angriff genommen, nichts wird verschmäht, weil es scheinbar zu unbedeutend für das grosse Ziel ist, kein Versuch wird unterlassen, der der nationalen Bewegung, wenn auch im bescheidensten Masse zugute kommen kann. — Und warum, würde man fragen, soll denn unsere Arbeit, die ähnlich vor sich geht, weniger sein. Warum gerade bei uns dieses Bangen und Nörgeln um das Ziel, nach dem doch gestrebt wird? Warum sollten wir uns nicht mit dem Wiedererwachen unseres Bewusstseins begnügen, was doch bei jedem Volke, welches nach nationaler Freiheit ringt, schon das Zurücklegen der wichtigsten Strecke seines Weges bedeutet ? — Warum ? — Und nun kommen wir auf das eigentliche Problem. Es ist dies der häufige Fehler, den wir bei der Beurteilung unserer Lage begehen, dass wir sie mit der anderer unterjochten Nationen in eine Reihe steilen. Nun liegen aber bei uns die Verhältnisse ganz anders. Bei einem anderen Volke, welches noch irgend einen Rückhalt im Heimatlande hat, mag es noch so unterjocht und innerlich wie äusserlich geschwächt sein, geht immer mit seinem Wiedererwachen ein Wiedererobern seiner Rechte Hand an Hand. Der Einzelne braucht gar nicht fortwährend Opfer zu bringen und mit Nachdruck auf das Nationale hinzuweisen: das, was er für sich und geistig erwirbt, kommt seiner nationalen Gemeinschaft zugute, indem sie mit einem kräftigen Individuum bereichert wird. Und wenn eine Generation auf halbem Wege stehen bleibt, kommt die andere und setzt dort wieder an; es ist derselbe Faden, den alle fortspinnen und das Gewebe kommt und schützt und besteht. Mit anderen Worten: dort, wo zwischen Mittel und Ziel ein räumlicher Zusammenhang besteht, bildet die ganze Arbeit im Kleinen wie im Grossen ein Lebenssystem. Jedes Einzelne ist ein Teil des Ganzen und führt zum Ganzen. — —

Nichts Ähnliches finden wir bei uns. Uns fehlt der Boden, der die kleine Arbeit aufnimmt und sie zum Grossen verarbeitet, und zwischen unserem Tun und Hoffen besteht eine unüberbrückbare Scheidewand. Wir sind gezwungen, in der Fremde für das tägliche Brot zu sorgen und unsere beste Kraft in den Dienst der Gegenwart zu stellen und können nur mit dem, was wir davon absparen, für die nationale Zukunft arbeiten. Wir können nur abstrakt wollen und an etwas denken, was über unserem Leben von heute steht und nicht seine Säfte aus ihm zieht. Die tägliche Arbeit des Einzelnen und gerade die, welche im Interesse des an ihr Beteiligten selbst vor sich geht und deshalb am besten gedeiht, können wir nicht für das Spätere verwenden, und so ist unsere nationale Tätigkeit ein fortwährendes Opferbringen, aber kein Vorbereiten, kein langsames Erkämpfen. Die zionistische Organisation und Agitation bedeuten nicht eine Verstärkung des Lebenspulses und nähren sich nicht vom Blute, das in den Adern rinnt, sondern von dem, was abgezapft wird. Wir wollen durch Spenden, durch kleine Teile unseres Vermögens, die wir vom übrigen absondern und somit ihnen die letzte bewegende Kraft, die Kraft, die sie erzeugt hat, nehmen und sie zu etwas Mechanischem, Unpersönlichem machen, durch Spenden also wollen wir uns eine Heimat gründen, eine Heimat, die den ganzen Menschen braucht mit all seinen Leidenschaften und seinem Erwerbstrieb. Was kann denn geschaffen werden, woran nicht der volle Einsatz des eigenen Lebens gestellt wird? Wie kann man Länder erobern, sie bebauen und zur Basis einer historischen Existenz machen, wo man mit seinem Leben davon abgeschnitten ist? Was vermag eine Agitation zu vollbringen, die vom Ziele ihrer Tätigkeit losgelöst ist und deshalb keine Macht hat die Dinge nach ihrem Wunsche zu modeln? Propaganda, das Anschwellen einer Partei und das Lautwerden ihrer Wünsche sind nur dann von Bedeutung, wenn sie sich an Ort und Stelle in Macht umsetzen können, wenn sie schon durch das blosse Bestehen auf das Nebenstehende drücken und so die Machtverhältnisse verschieben. Was haben aber wir damit gewonnen, wenn alle Juden des ganzen Erdballs wie ein Mann zum Zionismus sich bekennen und sich mit Leib und Seele der zionistischen Organisation verschreiben ? Unter den Völkern können wir damit nichts erreichen, weil uns kein historisches Recht und keine territoriale und wirtschaftliche Einheit zu Geböte steht unter ihnen als Volk mit aller Eigenart eines Volkes zu bestehen, und auf die Beherrscher unserer historischen Heimat einen Druck auszuüben, dass sie uns die Tore aufschliessen, vermag eine solche Organisation ganz und gar nicht, deren Wurzeln jenseits dieser Tore liegen. Die Zionisten können sich weder mit den Macedoniern in der Türkei, noch mit den Slowaken in Ungarn vergleichen. Uns fehlt ein fester Platz, von wo wir weiter operieren könnten und deshalb vermögen wir uns nicht zu bewegen. — Der Zionismus bleibt unter diesen Umständen nur eine Exilbewegung, und wer da glaubt, dass es ihm anders als den bisherigen Exilbewegungen ergehen wird, der täuscht sich. Wer da glaubt, dass die zionistischen Reden von Nordau und Zangwill mehr Macht haben werden, die Juden in der Zerstreuung zu halten, als die Synagoge und der Schulchan-Aruch, der verschliesst seine Augen der Wirklichkeit.

Das, worauf ich nun hinauswill, ist vielleicht eine Ketzerei, aber sie muss einmal ausgesprochen werden. Meiner Meinung nach ist es die grösste Schattenseite des Zionismus, dass er überhaupt eine Partei gebildet hat. Damit hat er seine Existenz auf eine falsche Grundlage gestellt. Nach meinem Dafürhalten gehört in das Wesen des Zionismus seiner Beschaffenheit nach gar kein Führer und nichts, was eine Parteileitung ausmacht. Ich kann mir den ganzen politischen Zionismus und die gesamte Organisation wegdenken, und die Quelle des Zionismus ist nicht  versiegt. Umgekehrt, kann ich mir ihn verzehn- und verhundertfacht ausdenken, und nichts ist damit für das Praktische gewonnen. — Es ist und bleibt immer ein Sichdrehen im eigenen Kreis. Und uns aus diesem Kreise hinausreissen können und Taten der Einzelnen, welche aus eigenem Antrieb arbeiten, ohne nach einer Zustimmung der Gesamtheit zu fragen.

Ich denke mir eine Anzahl von Männern, wie diejenigen, welche heute an der Spitze des Zionismus stehen, die aber statt dieses unfruchtbare Amt zu bekleiden und im Namen von hundert anderen zu kommen, lieber für sich eine Heimat suchen, sie bebauen und urbar machen wollen. Wenn jeder Einzelne so versucht hätte, sein Leben national zu gestalten und seinem Hause einen Boden zu geben, so wäre damit auch für die anderen, die immer kommen, wo wirtschaftlich etwas zu holen ist, ein Stück Heimat gewonnen. Statt des neumessianischen Zionismus, der Wunder erwartet und auf Wunder angewiesen ist, denke ich mir einen Mann wie Cecile Rhodes, der wirklich vorangeht und auch dann, wo ihm kein Einziger folgt und ein ganzes Land durch geschäftlichen Sinn einem patriotischen Ziele dienstbar macht. An Stelle des Baseler Kongresses mit dem frommen Wunsch eine öffentlich-rechtliche Heimstätte zu begründen, denke ich mir eine palästinisch-syrische Gesellschaft, nicht auf blutlosen, von Wohltätern gespendeten Aktien gegründet, welche gerne ihre paar Mark für die bedrückten Brüder im Osten wegwerfen, sondern eine, die wie etwa die Ostindische Kompanie mit vollem Einsatz der Energie arbeitet und für sich Land erobert. Ich denke mir einen Mann, wie Baron Hirsch, der Vorkämpfer durch seine Millionen geworden wäre, aber nicht durch die Millionen, die von der Kraft, die sie erzeugt hat, abgelöst und dem jüdischen Volke als totes Kapital geschenkt worden sind, sondern durch Millionen, die dem Nutzen ihres Eigentümers selbst dienen und so zu seiner Machtentfaltung beitragen. Dadurch allein, dass auf diese Weise jüdische Arbeiter gefördert wären, wäre für sie ein Vaterland erobert, und tatkräftige Pioniere wären herangerufen. — Ich denke mir persönliche Taten statt unpersönlichen Tuns, wirkliche Schritte, nicht grosse Worte. — — — —

Anmerkung:
1) Im Lande Jahwehs und Jesu.

in: Lazar Schön (Hrsg.): Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus. Erster Jahrgang, Würzburg 1905, S. 279-287.

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hagalil.com 10-05-07

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