Der
Zionismus vom Standpunkte der Orthodoxie
Von M. Steckelmacher, Mainz
Kann ein streng orthodoxer Jude Zionist
sein ?
Vor mehreren Jahren hatte ich
Gelegenheit in der Stadt M. einer zionistischen Versammlung beizuwohnen. Das
Publikum bestand aus sogenannten "Neuen" und streng Orthodoxen. Ich war
nicht wenig erstaunt, dass der Redner, ein Herr aus Berlin, solche warme
Worte für die unglücklichen Glaubensgenossen in Russland hatte. Selbstredend
war das Thema "die Ansiedlung der russischen Juden in Palästina."
Ich muss gestehen, dass jeder Satz auf
mich einen sehr grossen Eindruck machte, nur war ich neugierig, was die
"Orthodoxen" darauf erwidern würden. Ein bekannter Rabbiner nahm hierauf das
Wort und mit scharfer Waffe zog er gegen den Vorredner aus.
Einige Stunden dauerte die Debatte.
Während dieser Zeit dachte ich bei mir, wie trefflich sind doch die Worte
unserer Weisen in פרקי אבות
פ"ה "כל מחלוקת שהיא לשם שמיים סופה להתקים ושאינה לשם שמים אין סופה להתקים,
איזו היא מחלוקת לשם שמים זו מחלוקת הלל ושמי ושאינה לשם שמים זו מחלוקת קרח
וכל עדתו."
Diese משנה
fasse ich nun so auf. "כל
מחלוקת" "Jede geteilte Meinung (von dem Worte
חלק
teilen) שהיא
לשם שמיים, die in frommer Absicht geführt wird,
סופה להתקים
bleibt immer bestehen, bis
אליה הנביא
kömmt, להשות
המחלוקת, diese geteilte Meinung auszugleichen.
War denn nicht die מחלוקת
zwischen שמי
und הלל
andauernd? Denn, אלו ואלו
דברי אלקים חיים, Beide vertraten das Wort des
lebendigen Gottes. Geht es den Zionisten anders ? Sowohl die Freunde als
auch die Gegner derselben verfolgen eine Gottessache. Dieser Kampf bleibt
עד שיבא אליה.
Bei קרח
hingegen war es nicht לשם
שמים, es war ein Streit, aber keine geteilte
Meinung, denn es heisst nicht "בין
קרח ובין משה" sondern einfach
מחלוקת קרח וכל עדתו"".
Dass nun auch die grössten
צדיקים
Zionisten waren, lässt sich nicht nur von
תנ"ך, sondern auch von der
גמרא
beweisen. Was versteht man denn unter dem Worte "Zionist?" Dieses Wort
bedeutet: ein Jude, der Sehnsucht hat, im gelobten Lande zu leben. Der
Zionist hat nicht etwa die Absicht, ein jüdisches Königreich zu
gründen, wie es viele meinen, sondern den gedrückten, unglücklichen Juden
eine bleibende Heimstätte zu verschaffen. Von
מקרב הגאולה, die Erlösung
schneller herbeizuführen, kann gar keine Rede sein. Denn,
"אם ה' לא יבנה בית, שוא עמלו בונין
בו".
"Wenn der Ewige nicht selbst den Tempel baut, dann bemühen
sich vergeblich die Bauleute."
Sollte aber Jemand einwenden, wie
verstehe ich die Geschichte der Söhne Efraims? Es wird uns nämlich in der
גמרא
folgendes erzählt: "Die Söhne Efraims warteten
nicht ab bis die גאולה
aus מצרים
herantrat, sondern zogen 300 Jahre früher aus Ägypten. Als sie nach
גת
kamen, wurden sie von den Philistern überfallen und hatten eine Niederlage
von 200,000 Mann; lauter tapferer Helden. Das sind — so fährt die
גמרא
fort — die
עצמות יבשות, welche später der
Prophet יחזקאל
im Tale דורא
auf Gottes Wort belebt hat." Diese Talmudische Erzählung steht durchaus
nicht in Widerspruch mit der Idee der Zionisten. Israel musste in Ägypten
seine גלות-Zeit
aushalten. Das ועבדום וענו
אותם musste erst erfüllt werden, dann kam erst
die Verheissung ואחרי כן
יצאו ברכוש גדול. Israel, das im strengsten
Sinne des Wortes im Sklavenhause war, durfte keine Minute früher aus Egypten
ziehen, denn also sagte Gott zu
משה:
"יהוצאתי
אתכם מתחת סבלת מצריים" "Ich (Gott) werde Euch
herausführen von den Lastarbeiten Ägyptens." Verhält es sich aber so mit
unseren armen Glaubensgenossen in Russland? Dieselben sind nicht gezwungen,
in ihrem Lande zu bleiben. Seitdem der heilige Tempel zerstört wurde, ist
Israel zerstreut unter den Völkern und es steht ihnen frei
מן התורה
in jedem gastfreundlichen Erdstrich sich niederzulassen. Dass nun das
Bestreben der Zionisten dahin geht, gerade dem Lande unserer Väter das
Vorrecht zu geben, hat seine Bedeutung.
Mit der Erklärung hierüber berühre ich
zuerst die Gegenwart. Es ist allgemein bekannt, dass seit Jahren durch die
gesetzliche Sonntagsruhe unsere heil. Religion viel zu leiden hat. Söhne
frommer Eltern, die in früherer Zeit niemals
שבת ויום טוב
entweiht hätten, tun dies jetzt und zwar mit der blassen Entschuldigung : es
gebe jetzt sehr wenige Geschäfte, die am Sabbat geschlossen sind 1), Würde
man nun einen Teil der russischen Glaubensgenossen in Deutschland,
Österreich usw. ansiedeln lassen, wie stünde es dann mit der heil. Religion?
Da könnte man mit dem Propheten
ישעיה' sagen: "בנים
גדלתי ורוממתי והם פשעו" "Kinder habe ich gross
gezogen und aufwachsen lassen, aber sie sind mir abtrünnig geworden." Nur
das Land unserer Väter ist geeignet, fromme Juden in ihrer Frömmigkeit zu
erhalten. Ich möchte behaupten, durch eine Einwanderung von seiten unserer
Glaubensgenossen nach Palästina wird das Studium unserer heil. Lehre besser
gepflegt werden. Sagen doch unsere Weisen im Talmud:
"אוירא דארץ ישראל מחכים"
"Schon die Luft von ארץ
ישראל macht weise." Unsere Patriarchen liebten
das Land Kenaan. Gab doch der Vater Jakob seinem Sohne Josef den Auftrag: "אל
נא תקברני במצרים" "Begrabe mich nicht in
Ägypten, sondern in der Höhle Machpela." Wenn es mir möglich ist, so lehren
unsere Weisen, wähle das heilige Land zu deinem beständigen Wohnsitz. Ein
Familienvater kann seine Hausleute zwingen mit ihm nach
ארץ ישראל
zu übersiedeln, wie es in der
משנה (Ende
כתובת)
heisst: "הכל מעלין לארץ
ישראל ואין הכל מוציאין" Die
גמרא zur Stelle fügt hinzu:
"תנו רבנן לעולם ידור אדם בארץ ישראל
ואפילו בעיר שרובה נכרים ואל ידור בחוצה לארץ ואפילו בעיר שרובה ישראל שכל הדר
בארץ ישראל דומה כמי שיש לו אלוה וכל הדר בחוצה לארץ דומה כמי שאין לו אלוה"
"Immer wohne der Mensch in Palästina, selbst in einer Stadt, woselbst die
meisten Einwohner Nichtjuden sind, wohne aber nicht ausserhalb Palästinas,
selbst in einer Stadt, woselbst die meisten Einwohner Juden sind. Denn
Jeder, welcher in ארץ ישראל
wohnt, gleicht dem Menschen, welcher von der Gottesidee vollständig
durchdrungen ist, wer aber ausserhalb
ארץ ישראל wohnt, gleicht
demjenigen, welcher von dieser Idee nicht so beseelt ist."
Nach allem, was wir bisher gesagt haben,
ist es ausser Zweifel, dass das Ansiedeln unserer Glaubensgenossen von
Seiten der Religion, in ארץ
ישראל
vorzuziehen ist. Das Schwierigste der ganzen Sache ist nur
folgendes: "Woher das viele Geld nehmen, um das schöne und erhabene
Unternehmen durchzuführen ?"
Ein Spruch unserer Weisen in (פרק
ב' משנה ט"ז)
פרקי אבות
wird uns diese schwierige Frage teilweise beantworten.
Dort heisst es nämlich: "לא
עליך המלאכה לגמור ולא אתה בן חורין להבטל ממנה"
"Es liegt dir nicht ob, die Arbeit zu
vollenden; doch steht es dir nicht frei, dich davon frei zu machen."
Es ist eine bekannte Tatsache, dass die
reichen Juden in ßussland sich nicht entschliessen werden, ihre alte Heimat
zu verlassen, auch ein Teil der armen Gegner der Zionisten, bleiben in ihrem
jetzigen Lande. Es ist daher nur für den Rest, der willig ist, auszuwandern,
zu sorgen. Selbstredend kann und wird es mit der göttlichen Hilfe geschehen.
Dann wird sich das Wort des Propheten
ישעיה erfüllen:
"כי לא בחפזון תצאי ובמנוסה לא תלכון
לפניכם ה' ומאספכם אלהי ישראל"
"Nicht mit Hast werdet ihr fortziehen, und
nicht in Flucht davongehen; denn vor euch her geht der Ewige, und euren Zug
beschliesst der Herr Israels."
Möge sich dieser Ausspruch bald
erfüllen!
Anmerkung:
1) Freilich, da trifft in der Regel die Schuld den Frommen. Diese sollten
nur religiöse junge Leute engagieren, was sie leider nicht tun. Nichtfromme
bekommen überall ein Unterkommen.
in:
Lazar Schön (Hrsg.): Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für
wissenschaftlichen Zionismus. Erster Jahrgang, Würzburg 1905, S. 303-305.
Zurück zur Übersicht
hagalil.com
10-05-07 |