hebraeisch.israel-life.de / israel-tourismus.de / nahost-politik.de / zionismus.info
Judentum und Israel
haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     

 

Kulturarbeit

Von Martin Buber
Zu den Delegiertentagen der deutschen und der holländischen Zionisten (Februar 1917)

"Kulturarbeit" ist ein irreführendes, im Grunde wohl auch ein irriges Wort. Jedenfalls sagt es nicht oder nicht mehr, was wir wollen; und wir bewahren es nur, weil es nun einmal geläufig, nun einmal wirksam ist, dieses schwerfällige Wort, das mit Erlebnis und Mißverständnis beladen ist. Was wir wollen, dafür ist das Wort "Kultur" zu groß — und zu klein. Wir wollen nicht "Kultur", sondern Leben. Wir wollen das jüdische Leben umgestalten.

Ich erkenne und preise den ewigen jüdischen Geist. Ich ersehne und erhoffe eine neue jüdische Schöpfung. Aber jener und diese können nicht angestrebt, nicht eigentlich gewollt werden. Was wir wollen, geht nicht auf Geist und nicht auf Schöpfung, es geht ganz gewiß nicht auf "Kultur": es geht auf das Leben. Wir wollen das jüdische Leben umgestalten; das heißt: wir wollen aus dem Leben von Juden ein jüdisches Leben machen.

Das Leben von Juden ist das Leben von Einzelnen. Ein jüdisches Leben kann nur das Leben einer Gemeinschaft sein, denn es gibt keine Verwirklichung des Judentums zum Leben, es sei denn in der Gemeinschaft. Wir wollen ein jüdisches Gemeinschaftsleben bauen.

Es gibt in der Gegenwart kein jüdisches Gemeinschaftsleben. Nicht im Westen, nicht im Osten und nicht in Palästina. Was man etwa im Osten jüdische Gemeinschaft nennt, sind nur Trümmer oder Bruchstücke der wirklichen. Die letzte wirkliche jüdische Gemeinschaft war der Zusammenschluß der Chassidim während der ersten Geschlechter der Zaddikim, eine große Flut des Einanderhelfens und Einandererhebens zum vollkommenen Leben. Eine jüdische Gemeinschaft kann nicht von außen hergestellt werden, nicht durch "Eroberung der Gemeinden", nicht durch Erlangung einer ostjüdischen "kulturellen Autonomie" und nicht durch Begründung einer "öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina". Die eroberten Gemeinden werden nicht anders sein als die uneroberten waren, wenn die Menschen, die ihnen vorstehen, sich nur durch das Bekenntnis zum Zionismus von ihren Vorgängern unterscheiden werden. Die kulturelle Autonomie wird den krassen, gierigen, selbstsüchtigen Nationalismus der anderen Völker mitmachen, wenn in ihren Führern nicht der Geist einer neuen Menschheit entbrannt sein wird. Die gesicherte Heimstätte wird ein eigenartiges und bemerkenswertes Unternehmen bleiben und nie zu einem großen organischen Gebilde heranwachsen, wenn die, die sie aufbauen, nicht in allem ihren Tun die Tendenz und die Verantwortung bewähren, eine vorbildliche Gemeinschaft, ein reines und gerechtes menschliches Zusammenleben zu begründen, das heißt: das Judentum zu verwirklichen. — Wohl ist es wahr, daß geänderte Verhältnisse die Menschen ändern, aber die ungeheure Umwandlung, um die es hier geht, die Umgestaltung des jüdischen Lebens von einem entarteten zu einem vollkommenen, kann nur dann gelingen, wenn die Verhältnisse zuinnerst geänderte sind: und das kann nur durch die Führung, die Arbeit und das Opfer von Menschen geschehen, die bereits selber zuinnerst von dem neuen "Wesen ergriffen sind.

Eine jüdische Gemeinschaft ist nur zwischen Menschen möglich, in denen zwei Dinge lebendig sind: wahrhaftes Judentum und wahrhaftes Gemeinschaftsgefühl. Beides ist im Wesen eins, aber im Erleben geschieden.

Juden, in denen Judentum ohne Gemeinschaftsgefühl lebendig wurde, sind unfruchtbar. Juden, in denen Gemeinschaftsgefühl ohne Judentum lebendig wurde, gehen in die Irre.

Judentum ohne Gemeinschaftsgefühl in einem Juden, das ist Geist ohne Werk, Glaube ohne Opfer. Aber Gemeinschaftsgefühl ohne Judentum in einem Juden, das ist Fehlwerk, Fehlopfer. Der erste weiß, aber tut nicht. Der zweite tut, aber er tut falsch; denn er weiß nicht, daß seine Saat auf den Acker gehört, den er verschmäht hat - auf den Acker, der ihn, gerade ihn brauchte. Man frage nicht nach Beweisen: dieses Wissen läßt sich nicht durch Beweise beibringen, man muß zu ihm erwachen.

So ist denn dies das Erste: das Erwachen zum Judentum. Aber nur das Erste. Wer dabei stehen bleibt, dem wäre besser, er hätte weiter geschlafen. Selbstentdeckung ist kein Ziel, sondern eine Voraussetzung. Der hat sein Judentum schlecht entdeckt, der nicht erfahren hat, daß es ohne Verwirklichung nichts ist, und daß es nur in der Gemeinschaft verwirklicht werden kann. Zum jüdischen Bewußtsein muß, damit es zu Leben werde, Gefühl der Gemeinschaft, Verlangen nach Gemeinschaft, Wille zur Gemeinschaft treten.

Zwei Dinge also gibt es zu wecken, zu zwei Dingen zu erziehen: zum Judentum und zur Gemeinschaft. Soziale Erziehung ohne nationale wäre ein Wirken im Traum; aber nationale Erziehung ohne soziale wäre ein Wachen im Wahn.

Bei andern Völkern genügt die soziale Erziehung oder soll vielmehr genügen. Denn aus zwei Elementen richtet sich die Gemeinschaft auf: aus dem Volkszusammenhang und der rechten Menschenliebe. Das erste dieser zwei ist bei den Völkern von vornherein da, unangetastet; nur zu dem zweiten muß aufgerufen werden. Anders ist es bei uns. Wir müssen den Volkszusammenhang erst wiederherstellen, indem wir ihn in den Herzen stiften und bestätigen durch Erweckung der Erinnerung, der Sehnsucht, der Hoffnung.

Dieses nationale Bewußtsein der Herzen aber muß sich vollenden in dem großen Gefühl, daß es nicht allein Zusammenhang mit einer Idee, mit einer Volksseele, mit überlieferter Größe und verkündeter Wiedergeburt gilt, sondern Zusammenhang mit einer menschlichen Wirklichkeit und Gegenwart, mitlebenden, helfenden, dienenden Liebeszusammenhang mit Menschen von Fleisch und Blut, aus denen, mit denen die große jüdische Gemeinschaft aufgerichtet werden soll. Die große Gemeinschaft, deren Wurzelkeim auch noch in den Elendsten, Bresthaftesten dieser Menschen unzerstört, ja sogar in den Abgearteten, den Machtlüsternen, den Angepaßten nur — freilich oft unrettbar — verschüttet ist. Jenen gilt es zu helfen und zu dienen, diese zu züchtigen und zu erschüttern, mit beiden in dieser unerbittlichen und verheißungsvollen Welt zu leben. Erziehung zu solchem schweren, ernsten, niederreißenden und aufbauenden Zusammenhang ist jüdische Erziehung, ist "jüdische Kulturarbeit".

Zurück

Zurück zur Übersicht

hagalil.com 10-05-07

hagalil.com
Search haGalil
e-Postkarten


DE-Titel
US-Titel

Books

Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2006 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved