Schutzjudentum und Legionismus
Von Vladimir Jabotinsky
Die Gefahr eines arabischen Aufruhrs
beruht für uns nicht auf seiner physischen Kraft: diese Stärke — wiederhole
ich — ist wenig, imponierend. Die Unruhen des Jahres 1936 bildeten
eigentlich lediglich ein Mittel zur Ausübung eines moralischen Druckes auf
England: ein Appell an seine Passivität. Aber dieser Appell ist für uns sehr
gefährlich, weil wir "Schutzjuden" sind.
Es war der verhängnisvollste von unseren politischen Fehlern, daß wir die
Auflösung der jüdischen Bataillone in Palästina zuließen. In den Jahren
1918-19 besaßen wir dort 5000 jüdische Soldaten; im Frühjahr 1920 nur 400;
anfangs 1921 wurde auch dieser Rest demobilisiert. Zufolge dieser Umstände
wurden wir in Palästina das, was in alten Zeiten in Deutschland
"Schutzjuden" hieß. Der Stand der "geschützten Juden" entstand etwa in
folgender Weise: irgend ein Fürst oder Markgraf ließ in seine Residenz eine
beschränkte Judenzahl herein und übernahm hiebei die Pflicht, sie vor dem
Mob zu schützen; gleichzeitig büßten "seine" Juden selbst den Schatten eines
Schattens von Menschenrechten vollständig ein,, auf welche Rechte ihre
Volksgenossen in anderen Gemeinschaften noch rechnen konnten. Das ist ganz
natürlich: denn jedweder Versuch des Straßenpöbels,, sich mit den Juden
auseinanderzusetzen, bedeutete für den Markgrafen (wenigstens in der
Theorie) die Notwendigkeit, Landsknechte zu mobilisieren und bedeutete sogar
die Möglichkeit von Verlusten in der Gestalt von Verletzten und Getöteten;
demnach hatte auch der Fürst logischerweise das Recht, von seinen Juden
alles zu verlangen, was er begehrte, oder zu verbieten, was er wünschte,
unter dem Vorwande, daß in entgegengesetztem Falle eine Rebellion des Mobs
eintreten würde. Wenn der Fürst ein schlauer Diplomat war, dann ersann er
einfach die Gefahr der Volksunzufriedenheit, wann immer es ihm behagte. Aber
noch schlimmer kam es in den seltenen Fällen, wo der Markgraf fair war:
dann, wurde der Mob tatsächlich zum selbstherrschenden Gebieter der Juden.
Es genügte, daß irgend ein Mönch die Drohung der Volksunruhen inszenierte,
und der Graf forderte folgerichtig von seinen "Geschützten Juden" die
inappellable Erfüllung dessen, was die Volksmassen verlangten. Und so ist,
mutatis mutandis, genau das Bild unserer gegenwärtigen Lage in Palästina
beschaffen. Wir kolonisieren dieses Land "gegen" den Willen der
bodenständigen Bevölkerung; diese Einheimischen sind noch immer zahlreicher
als wir; deshalb kann sich unsere Kolonisation nur unter dem Schutze der
Waffengewalt entfalten — völlig so, wie sich jedwede Kolonisation in der
Geschichte entwickelte. Der Grundunterschied liegt nur darin, daß bei allen
anderen Kolonisationsversuchen das kolonisierende Volk selber die
Waffengewalt bestimmte, während in unserem Falle das britische Heer — das
aus Soldaten und Offizieren anderer Nationalitäten zusammengesetzt ist — die
Wehrpflicht auf sich nahm. Im Falle des mindesten "Volksaufruhrs" gegen die
Juden fällt die Pflicht aktiver Wirksamkeit diesen Soldaten zu; wenn das
Heer Verluste verzeichnen wird, so werden in den in England veröffentlichten
Gefallenenlisten die Namen William Robinson und John Smith figurieren, und
wenn die Soldaten bemüßigt sein werden, in die Massen zu schießen (was unter
gewissen Umständen für einen intelligenten Soldaten bedeutend unangenehmer
ist, als das eigene Leben aufs Spiel zu setzen), dann fällt diese Pflicht
gleichfalls dem William und John zu. Ich spreche schon nicht von der
finanziellen Seite der Sache; die britischen Bataillone erhält doch der
englische Steuerzahler und zu Aufwendungen dieser Art verhält er sich sehr
unwillig.
Der Fluch dieses "Schutzjudentums" bildet die Grundlage aller unserer
Mißverständnisse mit England als Mandatarmacht. Vor allem führt es dazu, daß
die ständige Garnison in Palästina bis zum Ausmaße völliger Kraftlosigkeit,
insbesondere vom Blickpunkte der Pogromgefahr — reduziert wurde (April 1936
gab es zwei Bataillone Fußvolk). Infolgedessen entstanden von Zeit zu Zeit
die unvermeidlichen blutigen Unruhen und bis in die letzten Zeiten reagierte
die Regierung auf die Unruhen mit der Hemmung der jüdischen Einreise. Es war
eine völlig logische — aus der Lage der "Schutzjuden" sich ergebende
Folgerung. Hier hatten wir eins der eisernen Kolonisationsgesetze vor uns.
Ein Volk, dessen Verteidigung den Soldaten eines anderen Volkes obliegt,
kann keine Bedingungen stellen. Der Eingeborene diktiert, welche Flächen
besiedelt werden dürfen. Und dabei, solange der Einheimische noch keine
wirksame oppositionelle Ausdauer in sich herausgebildet hatte — solange noch
in den Intervallen
zwischen zwei Aufruhren er für fünf oder sieben Jahre sich beruhigen konnte
— gelang es uns nach zwei bis drei Jahren, die Einwanderungsziffer zu
erhöhen. Doch alle Anzeichen bezeugen, daß das Temperament der
palästinensischen Araber in dieser Hinsicht sich sehr verändert hat und daß
jetzt — unabhängig von der noch nicht dagewesenen Intensität des Aufruhrs
auch in normalen Zeiten — von ihrer Seite ein vermehrter und unablässiger
Druck auf den Mandatar, auf seinen "Kampfesunwillen" und auf unsere Rolle
als "Schutzjuden" vorauszusehen ist.
Die Forderung der Bildung einer jüdischen Legion, als Teil der ständigen
britischen Garnison in Palästina, wurde nicht einmal gestellt. Als der
Verfasser dieser Bemerkungen noch Mitglied der zionistischen Exekutive war
(bis Anfang 1923), wurde diese Forderung zweimal offiziell durch die Jewish
Agency gestellt. Später wurde sie der Hauptprogrammpunkt der Revisionisten.
Das gewohnte Argument gegen dieses Verlangen lautet im Munde der britischen
Administration annähernd wie folgt: in einem von zwei Nationalitäten
bewohnten Lande ist es eine Ungerechtigkeit, die eine zu "bewaffnen" und die
andere "entwaffnet" zu belassen. Dieser Grundsatz wurde von niemandem in
Frage gestellt, — wenn nicht das Faktum da wäre, daß die Juden die Araber
nicht überfallen haben und sie auch niemand solcher Absichten wegen in
Verdacht hat, während die Araber schon viermal über die Juden hergefallen
sind. Allgemein genommen ist der Bewaffnungszustand kein "Recht", das
ungerecht wäre, dem Peter vorzuenthalten, wenn man es dem Johann zuerkannt
hatte. Unter normalen Bedingungen sollte weder Peter noch Johann bewaffnet
sein. Doch wenn Johann den Behörden nachweisen wird, daß ein Ueberfall gegen
ihn vorbereitet wird, dann, nur dann kann und soll man ihn bewaffnen und
eben nur ihn und nicht den Peter, der von niemandem bedroht ist, der selber
den Johann zu überfallen beabsichtigt und das schon zum fünften Male.
Uebrigens, all dies ist für die Engländer nichts Neues. In einer ganzen
Reihe ihrer Kolonien, wo es eine auch nur theoretische Gefahr für den
europäischen Ansiedler gibt, organisieren sie europäische Heeresabteilungen
und sie führen sogar (wie in Kenya) obligate Heeresübungen für die
europäische Jugend ein.
in: Vladimir Jabotinsky: Der
Judenstaat, Wien 1938, S. 44-46.
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10-05-07 |