Herzl schrieb diese Erzählung als Gleichnis
für seine persönliche Rückkehr zum Judentum und die nationale Wiedergeburt des
jüdischen Volkes. Die Menorah ist heute das Staatswappen Israels. Es sei noch
darauf hingewiesen, dass eine Menorah sieben Leuchter hat. Herzl beschreibt
tatsächlich eine Chanukkija, eine achtarmige Chanukka-Leuchte.
Theodor Herzl:
Die Menorah
(31. Dezember 1897)
Es war ein Mann, der hatte die Not ein Jude zu
sein, tief in seiner Seele empfunden. Seine äußeren Umstände waren nicht
unbefriedigend. Er hatte sein genügendes Auskommen und auch einen glücklichen
Beruf, indem er das schaffen durfte, wozu ihm sein Herz hinzog. Er war nämlich
ein Künstler. Um seine jüdische Herkunft und den Glauben seiner Väter hatte er
sich schon lange nicht mehr gekümmert, als der alte Hass unter einem modischen
Schlagworte sich wieder zeigte. Mit vielen anderen glaubte auch unser Mann, dass
die Strömung sich bald verlaufen werde. Aber es wurde nicht besser, sondern
stets ärger und die Angriffe schmerzten ihn immer von Neuem, obwohl sie ihn
nicht unmittelbar betrafen; so dass nach und nach seine Seele eine einzige
blutende Wunde war. Es geschah ihm nun, dass er durch diese inneren und
verschwiegenen Leiden auf deren Quelle, also auf sein Judentum hingelenkt wurde
und was er in guten Tagen vielleicht nie vermocht hätte, weil er davon schon so
ferne war: Er begann es mit einer großen Innigkeit zu lieben. Auch von dieser
wunderlichen Zuneigung gab er sich nicht gleich deutliche Rechenschaft, bis sie
endlich so mächtig war, dass sie aus dunklen Gefühlen zu einem klaren Gedanken
erwuchs, den er dann auch aussprach. Es war der Gedanke, dass es aus der
Judennot nur einen Ausweg gebe, und zwar die Heimkehr zum Judentum.
Als dies seine besten Freunde erfuhren, die
sich in ähnlicher Lage befanden, wie er selbst, schüttelten sie über ihn die
Köpfe und meinten, er wäre in seinem Geiste verwirrt geworden. Denn wie könne
das ein Ausweg sein, was ja nur die Verschärfung und Vertiefung des Übels
bedeute. Er aber dachte, dass die sittliche Not so empfindlich wäre, weil den
neuen Juden jenes Gegengewicht abhanden gekommen sei, das unsere starken Väter
in ihrem Inneren besaßen. Man spöttelte hinter ihm drein. Manche lachten ihm
sogar unverhohlen ins Gesicht, doch ließ er sich durch die albernen Bemerkungen
von Leuten, deren Einsicht er früher nie hoch zu schätzen Gelegenheit gehabt,
nicht irre machen und ertrug die bösen oder guten Scherze gelassen. Und da er
sich im übrigen nicht unvernünftig gebärdete, so ließ man ihn allmählich sich
seiner Schrulle hingeben, die freilich von einigen auch mit härterem Wort als
eine fixe Idee bezeichnet wurde.
Der Mann zog aber in seiner geduldigen Art eine Konsequenz nach der andern aus
seiner einmal gefassten Meinung. Dabei gab es eine Anzahl von Übergängen, die
ihm selbst nicht leicht fielen, wenn er dies auch nicht sehen ließ. Als ein
Mensch und Künstler von modernen Anschauungen war er doch mit vielerlei
unjüdischen Gewohnheiten verwachsen und hatte aus den Kulturen der Völker, durch
die ihn sein Bildungsgang geführt, unvertilgbares in sich aufgenommen. Wie war
dies mit seiner Rückkehr zum Judentum zu versöhnen? Daraus erwuchsen ihm selbst
manche Zweifel an der Richtigkeit seines leitenden Gedankens, seiner idée
maitresse, wie es der französische Denker nennt. Vielleicht war die unter dem
Einfluss anderer Kulturen großgezogene Generation nicht mehr fähig zu jener
Heimkehr, die er als die Lösung gefunden hatte. Aber die nächste Generation
würde schon dazu fähig sein, wenn man ihr bei Zeiten die Richtung gab. So
bekümmerte er sich denn darum, dass wenigstens seine Kinder auf den rechten Weg
kämen. Die wollte er von Haus aus zu Juden erziehen.
Früher hatte er das Fest, welches die wunderbare Erscheinung der Makkabäer durch
so viele Jahrhunderte mit dem Glänze kleiner Lichter bestrahlte, vorüber gehen
lassen, ohne es zu feiern. Nun aber benützte er diesen Anlass um seinen Kindern
eine schöne Erinnerung für kommende Tage vorzubereiten. In diese jungen Seelen
sollte früh die Anhänglichkeit an das alte Volkstum gepflanzt werden. Eine
Menorah wurde angeschafft, und als er diesen neunarmigen Leuchter zum erstenmal
in der Hand hielt, wurde ihm eigentümlich zu Mute. Auch in seinem Vaterhause
hatten die Lichtlein in einer nun schon entlegenen Jugendzeit gebrannt und es
war etwas trauliches und anheimelndes darin. Die Tradition nahm sich nicht
frostig, nicht erstorben aus. Das war so durch die Zeiten herübergegangen, immer
ein Lichtlein am anderen entzündet. Auch die altertümliche Form der Menorah
regte ihn zum Sinnen an. Wann war der primitive Bau dieses Lichthalters
geschaffen worden? Die Gestalt war offenbar einst vom Baum genommen worden. In
der Mitte der stärkere Stamm, rechts und links vier Zweige, einer unter dem
andern, die in einer Ebene liegen und alle acht sind gleich hoch. Eine spätere
Symbolik brachte den neunten kurzen Arm, welcher nach vorne steht und der Diener
heißt. Was haben die Geschlechter die aufeinander folgten, in diese ursprünglich
einfache und von der Natur genommene Kunstgestalt hineingeheimnisst? Und unser
Mann, der ja ein Künstler war, dachte bei sich, ob es denn nicht möglich wäre,
die erstarrte Form der Menorah wieder zu beleben, ihre Wurzeln zu tränken, wie
die eines Baumes. Auch der Klang des Namens, den er nun an jedem Abende vor
seinen Kindern sprach, gefiel ihm wohl. Es war ein Klang darin, besonders
lieblich, wenn das Wort aus dem Kindesmunde kam.
Die erste Kerze wurde angebrannt und dazu die Herkunft des Festes erzählt. Die
wundersame Begebenheit vom Lämpchen, das so unerwartet lange lebte, dazu die
Geschichte der Heimkehr aus dem babylonischen Exil, der zweite Tempel, die
Makkabäer. Unser Freund erzählte seinen Kindern, was er wusste. Es war nicht
gerade viel, aber ihnen genügte es. Bei der zweiten Kerze erzählten sie es ihm
wieder, und als sie es ihm erzählten, erschien ihm alles, was sie doch von ihm
hatten, ganz neu und schön. Von da ab freute er sich jeden Tag auf den Abend,
der immer lichter wurde. Kerze um Kerze stand an der Menorah auf und mit den
Kindern träumte der Vater in die kleinen Lichter hinein. Es wurde schließlich
mehr, als er ihnen sagen konnte und wollte, weil das noch über ihrem Verständnis
war.
Er hatte, als er sich entschloß, zum alten Stamm heimzukehren und sich zu dieser
Heimkehr offen zu bekennen, nur gemeint, etwas Ehrliches und Vernünftiges zu
tun. Dass er auf diesem Heimweg auch eine Befriedigung seiner Sehnsucht nach dem
Schönen finden würde, das hatte er nicht geahnt. Und nichts geringeres widerfuhr
ihm. Die Menorah mit ihrem wachsenden Lichterschein war etwas gar schönes, und
man konnte sich dazu erhabene Dinge denken. So ging er her und entwarf mit
seiner geübten Hand eine Zeichnung für die Menorah, die er seinen Kindern übers
Jahr schenken wollte. Frei gestaltete er das Motiv der acht gleich hoch
auslaufenden Arme aus, die rechts und links in der Ebene des Stammdurchschnittes
liegen. Er hielt sich an die steife überlieferte Form nicht für gebunden,
sondern schuf wieder aus Natürlichem heraus, unbekümmert um andere Deutungen,
die ja darum auch ihr Recht behalten mochten. Er war auf lebensvolle Schönheit
ausgegangen. Doch wenn er auch in die erstarrten Formen eine neue Bewegung
brachte, hielt er sich dennoch an ihr Gesetz, an den vornehm alten Stil ihrer
Anordnung. Es war ein Baum mit schlanken Ästen, deren Enden wie Kelche sich
erschlossen und in diesen Blütenkelchen sollten die Lichter stecken.
Unter so gedankenvoller Beschäftigung verstrich die Woche. Es kam der achte Tag,
an dem die ganze Reihe brennt, auch der treue neunte, der Diener, der sonst nur
zum Anzünden der Übrigen da ist. Eine große Helligkeit strömte von der Menorah
aus. Die Augen der Kinder glänzten. Unserem Mann aber wurde das Ganze zum
Gleichnis für die Entflammung der Nation. Erst eine Kerze, da ist es noch
dunkel, und das einsame Licht sieht noch traurig aus. Dann findet es einen
Gefährten, noch einen, noch mehr, die Finsternis muss weichen. Bei den Jungen
und Armen leuchtet es zuerst auf, dann schließt er sich den Anderen an, die das
Recht, die Wahrheit, die Freiheit, den Fortschritt, die Menschlichkeit, die
Schönheit lieben. Wenn alle Kerzen brennen, dann muss man staunen und sich
freuen über das getane Werk. Und kein Amt ist beglückender als das eines Dieners
am Licht.
Weitere Texte von Herzl
hagalil.com
26-04-04 |