Die Klasseninteressen und die nationale
Frage
Von Ber Borochow
Kapitel 12
Zusammenfassung
Die Menschen haben sich im Verlauf der feudalen
Epoche in ihrem Kampf um die Existenz zu verschiedenen, verhältnismäßig
abgeschlossenen Gemeinschaften, welche unter verschiedenen, verhältnismäßig
abgeschlossen Produktionsbedingungen lebten, zusammengefunden, d.h. zu Völkern
gruppiert. Die Physiognomie und der Charakter jedes besonderen Volkes besaßen
annähernd bestimmte Züge. Im Schoss der feudalen Wirtschaft aber entwickelte
sich allmählich der Kapitalismus.
Es entstand im Produktionsleben ein doppelter
materieller, wirtschaftlich-ökonomischer Widerspruch: einerseits waren die auf
einer höheren Stufe der Entwicklung stehenden Produktivkräfte den erstarrten
feudalen Produktionsverhältnissen nicht gemäß; andererseits stimmten die
sich kapitalisierenden Produktivkräfte auch nicht mit dem verkalkten System der
Produktionsbedingungen überein, weil die feudale Ordnung die Völker und
Territorien durch unzählige Mauern voneinander getrennt hatte, was natürlich die
Entwicklung des Kapitalismus hindern musste. Ein Widerspruch zwischen
Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen ruft immer soziale Probleme hervor, die durch
die jeweilige Befreiung der unterdrückten Klassen gelöst werden. Ein
derartiger Widerspruch, der im Anfang der kapitalistischen Entwicklung
entstanden war, belastete einst ganz besonders die Bourgeoisie, den dritten
Stand, der späterhin wirklich die Initiative fand, diesen Widerspruch in der
französischen Revolution aufzuheben. Die zweite Form des Widerspruchs im
ökonomischen Leben, diejenige, welche sich im Konflikte der sich entwickelnden
Produktivkräfte und der diese Entwicklung behindernden
Produktionsbedingungen ausdrücke ruft die nationalen Fragen
hervor und wird nur durch die jeweilige Befreiung der unterdrückten Nationen
aufgehoben. Dieser Widerspruch, der ebenfalls dem Anfang der kapitalistischen
Entwicklung entstammt, war allen unterdrückten Klassen der damaligen
Gesellschaft fühlbar. Darum hatten alle unterdrückten Klassen zur Zeit der
französischen Revolution das Gefühl, als ob sie eine einzige Nation waren, die
von den "obersten" Schichten unterdrückt wird; es kam die Meinung auf, dass es
eine allgemein-nationale Interessenharmonie gäbe, von der nur die herrschende
Klasse ausgeschlossen sei. So entstand der Nationalismus im heutigen
Sinne des Wortes. Die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft hat also den
Boden geschaffen, auf welchem sich das Verwandtschafsbewusstsein, das auf der
gemeinsamen historischen Vergangenheit, d.h. auf den gemeinsamen
Produktionsbedingungen gegründet ist, herausgebildet hat, oder kurz gesagt, auf
welchem der Nationalismus entstand. Die Bewicklung wandelte die bisherigen
Völker in moderne "Nationen" um.
Der Nationalismus zeigt sich erstmalig nicht in
der äußeren Politik der herrschenden Klassen, sondern in der inneren der
unterdrückten Klassen. Später erst, als die nationale Frage entstand, ging der
Nationalismus auf die äußere Politik über. Unmittelbar nachdem das erstarkte
Kapital den Adel besiegt hatte, zeigte es sich, dass die Erweiterung der
Produktivkräfte nicht nur durch den Zustand der Produktionsbedingungen
innerhalb der verhältnismäßig abgeschlossenen Gesellschaft gehindert wird,
sondern durch die verhältnismäßige Abgeschlossenheit der verschiedenen
Produktionsbedingungen an sich. Jede Gesellschaft stößt, indem sie
natürlicherweise nach Erweiterung der Sphäre ihrer Produktionsbedingungen
strebt, auf den Widerstand der benachbarten Gesellschaften. Die Entwicklung der
kapitalistischen Wirtschaft muss notwendigerweise die nationale Frage im
heutigen Sinne des Wortes auf die Tagesordnung bringen. Die Wurzel der
nationalen Frage ist der Zusammenstoss der verhältnismäßig abgeschlossenen,
sozialökonomischen Organismen. Die nationale Frage kommt in der nationalen
Konkurrenz zum Ausdruck. Die nationale Konkurrenz ist nicht das Resultat
irgendwelcher Machenschaften von einigen schlechten, egoistischen Herren der
herrschenden Klassen, sondern das Resultat der sich entwickelnden
kapitalistischen Wirtschaft, welche unbedingt nach Erweiterung strebt. Auf Grund
dieser Konkurrenz wachsen in den Menschen, welche an ihr interessiert sind,
gewisse Gefühle, Emotionen, die, weil sie so tief im ökonomischen Leben
verankert sind, jenen Menschen so erscheinen, als wären sie frei von jedem
Zusammenhang mit dem materiellen Leben. Man sieht den tiefen ökonomischen Grund
dieser Gefühle nicht und verliert die Fähigkeit, sie zu motivieren. Es scheint
so, als wären es heilige, erhabene Gefühle, weit von jedem "Materialismus"
entfernt. Es bilden sich sonderbare, verwickelte nationalistische Ideologien,
welche geneigt sind, wegen des prinzipiellen Antagonismus zwischen
Klassenbewusstsein und Nationalbewusstsein, das erstere zu verdunkeln und zum
Schweigen zu bringen. Die kapitalistische Wirtschaft schuf die nationale
Frage nicht allein für die Bourgeoisie, sondern für alle Klassen der
Gesellschaft. Denn alle Klassen sind in die nationale Konkurrenz verwickelt,
weil für sie diese oder jene Seite des Territoriums einen bestimmten Wert als
Basis der Produktionsbedingungen hat. Bei freien Völkern, die niemand
unterdrücken und von niemanden unterdrückt werden, lebt der Nationalismus in
Form potentieller Energie, aber bei der ersten, besten Gelegenheit geht die
potentielle Energie in den kinetischen, wirkenden Zustand über.
Am schnellsten verlieren die herrschenden
Klassen ihr Gleichgewicht. Sie sind immer bereit — es kann gar nicht anders
sein —, den Weltmarkt zu erobern oder den Innenmarkt zu erweitern. Wenn das
Gleichgewicht zerstört wird, flackern die nationalistischen Gefühle, welche
bisher im Verborgenen glimmten, zur Flamme auf. Hat der Nationalismus seinen
Ursprung im Streben nach Erweiterung des eigenen Marktes, so nimmt er einen
aggressiven, bewusst-kämpferischen Charakter an. Als Mittel dient dann die
Eroberungs- und die gewaltsame Assimilierungspolitik. Das Bestreben des
Proletariats, seinen Arbeitsmarkt und- platz zu erweitern, kann sich dagegen
nicht in Eroberungspolitik ausdrücken. Das Proletariat und die sich
proletarisierenden Massen haben bekanntlich keinen direkten Einfluss auf die
internationale Politik. Das einzige Mittel zur Erweiterung seines Arbeitsplatzes
ist die friedliche Einwanderung in fremde Länder. Die emigrierenden Massen, die
Arbeit suchend über die Erde wandern, führen keine nationale Politik. Der
wandernde Arbeiter, der aus der Sphäre seiner Produktionsbedingungen
herausgestoßen wird, fühlt keine tiefere Verbundenheit mit seiner Heimat, und
wenn jene nebensächlichen Umstände nicht wären, wenn nicht die Traditionen, die
er durch Erziehung empfangen hat, wenn nicht die Verwandtschaft, welche zu Hause
geblieben ist, ihn binden würden, würden selbst jene schwachen Zeichen der
Verbundenheit mit dem Vaterland, welche sich dann und wann noch zeigen, nicht
existieren. Ganz anders steht es aber um das Proletariat jener Länder, wohin die
Emigranten wandern. Hier sehen wir die Absicht, den Arbeitsplatz für sich allein
zu reservieren, und gleichzeitig das Anwachsen des nationalen
Selbstbewusstseins. Dieses nimmt beim Proletariat freier Nationen den scharf
ausgeprägten, kämpferischen Defensivcharakter der Anti-Immigrationsgesetze an.
In noch stärkerem Masse zeigt sich diese Erscheinung in der Haltung und der
Stimmung der sich proletarisierenden Massen, weil sie noch mehr als das
Proletariat selber daran interessiert sind, dass ihr nationaler Arbeitsplatz von
Fremden unberührt bleibe. Wir sehen also erstens, dass für das Proletariat die
nationale Frage mit dem Problem der Aus- und Einwanderung zusammenfällt, dass
der proletarische Nationalismus einen lokalen Charakter hat ; zweitens, dass der
Nationalismus der nicht unterdrückten Völker sich in vielfältigen Formen
ausprägt, je nachdem, ob wir den Nationalismus der herrschenden oder der
unterdrückten Klasse betrachten.
Viel einheitlicher ist der Nationalismus der
unterdrückten Völker, dessen Produktionsleben sich in anomalen Bedingungen
abspielt. Die Produktionsbedingungen heißen anomal, wenn, wie wir oben sagten,
das Territorium oder die Schutzformen, d. h. die politische
Selbständigkeit, die Freiheit der Sprache und der kulturellen Entwicklung
eingeengt sind oder ganz und gar fehlen. Bei derartig anomalen Bedingungen wer
den die Interessen der Klassen dieser Nation harmonisch. Durch den äußeren
Druck, der die Produktionsbedingungen stört und desorganisiert, werden die
Produktionsverhältnisse und der Klassenkampf selbst in ihrer Entwicklung
gehemmt. Die Klassengegensätze werden auf anormale Weise gedämpft, die nationale
Solidarität gewinnt immer mehr an Kraft. Abgesehen davon, dass durch den äußeren
Druck die besonderen Interessen jeder einzelnen Klasse gestört werden, dass die
Bourgeoisie auf dem Markt behindert wird und dem Proletariat
die Freiheit fehlt, den Arbeitsplatz zu beherrschen, ist allen Individuen der
Nation gemeinsam das Gefühl des äußeren Druckes; sie empfinden und wissen, dass
es nationaler Druck ist, dass er von einer fremden Nation herrührt und
gegen ihre Nationalität als solche gerichtet ist. Die Sprache bekommt jetzt
einen ganz anderen Sinn als den eines Schutzmittels für den nationalen Markt. Je
mehr die Freiheit der Sprache unterbunden wird, desto stärker fühlt sich der
Unterdrückte ihr verbunden. Kurz, die nationale Frage eines unterdrückten Volkes
löst sich von ihrer Grundlage, von den materiellen Bedingungen des
Produktionslebens ab. Die kulturellen Bedürfnisse bekommen einen selbständigen
Wert; alle Glieder der Nation haben ein Interesse an der Freiheit der
nationalen Selbstbestimmung. Doch schon inmitten des Kampfes für die
nationale Befreiung, werden die Klassenstruktur und die Klassenpsychologie
sichtbar. Die mit den Traditionen im allgemeinen verbundenen Gruppen eines
unterdrückten Volkes sind die mittel- und kleinbürgerlichen Schichten, ganz
besonders aber die "Geistlichen" und die Agrarier. Auch diejenigen Schichten,
die sich der nationalen Erziehung und Literatur widmen, Lehrer, Literaten, geben
ihrem Traditionalismus eine nationale Farbe. Die Hauptbeteiligten an der
nationalen Befreiung eines Volkes sind immer seine fortgeschrittenen Schichten
und die Intelligenz. Haben sich diese Schichten genügend entwickelt, haben sie
sich aus dem Rahmen der eigenen Tradition befreit, so erhält ihr Nationalismus
einen rein realen Charakter. Der Befreiungsprozess ist im Grunde nicht
nationalistisch, sondern national. Der reale Nationalismus entsteht bei den
fortschrittlichen Elementen einer unterdrückten Nation: realer Nationalismus
träumt nicht von der Erhaltung der Traditionen, macht sie größer als sie sind,
lässt sich von der scheinbaren nationalen Einigkeit nicht täuschen, versteht die
Klassenstruktur der Gesellschaft und versucht nicht, die realen Interessen der
verschiedenen Gruppen zu vertuschen. Sein Ziel ist allein die reale Befreiung
der Nation, die Normalisierung ihrer Produktionsbedingungen und -verhältnisse.
Der reale Nationalismus verdunkelt das
Klassenbewusstsein nicht. Er ist nur bei den fortschrittlichen Elementen der
unterdrückten Nationen zu finden. Die fortschrittliche Klasse, das
organisierte, revolutionäre Proletariat einer unterdrückten Nation, prägt ihren
realen Nationalismus in der streng und klar formulierten Forderung aus, welche
als Teil des Minimal - Programms das deutlich aufgerichtete Ziel hinstellt,
dem Proletariat einen normalen Arbeits- und Kampfplatz zu geben, indem man die
Nation in normale Produktionsbedingungen bringt.
Ist dieses Ziel erreicht, so hat der reale
Nationalismus seine Aufgabe erfüllt. Statt der früheren, während des
Befreiungsprozesses bestehenden, erzwungenen und anormalen Solidarität der
nationalen Interessen tritt aufs Neue klar hervor eine gesunde Klassenstruktur
und ein gesunder Klassenkampf.
Aus der Schriftenreihe der "Poale – Zion",
Schweiz 1945, S. 46 – 51.
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10-05-07 |