Grundlagentexte zum
Zionismus
Theodor Herzl / Benjamin S'ew Herzl
Der Judenstaat
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Vorrede
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Einleitung
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Allgemeiner Teil
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Die Jewish Company
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Ortsgruppen
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Society of Jews und
Judenstaat
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Schlußwort
EINLEITUNG
Die volkswirtschaftliche Einsicht von
Männern, die mitten im praktischen Leben stehen, ist oft verblüffend
gering. Nur so läßt sich erklären, daß auch Juden das Schlagwort der
Antisemiten gläubig nachsagen: wir lebten von den «Wirtsvölkern»,
und wenn wir kein «Wirtsvolk» um uns hätten, müßten wir verhungern.
Das ist einer der Punkte, auf denen sich die Schwächung unseres
Selbstbewußtseins durch die ungerechten Anklagen zeigt. Wie verhält
es sich mit dem «Wirtsvolklichen» in Wahrheit? Soweit das nicht die
alte physiokratische Beschränktheit enthält, beruht es auf dem
kindlichen Irrtum, daß im Güterleben immer dieselben Sachen
rundlaufen. Nun müssen wir nicht erst, wie Rip van Winkle, aus
vieljährigem Schlafe erwachen, um zu erkennen, daß die Welt sich
durch das unaufhörliche Entstehen neuer Güter verändert. In unserer
vermöge der technischen Fortschritte wunderbaren Zeit sieht auch der
geistig Ärmste mit seinen verklebten Augen rings um sich her neue
Güter auftauchen. Der Unternehmungsgeist hat sie geschaffen.
Die Arbeit ohne Unternehmungsgeist ist die stationäre, alte; ihr
typisches Beispiel, die des Ackerbauers, der noch genau dort steht,
wo sein Urvater vor tausend Jahren stand. Alle materielle Wohlfahrt
ist durch Unternehmer verwirklicht worden. Man schämt sich beinahe,
eine solche Banalität niederzuschreiben. Selbst wenn wir also
ausschließlich Untemehmer wären - wie die törichte Übertreibung
behauptet -, brauchten wir kein «Wirtsvolk». Wir sind nicht auf
einen Rundlauf immer gleicher Güter angewiesen, weil wir neue Güter
erzeugen.
Wir haben Arbeitssklaven von unerhörter Kraft, deren Erscheinen in
der Kulturwelt eine tödliche Konkurrenz für die Handarbeit war: das
sind die Maschinen. Wohl braucht man auch Arbeiter, um die Maschinen
in Bewegung zu setzen; aber für diese Erfordernisse haben wir
Menschen genug, zu viel. Nur wer die Zustände der Juden in vielen
Gegenden des östlichen Europa nicht kennt, wird zu behaupten wagen,
daß die Juden zur Handarbeit untauglich oder unwillig seien. Aber
ich will in dieser Schrift keine Verteidigung der Juden vornehmen.
Sie wäre nutzlos. Alles Vernünftige und sogar alles Sentimentale ist
über diesen Gegenstand schon gesagt worden. Nun genügt es nicht, die
treffenden Gründe für Verstand und Gemüt zu finden; die Hörer müssen
zuerst fähig sein zu begreifen, sonst ist man ein Prediger in der
Wüste. Sind aber die Hörer schon so weit, so hoch, dann ist die
ganze Predigt überflüssig. Ich glaube an das Aufsteigen der Menschen
zu immer höheren Graden der Gesittung; nur halte ich es für ein
verzweifelt langsames. Wollten wir warten, bis sich der Sinn auch
der mittleren Menschen zur Milde abklärt, die Lessing hatte, als er
«Nathan den Weisen» schrieb, so könnte darüber unser Leben und das
unserer Söhne, Enkel, Urenkel vergehen. Da kommt uns der Weltgeist
von einer anderen Seite zu Hilfe.
Dieses Jahrhundert hat uns eine köstliche Renaissance gebracht durch
technische Errungenschaften. Nur für die Menschlichkeit ist dieser
märchenhafte Fortschritt noch nicht verwendet. Die Entfernungen der
Erdoberfläche sind überwunden, und dennoch quälen wir uns ab mit
Leiden der Enge. Schnell und gefahrlos jagen wir jetzt in riesigen
Dampfern über früher unbekannte Meere. Sichere Eisenbahnen führen
wir hinauf in eine Bergwelt, die man ehemals mit Angst zu Fuß
bestieg. Die Vorgänge in Ländern, die noch gar nicht entdeckt waren,
als Europa die Juden in Ghetti sperrte, sind uns in der nächsten
Stunde bekannt. Darum ist die Judennot ein Anachronismus - und
nicht, weil es schon vor hundert Jahren eine Aufklärungszeit gab,
die in Wirklichkeit nur für die vornehmsten Geister bestand.
Nun meine ich, daß das elektrische Licht durchaus nicht erfunden
wurde, damit einige Snobs ihre Prunkgemächer beleuchten, sondern
damit wir bei seinem Scheine die Fragen der Menschheit lösen. Eine,
und nicht die unbedeutendste, ist die Judenfrage. Indem wir sie
lösen, handeln wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für viele
andere Mühselige und Beladene.
Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen. Sie ist ein
verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch heute
beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten. Den großmütigen
Willen zeigten sie ja, als sie uns emanzipierten. Die Judenfrage
besteht überall, wo Juden in merklicher Anzahl leben. Wo sie nicht
ist, da wird sie durch hinwandernde Juden eingeschleppt. Wir ziehen
natürlich dahin, wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen
entsteht dann die Verfolgung. Das ist wahr, muß wahr bleiben,
überall, selbst in hochentwickelten Ländern - Beweis Frankreich -,
solange die Judenfrage nicht politisch gelöst ist. Die armen Juden
tragen jetzt den Antisemitismus nach England, sie haben ihn schon
nach Amerika gebracht.
Ich glaube den Antisemitismus, der eine vielfach komplizierte
Bewegung ist, zu verstehen. Ich betrachte diese Bewegung als Jude,
aber ohne Haß und Furcht. Ich glaube zu erkennen, was im
Antisemitismus roher Scherz, gemeiner Brotneid, angeerbtes
Vorurteil, religiöse Unduldsamkeit - aber auch, was darin
vermeintliche Notwehr ist. Ich halte die Judenfrage weder für eine
soziale noch für eine religiöse, wenn sie sich auch noch so und
anders färbt. Sie ist eine nationale Frage, und um sie zu lösen,
müssen wir sie vor allem zu einer politischen Weltfrage machen, die
im Rate der Kulturvölker zu regeln sein wird.
Wir sind ein Volk, ein Volk.
Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden
Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu
bewahren. Man läßt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an
manchen Orten sogar überschwengliche Patrioten, vergebens bringen
wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger, vergebens
bemühen wir uns, den Ruhm unserer Vaterländer in Künsten und
Wissenschaften, ihren Reichtum durch Handel und Verkehr zu erhöhen.
In unseren Vaterländern, in denen wir ja auch schon seit
Jahrhunderten wohnen, werden wir als Fremdlinge ausgeschrien; oft
von solchen, deren Geschlechter noch nicht im Lande waren, als
unsere Väter da schon seufzten. Wer der Fremde im Lande ist, das
kann die Mehrheit entscheiden; es ist eine Machtfrage, wie alles im
Völkerverkehre. Ich gebe nichts von unserem ersessenen guten Recht
preis, wenn ich das als ohnehin mandatloser einzelner sage. Im
jetzigen Zustande der Welt und wohl noch in unabsehbarer Zeit geht
Macht vor Recht. Wir sind also vergebens überall brave Patrioten,
wie es die Hugenotten waren, die man zu wandern zwang. Wenn man uns
in Ruhe ließe. . .
Aber ich glaube, man wird uns nicht in Ruhe lassen. Durch Druck und
Verfolgung sind wir nicht zu vertilgen. Kein Volk der Geschichte hat
solche Kämpfe und Leiden ausgehalten wie wir. Die Judenhetzen haben
immer nur unsere Schwächlinge zum Abfall bewogen. Die starken Juden
kehren trotzig zu ihrem Stamme heim, wenn die Verfolgungen
ausbrechen. Man hat das deutlich in der Zeit unmittelbar nach der
Judenemanzipation sehen können. Den geistig und materiell höher
stehenden Juden kam das Gefühl der Zusammengehörigkeit gänzlich
abhanden. Bei einiger Dauer des politischen Wohlbefindens
assimilieren wir uns überall; ich glaube, das ist nicht unrühmlich.
Der Staatsmann, der für seine Nation den jüdischen Rasseneinschlag
wünscht, müßte daher für die Dauer unseres politischen Wohlbefindens
sorgen. Und selbst ein Bismarck vermöchte das nicht.
Denn tief im Volksgemüt sitzen alte Vorurteile gegen uns. Wer sich
davon Rechenschaft geben will, braucht nur dahin zu horchen, wo das
Volk sich aufrichtig und einfach äußert: Das Märchen und das
Sprichwort sind antisemitisch. Das Volk ist überall ein großes Kind,
das man freilich erziehen kann; doch diese Erziehung würde im
günstigsten Falle so ungeheure Zeiträume erfordern, daß wir uns, wie
ich schon sagte, vorher längst auf andere Weise können geholfen
haben.
Die Assimilierung, worunter ich nicht etwa nur Äußerlichkeiten der
Kleidung, gewisser Lebensgewohnheiten, Gebräuche und der Sprache,
sondern ein Gleichwerden in Sinn und Art verstehe, die Assimilierung
der Juden könnte überall nur durch die Mischehe erzielt werden.
Diese müßte aber von der Mehrheit als Bedürfnis empfunden werden; es
genügt keineswegs, die Mischehe gesetzlich als zulässig zu erklären.
Die ungarischen Liberalen, die das jetzt getan haben, befinden sich
in einem bemerkenswerten Irrtum. Und diese doktrinär eingerichtete
Mischehe wurde durch einen der ersten Fälle gut illustriert; ein
getaufter Jude heiratete eine Jüdin. Der Kampf um die jetzige Form
der Eheschließung hat aber die Gegensätze zwisehen Christen und
Juden in Ungarn vielfach verschärft und dadurch der
Rassenvermischung mehr geschadet als genützt. Wer den Untergang der
Juden durch Vermischung wirklieh wünscht, kann dafür nur eine
Möglichkeit sehen. Die Juden müßten vorher so viel ökonomische Macht
erlangen, daß dadurch das alte gesellschaftliche Vorurteil
überwunden würde. Das Beispiel liefert die. Aristokratie, in der die
Mischehen verhältnismäßig am häufigsten vorkommen. Der alte Adel
läßt sich mit Judengeld neu vergolden, und dabei werden jüdische
Familien resorbiert. Aber wie würde sich diese Erscheinung in den
mittleren Schichten gestalten, wo die Judenfrage ihren Hauptsitz
hat, weil die Juden ein Mittelstandsvolk sind? Da wäre die vorher
nötige Erlangung der Macht gleichbedeutend mit der wirtschaftlichen
Alleinherrschaft der Juden, die ja schon jetzt fälschlich behauptet
wird. Und wenn schon die jetzige Macht der Juden solche Wut- und
Notschreie der Antisemiten hervorruft, welche Ausbrüche kämen erst
durch das weitere Wachsen dieser Macht! Eine solche Vorstufe der
Resorption kann nicht erreieht werden; denn es wäre die Unterjochung
der Majorität durch eine noch vor kurzem verachtete Minorität, die
nicht im Besitze der kriegerischen oder administrativen Gewalt ist.
Ich halte deshalb die Resorption der Juden auch auf dem Wege des
Gedeihens für unwahrscheinlich. In den derzeit antisemitischen
Ländern wird man mir beipflichten. In den anderen, wo sich die Juden
augenblicklich wohlbefinden, werden meine Stammesgenossen meine
Behauptungen vermutlich auf das heftigste bestreiten. Sie werden mir
erst glauben, bis sie wieder von der Judenhetze heimgesucht sind.
Und je länger der Antisemitismus auf sich warten läßt, um so
grimmiger muß er ausbrechen. Die Infiltration hinwandernder, von der
scheinbaren Sicherheit angezogener Juden sowie die aufsteigende
Klassenbewegung der autochthonen Juden wirken dann gewaltig zusammen
und drängen zu einem Umsturz. Nichts ist einfacher als dieser
Vernunftschluß.
Daß ich ihn aber unbekümmert und nur der Wahrheit folgend ziehe,
wird mir voraussichtlich den Widerspruch, die Feindschaft der in
günstigen Verhältnissen lebenden Juden eintragen. Soweit es nur
Privatinteressen sind, deren Träger sich aus Beschränktheit oder
Feigheit bedroht fühlen, könnte man mit lachender Verachtung darüber
hinweggehen. Denn die Sache der Armen und Bedrückten ist wichtiger.
Ich will jedoch von vornherein keine unrichtigen Vorstellungen
aufkommen lassen: namentlich die nicht, daß, wenn jemals dieser Plan
verwirklicht würde, die besitzenden Juden an Hab und Gut geschädigt
werden könnten. Darum will ich das Vermögensrechtliche ausführlich
erklären. Kommt hingegen der ganze Gedanke nicht über die Literatur
heraus, so bleibt ja ohnehin alles beim alten. Ernster wäre der
Einwand, daß ich den Antisemiten zur Hilfe komme, wenn ich uns ein
Volk, ein Volk nenne, daß ich die Assimilierung der Juden, wo sie
sich vollziehen will, hindere und, wo sie sich vollzogen hat,
nachträglich gefährde, soweit ich als einsamer Schriftsteller
überhaupt etwas zu hindem oder zu gefährden vermag.
Dieser Einwand wird namentlich in Frankreich hervorkommen. Ich
erwarte ihn auch an anderen Orten, will aber nur den französischen
Juden im voraus antworten, weil sie das stärkste Beispiel liefern.
Wie sehr ich auch die Persönlichkeit verehre, die starke
Einzelpersönlichkeit des Staatsmannes, Erfinders, Künstlers,
Philosophen oder Feldherrn sowohl als die Gesamtpersönlichkeit einer
historischen Gruppe von Menschen, die wir Volk nennen, wie sehr ich
auch die Persönlichkeit verehre, beklage ich doch nicht ihren
Untergang. Wer untergehen kann, will und muß, der soll untergehen.
Die Volkspersönlichkeit der Juden kann, will und muß aber nicht
untergehen. Sie kann nicht, weil äußere Feinde sie zusammenhalten.
Sie will nicht, das hat sie in zwei Jahrtausenden unter ungeheuren
Leiden bewiesen. Sie muß nicht, das versuche ich in dieser Schrift
nach vielen anderen Juden, welche die Hoffnung nicht aufgaben,
darzutun. Ganze Äste des Judentums können absterben, abfallen; der
Baum lebt.
Wenn nun alle oder einige französische Juden gegen diesen Entwurf
protestieren, weil sie sich bereits «assimiliert» hätten, so ist
meine Antwort einfach: Die ganze Sache geht sie nichts an. Sie sind
israelitische Franzosen, vortrefflich! Dies ist jedoch eine innere
Angelegenheit der Juden.
Nun würde allerdings die staatsbildende Bewegung, die ich
vorschlage, den israelitischen Franzosen ebensowenig schaden wie den
«Assimilierten» anderer Länder. Nützen würde sie ihnen im Gegenteil,
nützen! Denn sie wären in ihrer «chromatischen Funktion», um Darwins
Worte zu gebrauchen, nicht mehr gestört. Sie könnten sich ruhig
assimilieren, weil der jetzige Antisemitismus für immer zum
Stillstand gebracht wäre. Man würde es ihnen auch glauben, daß sie
bis ins Innerste ihrer Seele assimiliert sind, wenn der neue
Judenstaat mit seinen besseren Einrichtungen zur Wahrheit geworden
ist und sie dennoch bleiben, wo sie jetzt wohnen.
Noch mehr Vorteil als die christlichen Bürger würden die
«Assimilierten» von der Entfernung der stammestreuen Juden haben.
Denn die Assimilierten werden die beunruhigende, unberechenbare,
unvermeidliche Konkurrenz des jüdischen Proletariats los, das durch
politischen Druck und wirtschaftliche Not von Ort zu Ort, von Land
zu Land geworfen wird. Dieses schwebende Proletariat würde
festgemacht werden. Jetzt können manche christlichen Staatsbürger -
man nennt sie Antisemiten - sich gegen die Einwanderung fremder
Juden sträuben. Die israelitischen Staatsbürger können das nicht,
obwohl sie viel schwerer betroffen sind; denn auf sie drückt
zunächst der Wettbewerb gleichartiger wirtschaftlicher Individuen,
die zudem auch noch den Antisemitismus importieren oder den
vorhandenen verschärfen. Es ist ein heimlicher Jammer der
Assimilierten, der sich in «wohltätigen» Unternehmungen Luft macht.
Sie gründen Auswanderungsvereine für zureisende Juden. Diese
Erscheinung enthält einen Gegensinn, den man komisch finden könnte,
wenn es sich nicht um leidende Menschen handelte. Einzelne dieser
Unterstützungsvereine sind nicht für, sondern gegen die verfolgten
Juden da; Die Ärmsten sollen nur recht schnell, recht weit
weggeschafft werden. Und so entdeckt man bei aufmerksamer
Betrachtung, daß mancher scheinbare Judenfreund nur ein als
Wohltäter verkleideter Antisemit jüdischen Ursprungs ist.
Aber selbst die Kolonisierungsversuche wirklich wohlmeinender Männer
haben sich bisher nicht bewährt, obwohl es interessante Versuche
waren. Ich glaube nicht, daß es sich bei dem oder jenem nur um einen
Sport gehandelt habe; daß der oder jener arme Juden wandern ließ,
wie man Pferde rennen läßt. Dazu ist die Sache denn doch zu ernst
und traurig. Interessant waren diese Versuche insofern, als sie im
kleinen die praktischen Vorläufer der Judenstaatsidee vorstellten.
Und sogar nützlich waren sie insofern, als dabei Fehler gemacht
wurden, aus denen man bei einer Verwirklichung im großen lernen
kann. Freilich ist durch diese Versuche auch Schaden gestiftet
worden. Die Verpflanzung des Antisemitismus nach neuen Gegenden,
welche die notwendige Folge einer solchen künstlichen Infiltration
ist, halte ich noch für den geringsten Nachteil. Schlimmer ist, daß
die ungenügenden Ergebnisse bei den Juden selbst Zweifel an der
Brauchbarkeit des jüdischen Menschenmaterials hervorriefen. Diesem
Zweifel wird aber bei den Verständigen durch folgende einfache
Argumentation beizukommen sein: Was im kleinen unzweckmäßig oder
undurchführbar ist, muß es noch nicht im großen sein. Ein kleines
Unternehmen kann unter denselben Bedingungen Verlust bringen, unter
denen ein großes sich rentiert. Ein Bach ist nicht einmal mit Kähnen
schiffbar; der Fluß, in den er sich ergießt, trägt stattliche
eiserne Fahrzeuge.
Niemand ist stark oder reich genug, um ein Volk von einem Wohnort
nach einem anderen zu versetzen. Das vermag nur eine Idee. Die
Staatsidee hat wohl eine solche Gewalt. Die Juden haben die ganze
Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen
Traum zu träumen: «Übers Jahr in Jerusalem!» ist unser altes Wort.
Nun handelt es sich darum, zu zeigen, daß aus dem Traum ein
tagheller Gedanke werden kann.
Dazu muß vor allem in den Seelen tabula rasa gemacht werden von
mancherlei alten, überholten, verworrenen, beschränkten
Vorstellungen. So werden dumpfe Gehirne zunächst meinen, daß die
Wanderung aus der Kultur hinaus in die Wüste gehen müsse. Nicht
wahr! Die Wanderung vollzieht sich mitten in der Kultur. Man kehrt
nicht auf eine niedrigere Stufe zurück, sondern ersteigt eine
höhere. Man bezieht keine Lehmhütten, sondern schönere, modernere
Häuser, die man sich neu baut und ungefährdet besitzen darf. Man
verliert nicht sein erworbenes Gut, sondern verwertet es. Man gibt
sein gutes Recht nur auf gegen ein besseres. Man trennt sich nicht
von seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder. Man
verläßt das alte Haus nicht, bevor das neue fertig ist. Es ziehen
immer nur diejenigen, die sicher sind, ihre Lage dadurch zu
verbessern. Erst die Verzweifelten, dann die Armen, dann die
Wohlhabenden, dann die Reichen. Die Vorangegangenen erheben sich in
die höhere Schicht, bis diese letztere ihre Angehörigen nach
schickt. Die Wanderung ist zugleich eine aufsteigende
Klassenbewegung.
Und hinter den abziehenden Juden entstehen keine wirtschaftlichen
Störungen, keine Krisen und Verfolgungen, sondern es beginnt eine
Periode der Wohlfahrt für die verlassenen Länder. Es tritt eine
innere Wanderung der christlichen Staatsbürger in die aufgegebenen
Positionen der Juden ein. Der Abfluß ist ein allmählicher, ohne jede
Erschütterung, und schon sein Beginn ist das Ende des
Antisemitismus. Die Juden scheiden als geachtete Freunde, und wenn
einzelne dann zurückkommen, wird man sie in den zivilisierten
Ländern genauso wohlwollend aufnehmen und behandeln wie andere
fremde Staatsangehörige. Diese Wanderung ist auch keine Flucht,
sondern ein geordneter Zug unter der Kontrolle der öffentlichen
Meinung. Die Bewegung ist nicht nur mit vollkommen gesetzlichen
Mitteln einzuleiten, sie kann überhaupt nur durchgeführt werden
unter freundlicher Mitwirkung der beteiligten Regierungen, die davon
wesentliche Vorteile haben.
Für die Reinheit der Idee und die Kraft ihrer Ausführung sind
Bürgschaften nötig, die sich nur in sogenannten «moralischen» oder
«juristischen» Personen finden lassen. Ich will diese beiden
Bezeichnungen, die in der Juristensprache häufig verwechselt werden,
auseinanderhalten. Als moralische Person, welche Subjekt von Rechten
außerhalb der Privatvermögenssphäre ist, stelle ich die Society of
Jews auf. Daneben steht die juristische Person der Jewish Company,
die ein Erwerbswesen ist.
Der einzelne, der auch nur Miene machte, ein solches Riesenwerk zu
unternehmen, könnte ein Betrüger oder ein Wahnsinniger sein. Für die
Reinheit der moralischen Person bürgt der Charakter ihrer
Mitglieder. Die ausreichende Kraft der juristischen Person ist
erwiesen durch ihr Kapital.
Durch die bisherigen Vorbemerkungen wollte ich nur in aller Eile den
ersten Schwarm von Einwendungen abwehren, den schon das Wort
«Judenstaat» hervorrufen muß. Von hier weiter wollen wir uns mit
mehr Ruhe auseinandersetzen, andere Einwände bekämpfen und manches
schon Angedeutete gründlicher ausführen, wenn auch die
Schwerfälligkeit im Interesse der Schrift, die fliegen soll, nach
Möglichkeit zu vermeiden sein wird. Kurze aphoristische Kapitel
dienen einem solchen Zweck wohl am besten.
Wenn ich an die Stelle eines alten Baues einen neuen setzen will,
muß ich zuerst demolieren und dann konstruieren. Diese vernünftige
Reihenfolge werde ich also einhalten. Zuerst im allgemeinen Teil
sind die Begriffe zu klären, dumpfe alte Vorstellungen
hinwegzuräumen, die politischen und nationalökonomischen
Vorbedingungen festzustellen und der Plan zu entwickeln.
Im besonderen Teil, der in drei Hauptabschnitte zerfällt, ist die
Ausführung darzustellen. Diese Hauptabschnitte sind: Jewish Company,
Ortsgruppen und Society of Jews. Die Society soll zwar zuerst
entstehen, und die Company zuletzt; aber im Entwurf empfiehlt sich
die umgekehrte Ordnung, weil gegen die finanzielle Durchführbarkeit
sich die größten Bedenken erheben werden, die also zunächst zu
widerlegen sind.
Im Schlußworte wird dann den noch übrigen vermutbaren Einwendungen
ein letztes Treffen zu liefern sein. Meine jüdischen Leser mögen mir
geduldig bis ans Ende folgen. Bei manchem werden die Einwendungen in
anderer Reihenfolge entstehen als in der hier gewählten der
Widerlegung. Wessen Bedenken aber vernünftig besiegt sind, der soll
sich zur Sache bekennen.
Indem ich nun zur Vernunft spreche, weiß ich dennoch wohl, daß die
Vernunft allein nicht genügt. Alte Gefangene gehen nicht gern aus
dem Kerker. Wir werden sehen, ob uns schon die Jugend, die wir
brauchen, nachgewachsen ist; die Jugend, welche die Alten mitreißt,
auf starken Armen hinausträgt und die Vernunftgründe umsetzt in
Begeisterung.
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