Zionismus oder der Kampf um die
nationale Wiedergeburt
Von
Julius H. Schoeps
[aus: Zionismus. Texte zu seiner
Entwicklung, Dreieich, Wiesbaden 1983, hrsg. v. Julius H. Schoeps]
Vorläufer des politischen Zionismus
Obgleich seit dem Mittelalter die verschiedensten utopischen Judenstaatsprojekte
entwickelt worden waren,[8] so konnte doch erst im 19. Jahrhundert eine
national-jüdische Bewegung entstehen. Dass dies in einem unmittelbaren
Zusammenhang zu den allgemein historischen und politischen Entwicklungen des
Jahrhunderts steht, ergibt sich aus dem oben Angeführten und muss nicht
ausdrücklich noch einmal betont werden. Ohne Zweifel knüpfte der jüdische
Nationalgedanke an das traditionell jüdische Volksbewusstsein an, nahm auch
religiös seine Impulse aus der Aufklärung und den aufkommenden
national-staatlichen Strömungen. Vorbereitet wurde die Bewegung allerdings noch
durch die Haskala (jüdische Aufklärung), die jüdisches Ideengut mit
westeuropäischem Gedankengut verschmelzen wollte, aber in entscheidendem Maß mit
dazu beigetragen hat, den verschütteten Nationalgeist des jüdischen Volkes
wiedererweckt und die Selbstbestimmung jüdischen Wesens eingeleitet zu haben.
Unabhängig voneinander und ziemlich gleichzeitig riefen seit Mitte des 19.
Jahrhunderts jüdische Denker zur Abkehr von der Assimilierung und zu einem
volksbewussten Judentum auf. Überall in Europa warben Stimmen verstärkt für ein
nationales jüdisches Zentrum in Palästina. Sir Moses Montefiore, ein britischer
Jude, begann sich intensiv mit der Möglichkeit zu befassen, Palästina
wirtschaftlich urbar zu machen. Hirsch Kalischer, Elia Gutmacher, Jehuda Alkalay
und andere setzten sich ebenfalls für den national-jüdischen Gedanken ein, wobei
ihre Vorstellungen mit religiösen Überzeugungen verbunden waren. In seiner
Schrift "Drischath Zion" argumentierte Kalischer, dass mit der messianischen
Verheißung der Bibel tatsächlich nur die Wiedergeburt der jüdischen Nation auf
dem angestammten Boden gemeint sein könne (vgl. S. 46 ff.). Die von ihm nach
Thorn 1860 einberufene Versammlung jüdischer Notabeln und Rabbiner forderte
deshalb auch praktische Maßnahmen zur Einleitung einer Kolonisationstätigkeit in
Palästina.
Bedeutsamer als die Forderung der Kolonisation auf religiös-nationaler Grundlage
waren jedoch die Versuche, den Gedanken der Wiederherstellung der jüdischen
Nationalität im politischen Sinne zu erörtern. Unausweichlich muss hier ein Name
fallen, den wir als einen der Begründer und Gestalter der modernen jüdischen
Nationalbewegung kennen - Moses Hess. In ihm begegnen wir zu erstenmal einer
Mischung von ethischem Sozialismus und aufgeklärtem Nationalismus, die in der
künftigen Entwicklung des Zionismus eine große Rolle spielen sollte. Der
"Kommunistenrabbi", wie der Weggefährte von Karl Marx und Ferdinand Lasalle von
seinen Gegnern genannt wurde, war es, der als einer der ersten in seinem Buch
"Rom und Jerusalem" 1862 (vgl. S. 51 ff.) die "Wiedergeburt des jüdischen
Volkes" mit der "Konzentration in seinem Heimatlande" propagierte.
Mit diesem Ergebnis analysierte er die Judenfrage als - nach der Einigung
Italiens und der erhofften Deutschlands - "letzte Nationalitätenfrage".
Dabei ging er von der Überlegung aus, dass die Juden eine Schicksalsgemeinschaft
bildeten, aus der man sich nicht nach Belieben ausgliedern könne: Jeder Jude ist
solidarisch mit seiner ganzen Nation, gleichgültig, ob er wolle oder nicht.
Diese Erkenntnis bedeutete eine Absage an jede Möglichkeit der Emanzipation und
Assimilation und besagte, dass eine Lösung des Judenproblems nicht individuell,
sondern nur an der gesamten jüdischen Nation erfolgen könne. Aber obgleich Moses
Hess in seinen Ausführungen bereits all das niedergelegt hatte, was erst
Jahrzehnte später Inhalt der zionistischen Bewegung werden sollte, war seinen
Anregungen - wie es tragischerweise bei den meisten Propheten einer besseren
Wirklichkeit ist - ein größerer Widerhall zu seinen Lebzeiten nicht beschieden.
Hess war zwar in seinen Forderungen revolutionär, doch die Impulse für die
nationaljüdische Bewegung, die von Osteuropa ausgingen, sind noch höher
anzusehen. Bei den Ostjuden war der Gedanke der Rückkehr nach Zion lebendiger
als bei den Juden Westeuropas, was aus den besonderen Verhältnissen erklärt
werden muss, denen die Juden vor allem in Russland ausgesetzt waren. Sie waren
nicht wie die Juden in Deutschland, Frankreich oder England über das ganze Land
zerstreut, sondern lebten in Ghettos zusammengepfercht, wo sie, von den meisten
Erwerbszweigen abgeschnitten, ein trostloses Leben führten. Der Landessprache
unkundig und jiddisch sprechend bildeten sie eine ethnische, soziale, religiöse
und kulturelle Minderheit. Fast zwangsläufig musste sich hier, verstärkt durch
Pogrome, Ausnahmegesetze und Vertreibungen, die bittere Erfahrung breitmachen,
dass mit einer Emanzipation von außen nicht zu rechnen und das jüdische Problem
in der Diaspora nicht zu lösen sei.
Seit dem Winter 18881/82 bildeten sich in vielen Städten Russlands Vereine, die
Selbstbefreiung und Palästina-Kolonisation propagierten. Sie nannten sich
"Chibbath Zion" (Zionsliebende) oder "Chowewe Zion" (Zionsfreunde), waren aber
weniger von religiöser Sehnsucht nach dem "Heiligen Land" getragen, wie sie seit
Jahrhunderten fromme Juden dorthin geführt hatte, als von dem philanthropischen
Motiv, den Bedrängten und in Not geratenen Stammesgenossen eine neue Heimat zu
schaffen. Die Initiatoren der Bewegung waren aus der "Haskala" hervorgegangen,
verdammten diese aber zum Teil als "Berliner Lügenaufklärung" und verfochten
statt dessen uneingeschränkt die Forderung nach einer internationalen
Renaissance des jüdischen Volkes. Perez Smolenskin forderte in hebräischer
Sprache die Wiederbelebung des nationalen Gedankens. David Gordon rief zur
Gründung von Ackerbaukolonien in Palästina auf und hielt die nationale
Wiedergeburt des jüdischen Volkes nur auf diesem Wege für möglich. Das
gewaltigste Echo aber hatte über ein Jahrzehnt vor dem Erscheinen des
"Judenstaates" von Theodor Herzl die in deutscher Sprache veröffentlichte
Flugschrift "Autoemanzipation" des Odesser Arztes Leon Pinsker.[9] In dieser
Schrift forderte Pinsker die Juden auf, statt des vergeblichen Versuchs, sich zu
"amalgamieren", sich selbst zu emanzipieren und einen eigenen Nationalstaat zu
gründen. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug Pinsker die Bildung von
Gesellschaften vor, die durch die Schaffung eines jüdischen Machtzentrums
ermöglichen sollten, das der politischen und sozialen Bedrängnis abzuhelfen und
die moralische Würde des jüdischen Volkes wiederherzustellen in der Lage (vgl.
S. 58 ff.) sei. Auf Konferenzen (Kattowitz, Drusgeniki, Wilna) wurden die
Vorschläge Pinskers aufgenommen und die Förderung der Kolonisation in Palästina
in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt. Jüdische Studenten, die
sogenannten "Biluim" (Bilu = Anfangsbuchstaben von Jes. 2,5), siedelten mit
Hilfe der Chowewe Zion in Palästina und gründeten unter großen Schwierigkeiten
die erste Kolonie Rischon le-Zion.
Aber nicht nur in Osteuropa begann sich das jüdische Selbstbewusstsein zu regen.
Die Zionsgedanken begannen auch im Westen immer mehr Anhänger zu gewinnen. In
Wien entstand die nationaljüdische Verbindung "Kadimah", die unter der Devise:
"Bekämpfung der Assimilation, Hebung des jüdischen Selbstbewusstseins,
Besiedelung Palästinas" vor allem bei den jungen Leuten erhebliche Erfolge
erzielen konnte.[10] Isaak Rülf, der in Memel Redakteur des "Memeler
Dampfbootes" und Leiter einer Talmudschule war, empfahl ganz im Sinne Pinskers
in seiner Schrift "Aruch Bas-Ami. Israels Heilung" die "Wiederherstellung des
jüdischen Staates [...] in der ursprünglichen Heimat, dem Lande der Väter".
Nathan Birnbaum, der zu den Gründungsmitgliedern der "Kadimah" gehörte und seit
1885 ein jüdisch-nationales Blatt unter dem Pinskerschen Titel
"Selbstemanzipation" herausgab, trat in seiner 1893 erschienenen Schrift "Die
nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande" für eine
völkerrechtliche Gleichstellung der Juden ein. Gleichzeitig schuf er in dieser
Schrift mit dem Wort "Zionismus" fortan die Bezeichnung für die nationaljüdische
Bewegung.[11]
Überall wurden die nationaljüdischen Ideen aufgegriffen und der Gedanke an ein
autonomes jüdisches Volksleben in Palästina fand immer mehr Anhänger. Aber erst
Theodor Herzls 1896 erschienene Schrift "Der Judenstaat" gab den eigentlichen
Anstoß zur organisatorischen Zusammenfassung der bestehenden nationaljüdischen
Vereine und schuf das, was wir unter politischem Zionismus verstehen.
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Anmerkungen:
[8] Hierzu N[athan] M[ichael] Gelber, Zur Vorgeschichte des
Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695-1845, Wien 1927.
[9] Zur Entstehungsgeschichte der Schrift vgl. Julius H. Schoeps, Briefe Leon
Pinskers an Isaak Rülf. Zur Vorgeschichte der jüdischen Nationalbewegung. in
ZRGG, 3/1982, S. 220 ff.
[10] Vgl. Julius H. Schoeps, Modern Heirs of the Maccabees, The Beginning of the
Vienna Kadimah, 1882-1897, in YLBI, XXVII / 1982, S. 155 ff.
[11] Vgl. Julius H. Schoeps, Autoemanzipation und Selbsthilfe. Die Anfänge der
nationaljüdischen Bewegung in Deutschland, 1882-1897, in ZRGG, 4/1979, S. 345
ff.
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28-09-05 |