Gedanken beim Rückblick auf ein
Vierteljahrhundert Misrachi
Von Prof. H. Pick,
Jerusalem
in: Misrachi. Festschrift herausgegeben
anlässlich des 25jährigen Jubiläums der Misrachi-Weltorganisation vom
Zentralbüro des Misrachi Deutschland, Berlin 5687, S. 26-30.
Der Zionismus bedeutet der Sache und der
Form nach etwas Neues in der jüdischen Geschichte. Er stellte die Forderung
nach der öffentlich rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina und schuf
sich als Vertreter und Kämpfer für diese Forderung die zionistische
Organisation und den Kongress. Das ist das sachlich Neue. Und der Form nach
ist es neu, dass zum ersten Mal seit dem Aufhören jüdischer Staatlichkeit
eine Parteibildung erfolgte, deren Grundlagen nicht religiöser, sondern
politisch-internationaler Natur waren (vom "Bund" kann man in diesem
Zusammenhang nicht als jüdischer Partei sprechen). Wir kennen Sadduzäer und
Pharisäer, Karäer und Rabbaniten, Chassidim und Mithnagdim, in neuerer Zeit
konservatives und liberales Judentum. Bei allen beruht der Gegensatz auf
Verschiedenheit der religiösen Auffassungen.
Die bisherigen Parteien des Judentums
differenzierten sich nach religiösen "Merkmalen" und strebten auseinander,
der Zionismus suchte das durch solche Differenzierungen entstehende
Sichauseinanderleben durch die Betonung eines gemeinsamen politischen
Momentes zu überbrücken.
Dem Zionismus lag vor allem daran, in
der Organisation vorerst die nationale Heimstätte gleichsam symbolisch
darzustellen. Was allen anderen Völkern als selbstverständlich gilt und
unbewusst vor der Assimilationsepoche allen Juden selbstverständlich war,
musste nun, wo es Deutsche, Russen usw. jüdischen Glaubens gab,
erst wieder dokumentiert werden, nämlich die Zugehörigkeit zur jüdischen
Nation. Für diese jüdische Nation erstrebt der Zionismus die öffentlich
rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina. Wie aber in jeder
Volksgemeinschaft, gibt es — nachdem einmal in der Organisation
sich der gemeinsame nationale Wille dokumentiert — auch bei uns
verschiedene Auffassungen über die Aufgaben der Gemeinschaft und ihre
Verwirklichung; mit anderen Worten: im Staat, bei uns im antizipierten
Staat, der Organisation, muss es Parteien geben. In der zionistischen
Organisation hat sich das sehr bald gezeigt, und es sind jetzt
fünfundzwanzig Jahre her, dass der Misrachi als eine solche Partei innerhalb
der Zionistischen Organisation gegründet wurde und damit in die jüdische
Geschichte eintrat. Und wenn auch der rein äussere Umstand des Ablaufs
einer gewissen Zeit, wenn nicht damit auch ein sachlicher Abschnitt
vollendet ist, an und für sich nicht einen Anlass zu Rückblicken
und Prognosen bietet, so kann es für den Misrachigedanken, der mitten im
lebendigen Sichauswirken steht, doch nur von Vorteil sein, wenn die jüdische
Umwelt — Zionisten und Nichtzionisten — vor allem aber die Misrachisten
selbst, sich mit ihm und seinen Problemen auch bei dieser Gelegenheit
auseinandersetzen. Und vielleicht ist gerade die Zeit einer Krise in unserem
Aufbauwerk geeignet zur Selbstbesinnung, und auch der Misrachi muss aus
dieser Krise, die auch rückwirkt auf seine ideellen und theoretischen
Grundlagen, mit der einzig möglichen Losung: "Bitachon! Und
dennoch!" hervorgehen.
Was hat der Misrachi in diesen 25 Jahren
geleistet? Viel und wenig! Wenig hat er auf dem Gebiet der Organisation
geleistet, wenn wir daran denken, dass noch immer der Grossteil des
jüdischen Volkes, der auf dem Boden des traditionellen Judentums steht,
unserer Bewegung ferngeblieben ist. Das Misrachiprogramm sollte die
jüdischen Massen ansprechen, unsere Organisation sollte ihnen das Programm
in solcher Weise nahe bringen, dass sie sich zu organisatorischem
Zusammenschluss entschliessen. Tatsache ist indessen, dass der Misrachi die
Massen noch nicht weitgehend erfasst hat. Ist das Programm daran schuld?
Oder nicht vielmehr der Umstand, dass es überaus schwer ist, orthodoxe
Massen, die in jedem Land unter anderen Bedingungen leben, jüdische Dinge
unter anderen Aspekten betrachten, und die Bedeutung und Notwendigkeit des
Zusammenschlusses noch nicht erkannt haben, organisatorisch zu gewinnen? So
betrachtet, ist es viel, wenn es dem Misrachi gelungen ist, auf
manchen Kongressen als Vertreter von ungefähr 100000 Wählern zu
erscheinen. Sollte es einmal möglich sein, einen jeden Juden zur
Stellungnahme zum Aufbau Erez Israels durch Wahlzettel zu bringen, dann wird
es sich wahrscheinlich doch erweisen, dass die Misrachiorganisation stark
genug ist, und dass ihre organisatorischen Bemühungen nicht ohne
Erfolg geblieben sind. Unsere Konferenzen der letzten Jahre in Europa
und Amerika sind ein Zeugnis für das kräftige Fortschreiten unserer
Organisation. Wenn wir selbst oft unzufrieden sind mit dem
Erreichten, so ist das ein Zeichen unseres starken Wollens und des Wunsches,
unser Ziel recht weit zu stecken. Dem Aussenstehenden gegenüber können wir
mit Stolz auf unsere bisherige Leistung hinweisen, denn wir haben so viel
erreicht trotz des aktiven und passiven Widerstandes weiter
religiöser Kreise; uns selbst aber müssen wir bekennen, dass viel mehr hätte
erreicht werden können, wenn alle verfügbaren Kräfte sich in den Dienst der
Arbeit gestellt hätten. Wir haben viel und wenig erreicht und
geleistet!
Das Misrachiprogramm bedeutet
prinzipielles Zusammengehen mit Andersgesinnten beim Aufbauwerk Palästinas.
Mit anderen Worten: Der Misrachi kämpft für seine Idee innerhalb des
Zionismus. Hat dieser Weg bisher Erfolg gehabt? Nein und Ja! Aufbau im
Geiste der Thorah verlangt unser Programm. Nein, dieses Programm ist noch
lange nicht erfüllt, und noch lange wird der Misrachi dafür kämpfen müssen.
In Theorie und Praxis geschieht noch gar manches, was bekämpft und
ausgeschaltet werden muss. Und wäre nicht die Hoffnung und der feste Glaube,
dass unsere Ideale sich endlich doch durchsetzen werden — oft stand der
Misrachi vor schweren Entscheidungen — der Bruch in der gemeinsamen Arbeit
hätte manches Mal eintreten können. Warum ist der Misrachi trotz allem in
der gemeinsamen Organisation verblieben? Weil er im Laufe der Jahre
bestätigt fand, dass sein Vertrauen auf den Klal Israel Gedanken berechtigt
war, dass nicht nur für das religiöse Judentum kein Nachteil durch die
Verbindung mit der Zionistischen Organisation erwachsen ist, sondern dass
Gefahren für den Geist des Judentums entstanden wären, hätte er sich von ihr
getrennt. Weil er auch jetzt schon Erfolge aufzuweisen hat und hofft,
in stetiger, rastloser, konsequenter Weiterarbeit sich seinem Ziele zu
nähern. Und warum sollten wir gemeinsames Arbeiten ablehnen? Die Frage sei
erlaubt: Arbeiten nicht 99% der religiösen Judenheit ausserhalb Palästinas
in allen jüdischen Angelegenheiten, auch in den rein religiösen
Aufgaben dienenden Gemeinden, zusammen mit Andersgesinnten? Ist dort alles
so, wie der religiöse Jude es sich wünschen muss? Warum soll für Erez-Israel
nicht recht sein, was sonst in der Welt billig ist? Auch dem Einwand soll
hier nicht begegnet werden, dass das bisher von uns Erreichte vielleicht
auch ohne Verbindung mit dem Zionismus hätte bewerkstelligt werden können.
Vielleicht! Der bisherige Erfolg der Agudah auf kolonisatorischem und auf
kulturellem Gebiet in Erez-Israel spricht nicht für diese These. Dagegen ist
es Tatsache, dass dank gemeinsamer Arbeit gegen 6000 Kinder in einem
verzweigten Schulwerk, das noch im Aufbau begriffen ist, eine wahrhaft
traditionell-religiöse und doch auch weltliche Erziehung erhalten. Wer nicht
in Erez-Israel lebt, wird schwerlich den Wert dieses Erfolges abschätzen
können. Wir hoffen damit einen Damm aufgerichtet zu haben gegen die
Verheerungen, wie sie vor einigen Jahrzehnten der Zusammenstoss mit modernen
Ideen bei der Jugend des osteuropäischen Ghettos zur Folge hatte. Der
Misrachi hat seine Kolonie Chittin, und auch andere Siedlungen religiöser
Juden sind vorhanden (Siebenbürger, Bnei Brak, Chassidim). Der Misrachi hat
eine schwer um ihre Existenz ringende Arbeiterbewegung (Hapoel Hamisrachi) —
aber trotz aller Widerstände setzt sie sich durch. Dazu eine andere Jugend-
und Arbeitergruppe mehr bürgerlicher Elemente (Hamisrachi Hazair) mit
eigener Siedlung Newe-Jaakob. Dazu kommt die Frauenarbeit, die u.a. das Beth
Melachah Lechaluzoth ins Leben gerufen hat, eine Arbeitsstätte für unsere
Chaluzoth. Der Misrachi befasst sich mit der Versorgung der Immigranten. Der
Poel Hamisrachi hat eine Baugenossenschaft, die Olim-Bonim, und zu
guterletzt muss der Misrachi-Bank gedacht werden, die ausgezeichnet mit
ihren viel zu kleinen Geldmitteln arbeitet, und die im Interesse der
Misrachi-Klienten und des gesamten Mittelstandes noch sehr auszubauen ist.
Aber es ist ja nicht hier unsere Aufgabe, alles auch nur aufzuzählen, was
der Misrachi in all den Jahren geleistet hat. Vieles davon geschah aus
eigenen Mitteln, aber alles zusammen ist doch der Erfolg der gemeinsamen
Arbeit, Wenn man bedenkt, dass die Arbeit des Zionismus, und damit auch die
Arbeit des Misrachi im grösseren Stil, erst im Jahre 1920 einsetzen konnte,
so sind das wahrlich nicht zu unterschätzende Erfolge. Der Misrachi ist aus
der Entwicklung des Zionismus nicht mehr hinwegzudenken, trotz aller
Gegnerschaft, sachlicher und unsachlicher Art, von drinnen und von draussen,
man muss bekennen, seine Ideale fangen an, sich zu verwirklichen. Noch ist
unser Weg weit, und alles andere als Feiertagsstimmung kann in diesem Jahre
der Krise in uns aufkommen. Aber stille halten kann man einen Augenblick zur
inneren Sammlung und zum Rückblick auf das Geschaffene. Dann aber weiter des
Wegs! Auf zu neuer und schwerer Arbeit, bis unser hehres Ziel erreicht ist:
ארץ ישראל לעם
ישראל על פי תורת ישראל.
(Übersetzung haGalil: Eretz Israel für das Volk Israel
entsprechend der Lehre Israels.)
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hagalil.com
10-05-07 |