Revisionismus
Von Richard Lichtheim, Berlin
in: Parteien und Strömungen im Zionismus in Selbstdarstellungen
(Schriften zur Diskussion des Zionismus No. 5), Herausgegeben von der J.A.
"Barissia" Prag, Prag 1931, S.10-12.
I.
Die revisionistische Bewegung: im
Zionismus ist eine Schöpfung Vladimir Jabotinskys. Als Folge seiner Kritik
an den Methoden und an der Anschauungsweise des "offiziellen Zionismus"
bildeten sich im Zeitraum von 1923 bis 1925 lose Gruppen, meist aus wenigen
Personen bestehend, die Jabotinskys Meinungen aufnahmen und weitertrugen.
Nach einem Vortrag in der "Hasmonäa" in Riga wurde der Beschluss gefasst,
der Bewegung organisatorischen Ausdruck zu geben. Im Jahre 1925 fand in
Paris die erste revisionistische Konferenz statt, die das Programm
formulierte. Es folgten weitere Konferenzen der "Union der
Zionisten-Revisionisten" in Paris (1926), Wien (1928), Prag (1930).
Parallel mit der Entwicklung der Union
vollzog sich der Aufstieg des Brith Trumpeldor, einer Jugendorganisation,
die formell von der revisionistischen Union unabhängig, jedoch durch
Gesinnung und Tat eng mit ihr verbunden ist.
Die Bewegung wuchs verhältnismässig
rasch, ihre Anschauungen und Forderungen wurden populär, ihr Programm bildet
heute den Hauptpunkt innerzionistischer Debatten. Sieg oder Niederlage des
Revisionismus wird den Charakter des Zionismus in der Zukunft entscheidend
bestimmen.
Im Jahre 1925 konnte Jabotinsky auf dem
Wiener Kongress nur vier Delegierte um sich scharen. Auf dem Kongress des
Jahres 1927 in Basel war die Union schon durch zehn Delegierte vertreten, in
Zürich waren es zweiundzwanzig. Auf dem bevorstehenden Kongress wird
voraussichtlich eine sehr starke revisionistischen Fraktion erscheinen.
Nach der Prager Konferenz vom August
1930 wurde das Zentralbüro der Union nach London verlegt. Die Bewegung wird
von einem Parteirat und einem Exekutivkomité geleitet, an dessen Spitze ein
Präsidium aus drei Personen steht. Der Vorsitzende ist Jabotinsky.
Im Aktionskomité ist die Union zur Zeit
durch Grossmann, Lichtheim und Dr. Soskin vertreten.
II.
Das Programm des Revisionismus ist aus
der Kritik bestehender Zustände und Methoden hervorgegangen. Es war daher
nur natürlich, dass es heftige Gegnerschaft bei all denen auslöste, die mit
dem herrschenden System einverstanden waren, und dass der gesamte Apparat
des "offiziellen" Zionismus sich gegen die Bewegung wandte. Wenn trotzdem
der Revisionismus schon in wenigen Jahren so viele Anhänger fand, wenn der
jetzige Präsident der zionistischen Organisation mit bitterer Klage über die
"zahlreichen Krypto-Revisionisten" spricht, die er in Palästina angetroffen
habe, so beweist dies, dass der Revisionismus Gedanken und Forderungen
repräsentiert, die heute in sehr weiten Kreisen der zionistischen Bewegung
nach Ausdruck ringen.
Versuchen wir, auf knappem Raum die
Hauptthesen des Revisionismus zu entwickeln und sie mit den widerstreitenden
Thesen der bisher herrschenden Richtung zu konfrontieren.
Auf politischem Gebiet wandte
sich der Revisionismus gegen die immer wieder von der zionistischen Leitung
wiederholte Behauptung, dass das in Palästina herrschende Verwaltungssystem
jede mögliche Ausbreitung der zionistischen Kolonisationsarbeit ermögliche,
dass die politische Lage "sehr befriedigend" und der Fortschritt unserer
Arbeit nur von der Anstrengung der Juden abhängig sei.
Hierin erblickte der Revisionismus einen
gefährlichen Irrtum. Nicht erst als Folge der Unruhen des Jahres 1929 und
der sich anschliessenden politischen Niederlagen, sondern aus
grundsätzlichen Erwägungen, aus ernsthafter Durchdringung der politischen
Situation, stellte der Revisionismus die warnende Forderung nach Schutz
der jüdischen Bevölkerung und nach Kolonisationsregime auf - das heisst
nach einem wirtschaftlich-politischen Plan, der mit der Mandatarmacht
vereinbart und von ihr angewandt werden müsse. In der Durchsetzung eines
solchen Planes sah der Revisionismus die zentrale Aufgabe der zionistischen
Politik. Ob dieser Plan früher oder später, ganz oder teilweise durchsetzbar
sei — diese Frage konnte Gegenstand der Erörterungen sein. Ausser Zweifel
aber musste es stehen, dass der grundsätzliche Verzicht auf solchen Plan,
die Leugnung seiner Notwendigkeit, die Katastrophe der zionistischen Politik
unvermeidbar machte. Im Jahre 1927 schrieb ich in einem Wahlaufruf zum
Kongress: "Die Leitung behauptet,, dass die politische Lage sehr
befriedigend sei, dass alles von ihrer Seite geschehe, was politisch
geschehen könne, und dass unter den jetzigen politischen Bedingungen
die nationale Heimstätte in Palästina errichtet werden könne, wenn das
jüdische Volk genügend Geld hergäbe.
Demgegenüber stellen wir fest: die
politische Lage ist nicht befriedigend. Keine einzige der im Mandat
vorgesehenen Massnahmen, durch welche die Mandatarmacht die jüdische
Kolonisation fördern sollte, ist bisher zur Ausführung gelangt. Die Aufgabe
besteht darin, die toten Buchstaben des Mandats zum Leben zu erwecken. Die
Kolonisation Palästinas ist eine staatliche Aufgabe und kann ohne Mithilfe
des Staates nicht gelöst werden. Die erforderlichen Massnahmen würden sich
aus einem Kolonisationsplan ergeben, der gemeinsam von der Jewish Agency und
der Landesverwaltung aufzustellen wäre. Von der jetzigen Leitung ist nach
ihren Taten und Erklärungen der letzten Jahre nicht zu erwarten, dass sie in
dieser Richtung arbeitet. Sie ist mit dem heutigen Zustand zufrieden. Wir
protestieren gegen die verhängnisvolle Haltung der Leitung, die, um sich zu
behaupten und ihre eigene Unfehlbarkeit zu beweisen, abwechselnd den
Sachwalter arabischer oder angeblicher englischer Interessen spielt, weil
sie nicht den Mut, die Einsicht und das Verantwortungsgefühl besitzt,
Sachwalter der jüdischen Palästinainteressen zu sein."
Diese vor vier Jahren ausgesprochene
Kritik, in der Kerngedanken des Revisionismus nochmals formuliert wurden,
hat durch die Ereignisse der beiden letzten Jahre eine schreckliche
Betätigung erfahren. In der Tat konnten weder die Engländer noch die Araber
gleich der zionistischen Leitung die Augen und Ohren schliessen, und die
Entwicklung sich selbst überlassen. Die Araber erneuerten von Jahr zu Jahr
ihren, von uns stets als natürlich und unvermeidbar angesehenen Widerstand
gegen die jüdische Einwanderung und Kolonisation. Keine noch so geschickte
Formulierung der jüdischen Zielsetzung in Palästina, auch nicht die
weitgehendsten Kompromissvorschläge des Brith Schalom konnten diese
Widerstände besiegen, solange die Araber hoffen durften, durch Protest,
Gewaltakt und die Hilfe englischer Beamtenkreise die Zionisten von Palästina
abzuschrecken. An dieser Situation hat sich nichts geändert, im Gegenteil,
der Widerstand der Araber ist durch die Erfahrungen der letzten Jahre immer
mehr erstarkt. Sie haben gelernt, dass ständiger politischer Kampf Erfolge
bringt, dass Proteste helfen, ja dass sogar blutiges Unrecht, das sie
begehen, eine Waffe mehr in dem Ringen um Palästina sein kann.
Warum? Weil England das Schwert und die
Wage hält. Und weil die englische Politik, unbeschwert durch Prinzipien,
tastend und langsam, bald ausweichend, bald vordringend, stets den Weg des
geringsten Widerstandes sucht.
Die Araber schrieen und drohten, klagten
und mordeten. Die Zionisten veranstalteten Bankette und fanden die Lage
"sehr befriedigend". So musste es zu Unruhen, zum Verbot der Einwanderung,
zum Skandal des Shaw-Berichtes und des Weissbuches kommen, das trotz des
Beschwichtigungsbriefes Mac Donalds in Kraft ist.
Nun ist die zionistische Politik in die
Defensive gedrängt. Weil sie acht Jahre lang die Wirklichkeit nicht sehen
wollte, kam diese Wirklichkeit plötzlich über sie: Die Landfrage, die
Fellachen- und Effendifrage, das Problem der Aufnahmsfähigkeit des Landes,
alle diese Fragen, die von uns rechtzeitig begriffen und im zionistischen
Sinne gemeinsam mit der Regierung hätten gelöst werden müssen — sie wurden
nun von unseren Feinden gegen uns gewendet, in falscher Beleuchtung
dargestellt, zum Verderb des Zionismus ausgespielt. Es ist untilgbare Schuld
der bisherigen zionistischen Führung, diese Situation durch ihre Blindheit
selbst herbeigeführt zu haben.
Das ist die Anklage des Revisionismus
gegen das bisher herrschende System.
Wie kann die Lage gebessert werden?
Durch stetige politische Arbeit, die zunächst das Trümmerfeld aufräumt, das
diese Führung hinterliess. Der angerichtete Schaden ist zu gross, als dass
ein jäher Umschwung zu unseren Gunsten erwartet wenden könnte. Aber die
politische Aufgabe bleibt dieselbe, solange England der Mandatar über
Palästina ist. Der Aufbau des Landes ist eine Staatsaufgabe. Sie kann nur
mit Hilfe Englands gelöst werden. Eine passive Regierung bedeutet eine
feindliche Regierung — und dann beginnt wiederum der Pogrom.
Die Aufgabe unserer Politik ist schwerer
geworden, aber sie ist lösbar. Es ist Vernunft und Sinn in dem Gedanken,
dass unter englischer Oberhoheit ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina
errichtet wird. Aber die Lösung dieser Aufgabe wird nicht gelingen, wenn die
Führung der jüdischen Politik weiter in den Händen von Menschen bleibt, die
das ABC der Weltgeschichte nicht verstehen.
Der Widerstand der Araber wird nie ganz
aufhören, solange wir noch nicht so stark in Palästina geworden sind, dass
die Errichtung der jüdischen Heimstätte den Arabern als fait accompli
erscheint. Erst dann wird die Zeit der Verständigung gekommen sein.
Bis dahin brauchen wir das
Kolonisationsregime, das heisst den Schutz und die Führung der
Mandatarmacht. Ohne Brutalität, ohne Verdrängung der Araber kann und soll
die jüdische Heimstätte errichtet werden. Je fester England sich
entschlossen zeigt, seine im Mandat vorgeschriebene Aufgäbe zu erfüllen,
umso geringer wird der arabische Widerstand werden. Was England bisher tat —
von der feindlichen Haltung Allenbys zur Feigheit Samuels und schliesslich
zur kühlen Gegnerschaft Chancellors — musste den arabischen Widerstand
immer aufs neue entfesseln.
Der Schlüssel zur Lösung der arabischer
Frage Palästinas liegt in London. Unsere Führung hat ihn zu finden. Das ist
die Aufgabe der zionistischen Politik. Es gibt keine andere.
III.
Auf dem Gebiet der Wirtschaft lehnt der
Revisionismus die Praxis der bisherigen Leitung ab und fordert eine
Neuorientierung.
Die Praxis der Leitung bestand im Grunde
nur in der Geldsammlung. Zionistische Organisation und "erweiterte" Jewish
Agency dienten eigentlich nur der Sammlung für den Keren Hajessod. Mit
dessen Geldern wurde das Schul- und Sanitätswesen unterstützt, der
Beamtenapparat unterhalten und das von der Arbeiterorganisation in eigener
Regie durchgeführte Siedlungswerk subventioniert. Es fehlte an jedem
grosszügigen Plan, an jeder Förderung der Industrie, an jeder Förderung der
jetzt so sehnlich herbeigewünschten Mittelstands-Einwanderung. Der alles
überwuchernde Einfluss der Arbeiterorganisation liess es nicht zu, dass
wenigstens Teile des Keren Hajassod der Schaffung von Kreditinstitutionen,
der Förderung selbstständiger Existenzen dienstbar gemacht wurden.
Nun ist es aber unmöglich, Palästina nur
durch Subventionen aufzubauen. Heute schon ist die Privatinitiative
wichtiger als der Keren Hajessod.
Es galt, in Palästina die Vorbedingungen
für eine grössere Immigration zu schaffen — nicht bloss Immigranten zu
unterstützen. Es galt, einen Plan der Landentwicklung, einschliesslich
Transjordaniens durchzuführen, nicht nur einige Dörfer zu gründen. Die
Einzelheiten des revisionistischen Wirtschaftsprogrammes können hier nicht
dargestellt werden. Förderung der Privatinitiative, des Kreditwesens, der
intensiven Wirtschaftsformen in der Landwirtschaft, Erschliessung der
Wasserwirtschaft und Anregung der Industrie sind seine wichtigsten Punkte.
Entscheidend sind auch für die
Wirtschaftsentwicklung die politischen Vorbedingungen. Wenn das jüdische
Volk Vertrauen zur Mandatarmacht hat, so wird es auch bereit sein,
Arbeit und Kapital nach Palästina zu tragen. Wenn in Palästina eine
rückständige, unfähige oder gar feindselige Kolonialbürokratie herrscht, so
muss der jüdische Enthusiasmus erlahmen. Wir Zionisten wissen, dass unsere
Arbeit unter allen Umständen fortgesetzt werden muss. Aber wir wissen ebenso
gut, dass das jüdische Volk noch weit mehr als bisher für Palästina leisten
könnte, wenn es mit Glauben und Vertrauen an seine Arbeit gehen
dürfte.
Die Haltung der Regierung, die
Unfähigkeit und Planlosigkeit der zionistischen Leitung haben diesen Glauben
und dieses Vertrauen schwer erschüttert. Wirtschaft und Politik sind eng
verknüpft. Es muss daher in Zukunft nach ganz neuen Methoden gearbeitet
werden. Bedingungen, nicht Dinge, Wirtschaft, nicht nur Geldsammlung heisst
die Parole.
IV.
Die innere Politik der
zionistischen Führung hat zur Schwächung der Zionistischen
Organisation geführt.
Die "Erweiterung" der Jewish Agency hat
sich als Fehlschlag erwesen, wie dies der Revisionismus im Voraus gesagt
hat. Das monströse Doppelgebilde dieser Agency mit seinen zahlreichen
Körperschaften (Kongress neben Council, Aktionskomité neben Administrative
Comité, Exekutive der Zionistischen Organisation neben Exekutive der Agency)
hat einen Wirrwarr in den Kompetenzen, riesige Geld- und Zeitvergeudung
verursacht. Die Erfolge sind ausgeblieben, jedenfalls stehen sie in keinem
Verhältnis zu der Schädigung der Zionistischen Organisation.
Die "erweiterte" Agency ist schon im
Sterben, bevor sie noch richtig gelebt hat.
Der Revisionismus wünscht die
Kooperation mit anderen Jüdischen Kreisen — aber in vernünftiger Form und
nicht um den Preis des Verzichts auf zionistische Propaganda und auf
Stärkung der eigenen Organisation. Die politische Führung muss eine
zionistische Führung sein.
Darum verlangt der Revisionismus die
Reform dies jetzigen Agency-Gebildes. Per Kongress muss eine Lösung finden,
die die Autonomie und Entwicklungsmöglichkeit der Zionistischen Organisation
wieder herstellt. Es ist der Sinn der Zionistischen Organisation, dem
nationalen Wollen des neuen Juden, den Herzl schuf, die Möglichkeit der
Aktion zu geben. Es gilt, aus der Zionistischen Organisation wieder eine
Kraftquelle der Bewegung zu machen, den Zionismus und nicht die
Geldsammelmaschine aus ihr zu speisen.
V.
Der Gegensatz zwischen Revisionismus und
Arbeiterschaft besteht nicht so sehr in der verschiedenen Betrachtungsweise
der sozialen Probleme Palästinas, als vielmehr in der Behandlung
kongresspolitischer Fragen. Warum sollte eine Bewegung "arbeiterfeindlich"
sein, die die Schaffung zahlreicher Industrien, eine möglichst grosse
Immigration und die Ansiedlung von Chaluzim in intensiv bewirtschafteten
Kleinbetrieben will? Wir verteidigen nicht die Interessen des Kapitals oder
des Grossgrundbesitzes. Was wir an der Arbeiterorganisation in Palästina
bekämpfen, ist ihre Einseitigkeit und ihr Machthunger, der sie treibt, alle
Mittel der Bewegung in ihre Hand zu bekommen. Wir wollen, dass das ganze
jüdische Volk am Palästinaaufbau teilnimmt, dass nicht nur die
Arbeiterschaft, sondern alle Kreise des Jischuw von der Zionistischen
Organisation gefördert werden.
Wir bekämpfen die unnötige Zuspitzung
sozialer Konflikte, die dogmatische Anwendung europäischer
Klassenkampfbegriffe in einem Lande, das eben erst durch Pionierarbeit
erschlossen werden soll. Wir fordern für dieses Pionierstadium die
Unterordnung aller Schichten — der Unternehmer und Kolonisten nicht weniger
als der Arbeiter — unter die primäre Notwendigkeit nationaler Einigkeit. Wir
fordern daher konkrete Arbeitsvermittlungsbüros und obligatorische
Schiedsgerichte zur Vermeidung von Streiks. Das will die
Arbeiterorganisation nicht — weil sie diktieren will. Wir bekämpfen es, dass
die Gewerkschaftsbewegung in Palästina Instrument des innerzionistischen
Kampfes wird und dass Arbeiter verfolgt werden, weil sie nicht
Weizmann-Gläubige, sondern Anhänger Jabotinskys sind. Wir werfen der
Arbeiterorganisation vor, dass sie durch Unterstützung der Agency-Politik
die zionistische Bewegung geschwächt und ihren demokratischen Charakter
vernichtet, dass sie im Tanz um das goldene Kalb die besten Grundsätze des
Zionismus preigegeben hat.
Nicht die "soziale Frage" im
europäischen Sinne also ist es, die trennend zwischen uns und der
Arbeiterorganisation steht — ihre Kongresspolitik, ihre Unterstützung; des
Weizmannkurses durch dick und dünn, ihre unberechtigten Machtansprüche haben
den tiefen Gegensatz geschaffen. Dieser Gegensatz mag zur Zeit
unüberbrückbar scheinen — aber Revisionismus und Arbeiterschaft bedeuten
keine ideologischen Gegensätze.
VI.
Das Ziel des Zionismus ist der
Judenstaat. Darunter verstehen wir ein jüdisches Gemeinwesen zu beiden
Seiten des Jordans, das auf der jüdischen Majorität im Lande festgegründet
ruht. Jede Zielsetzung, die etwas anderes erstrebt, lehnen wir ab.
Die Ansiedlung einer gewissen Anzahl von
Juden in Palästina, die dort gemeinsam mit einer arabischen
Bevölkerungsmehrheit einen "binationalen" palästinensischen Staat errichten,
mag vom Standpunkt jüdischer Philantropie erwünscht sein; sie wird auch von
jeder Mandatarmacht begrüsst werden, die so mit Hilfe Jüdischen Kapitals,
jüdischer Arbeit und Intelligenz das kulturelle und wirtschaftliche Niveau
der Bevölkerung und die Steuerkraft des Landes zu heben vermag. (Eben darum
ist dieser Kleinzionismus so gefährlich: er bildet zur Zeit die Linie des
geringsten Widerstandes für die englische Politik.)
Niemals aber kann solche Zielsetzung den
Zionisten befriedigen. Zionismus ist ja gerade der Versuch, das jüdische
Volk aus seiner tragischen Rolle der Minderheit zu erlösen, ihm die
nationale Freiheit im eigenen Lande zu geben. Freiheit heisst
Selbstbestimmung. Diese ist nur auf dem Boden der eigenen Heimat möglich und
nur dann, wenn das Volk an Zahl und Kraft stark genug ist, sich kulturell,
wirtschaftlich und politisch auf diesem Boden zu behaupten — d. h. wenn es
Majorität ist. Wenn aber die zionistische Bewegung nur dazu führt, dass eine
jüdische Minorität Teil eines Staatswesens mit arabischer Majorität wird, so
hat der Zionismus seinen Sinn eingebüsst. Dann haben wir ein neues Ghetto in
Arabien. Der B'rith Schalom und die unter seinem Einfluss stehende
zionistische Führerschaft versucht wohl, der Konsequenz seines eigenen
Gedankens auszuweichen.
Sie denkt sich einen, aus
jüdisch-arabischem Verständigungswillen erwachsenden palästinensischen
Zukunftsstaat, der gar kein Staat, sondern ein in Harmonie ruhendes
Nebeneinander Zweier Völker darstellt. Jedes Machtprinzip soll ausgeschaltet
sein. Die Frage Majorität oder Minorität wird dann einfach als bedeutungslos
betrachtet. Alle Konflikte lösen sich, und wenn sie sich heute noch nicht
lösen wollen so befriedigt doch das ethische Pathos, mit dem diese
Konzeption vorgetragen wird.
In Wirklichkeit ist dieser Gedanke
Selbsttäuschung und ein ideologischer Sprung über die Wirklichkeit hinweg.
Niemals werden die Araber, die vorläufig im Besitze der Majorität sind,
solche Ideen in sich aufnehmen. Sie wollen ganz einfach Palästina für sich
behalten. Es liegt in der Natur nationaler Bestrebungen, keine Position
freiwillig zu räumen, sondern, umgekehrt, möglichst zu erweitern: Wir wollen
Land, viel Land, so viel Land wie möglich. Wir wollen die wirtschaftlichen
Schlüsselpositionen, wir wollen so viele jüdische Einwanderer wie dar Boden
zu tragen vermag. Die Araber wollen dem nicht zustimmen. Sie wollen für sich
das Gleiche: Ein Maximum an Boden, an wirtschaftlicher Stärke, an Einfluss
im Lande.
Zwischen diesen beiden nationalen
Tendenzen kann es zunächst keinen für beide Seiten annehmbaren Ausgleich
geben. (Die Schweiz mit ihrer tausendjährigen Kultur und geographischen
Abtrennung ihrer national verschiedenen Bewohner ist kein zum Vergleich
taugliches Beispiel.)
Der Ausgleich kann immer erst eintreten,
wenn ein Stadium erreicht ist, in dem eine sichtbare Beruhigung und
Stabilisierung der Kräfte eingetreten ist, d. h. in unserem Fall, wenn wir
bereits ein jüdisches Gemeinwesen in Palästina haben, an dessen Existenz die
Araber nicht mehr rütteln können. Das Idealgebilde des Brith Schalom ist
daher eine Utopie.
Ist es den Zionisten ernst mit ihrem
Palästinastreben, ernst mit dem Wunsch, eine jüdische Heimstätte in
Palästina zu errichten, so müssen sie ihre Zielvorstellung und ihre
politische Methode dem grossen Gedanken der befreiten jüdischen Nation und
den harten Gesetzen der Geschichte anpassen.
Nicht aus Intoleranz gegenüber den
Arabern, sondern weil nur so die jüdische Kolonisation durchführbar ist
weisen wir den arabischen Anspruch auf eine "arabisch-nationale" Heimstätte
in Palästina zurück. Die Araber sollen weder bedrückt noch verdrängt werden.
Sie werden weiter in dem Lande wohnen, das durch jüdische Arbeit sich zur
nationalen Heimstätte für das jüdische Volk umgestalten soll. England und
der Völkerbund haben in der Balfour-Deklaration und im Mandat klar
anerkannt, dass die Juden ein "nationales Heim" in Palästina erhalten
sollen, während den Arabern nur der Schutz ihrer bürgerlichen. und
religiösen Rechte zugestanden wurde.
Wenn heute der Brith Schalom oder
ähnlich denkende Kreise diese Formulierung für ungerecht halten und die
völlige Gleichartigkeit des jüdischen und des arabischen Anspruches auf
Palästina behaupten, so kann man nur sagen, dass ihre Propaganda sich gegen
das Ersterfordernis der zionistischen Politik wendet: nämlich gegen unser
unbedingtes Festhalten an der Besonderheit unseres nationalen Anspruches auf
Palästina.
Für uns ist Palästina die historische
Heimat, für die Araber nicht. Wir brauchen Palästina für unser heimatloses
Volk, die Araber verfügen rings um die Zentren ihrer ehemaligen Kultur über
riesige ganz unentwickelte Gebiete. Wir sind im Stande, die Umwandlung
Palästinas zu beiden Seiten des Jordan in ein von mehreren Millionen Juden
und vielleicht einer Million Arabern bewohntes modernes
Kulturland zu vollziehen. Die Araber vermögen das nicht. Wenn die
Gerechtigkeit darin besteht, diese Umwandlung Palästinas in ein jüdisches
Gemeinwesen zu verhindern, weil hunderttausend1 arabische Fellachenfamilien
damit nicht einverstanden sind, oder weil der Mufti und die Effendis -das
Ende ihrer Vormacht im Lande fürchten, so können wir uns mit solcher
Auffassung von Gerechtigkeit nicht abfinden. Wir kämpfen für unseren
Anspruch. Es mag sein, ja es ist sicher, dass wir unter den heutigen
Verhältnissen nach zehn Jahren schlechter Politik und dauernder Rückschläge
diesen Anspruch — der im Mandat klar anerkannt wurde — nicht über Nacht
verwirklicht sehen werden. Aberweit schlimmer als der äussere Misserfolg ist
der innere Verzicht. Gegen diesen Verzichtzionismus, der den Sinn der;
Bewegung zum Unsinn macht, der sich mit der Illusion eines konfliktlosen, im
ewigen Gleichgewicht aller Kräfte märchenhaft im Räume schwebenden
Gerechtigkeitsstaates zu trösten sucht — gegen diesen ethisch geschmückten,
aber hoffnungslos unpolitischen Anti-Judenstaats-Zionismus wendet sich der
ideologische Kampf des Revisionismus.
Die Gefahr des Verzichtzionismus ist
eine dreifache: In der politischen Welt, in England und im Völkerbund wird
durch ihn der Gedanke verbreitet, die Juden selbst hätten eingesehen, dass
der Traum vom Judenstaat unausführbar sei, ja, dass er ein Unrecht an den
Arabern bedeute. Damit wird unsere politische Situation untergraben. Ferner:
die Möglichkeit, trotz aller heute bestehenden Schwieriegkeiten zu dem
erstrebten prozionistischen Kolonisationsregime zu kommen, hängt von der
Einschätzung der praktischen Bedeutung des Zionismus durch England ab. Die
Mandatarmacht, die gerne den Weg des geringsten Widerstandes wählt, kann
sich mit einem unbedeutenden Kleinzionismus ganz gut abfinden, ja sie kann
ihn recht gut verwenden. Aber so gelangen wir niemals zu einer ernsthaften
Förderung des Zionismus, sondern zur Fortsetzung der bisherigen Methode. Das
Kolonisationsregime kann nur dann von England erwartet werden, wenn die
Zionisten es verstehen, ihre Sache, die eine grosse und ernste Sache ist,
auch als solche darzustellen. Mit der Brith-Schalom-Ideologie kann man
freundliche Worte, niemals die aktive Unterstützung einer Grossmacht
gewinnen. Man muss heute leider sagen, dass unsere Position in England so
heruntergewirtschaftet worden ist, dass die Aufgabe der Gewinnung Englands
zur Unterstützung des Zionismus äusserst schwierig erscheint. Aber heute ist
die Mandatarmacht gezwungen — durch die Ereignisse gezwungen — ihre Politik
des Laissez aller aufzugeben und in die künftige Gestaltung Palästinas
einzugreifen. Ihre Entscheidung wird wesentlich davon beeinflusst werden,
wie sie die Zukunftsmöglichkeiten des Zionismus beurteilt. Ein jüdischer
Kulturstaat im vorderen Orient unter englischer Oberhoheit kann einer
Anstrengung der Engländer wert sein. Eine kleine Siedlung inmitten einer
arabischen Majorität..? Wenn dies das Ziel der Juden selbst ist, kommt
England lieber den Arabern entgegen. Man sagt, wir werden bei England doch
nichts erreichen? Nun, dann war die Balfourdeklaration ein Irrtum und das
Mandat ein Schwindel. Zumindest müssen wir es doch versuchen. Das Beharren
auf unserem Ziel, die unermüdliche Bestrebung, die Mandatarmacht für unsere
Pläne zu gewinnen, Misserfolge hinzunehmen, ohne uns dadurch zu entmutigen
und von diesen Plänen abbringen zu lassen - das ist die politische Methode
des Zionismus.
Endlich: Die schlimmste Folge jener
Verzichtstimmung im Zionismus, jener literatenhaft-unwirklichen Brith
Schalom-Konzeption ist der Niedergang der Bewegung selbst. Kein
Ziel mehr, keine Idee, die den Juden der Welt begeistern und zum nationalen
Opferdienst fähig machen kann, keine Hoffnung für die Jugend, die sich ihr
Land erbauen möchte
— was übrig bleibt, ist Philantropie, Geldsammlung und eine selbstgefällige
Predigt von der ethischen Reinheit unseres Ideals. Palästina erscheint ganz
im Geiste der einst vom Zionismus bekämpften
Missionstheorie als jüdisches Symbol, nicht mehr als jüdische Wirklichkeit.
Die "Arbeit für Palästina" tritt an die Stelle der "prophetischen Mission".
Beide sind Gegenstand der Predigt, aber nicht Tatsachen des Lebens.
So endet der Zionismus dort, wo er
begann, von wo er zu entrinnen hoffte: In der Galuth.
Dieser gedanklichen Entartung, die heute
den Zionismus bedroht, die seine nationale Organisation zerstört, seine
Werbekraft aushöhlt, tritt der Revisionismus entgegen. Wenn wir vom Ziel,
vom Judenstaat sprechen, so geschieht es, weil die Bewegung in Gefahr ist,
den Sinn ihres Daseins preiszugeben. Das Ziel ist fern und hoch aber nur
dieses Ziel macht das zionistische Dasein lebenswert.
Und nur das Streben zu diesem Ziel kann
Menschen, kann Charaktere bilden, die die Kraft des Leidens und Beharrens
besitzen, um gegen alle Hindernisse der äusseren Welt in immer erneuter
Anstrengung um Palästina zu ringen und jene zionistische Politik zu
gestalten, deren Grundsätze Herzl uns gelehrt hat:
"Ein Volk muss sich selbst helfen! Kann
es das nicht, so ist ihm eben nicht zu helfen."
Und: "Die Juden, die wollen, werden
ihren Staat haben und sie werden ihn verdienen".
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10-05-07 |