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Judentum und Israel
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Zionismus oder der Kampf um die nationale Wiedergeburt

Von Julius H. Schoeps

[aus: Zionismus. Texte zu seiner Entwicklung, Dreieich, Wiesbaden 1983, hrsg. v. Julius H. Schoeps]

Voraussetzung für das Entstehen einer jüdischen Nationalbewegung

Die liberale Emanzipationsbewegung, die im Zuge der Aufklärung und mit der Französischen Revolution von 1789 zum Durchbruch kam [1] hat zwar allmählich die rechtliche Gleichstellung des europäischen Judentums gebracht, auf der anderen Seite aber zu einem Wandel des jüdischen Selbstverständnisses geführt. Wenn bis zu diesem Zeitpunkt die Sehnsucht nach Zion und die Hoffnung nach Rückkehr in das Heilige Land bindend für das jüdische Volk während seiner langen Geschichte in der Diaspora gewesen war, so haben die Aufklärungs- und Gleichberechtigungsbewegungen der Juden ein problematisches Vermächtnis hinterlassen. Die staatsbürgerliche Gleichberechtigung ging auf Kosten des Prinzips der Einheit von jüdischer Religion und jüdischem Volk. Als nämlich den Juden in den einzelnen Ländern die Teilnahme am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben, in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaße ermöglicht wurde, fühlten sich viele Juden ganz als Bürger des Staates, in dem sie lebten, und verstanden ihr Jude-Sein nicht mehr als Zugehörigkeit zum jüdischen Volk.

Vor allem in Deutschland brachte die schrittweise Emanzipation der Juden es mit sich, dass die jüdische Religion zu ein Konfession neben anderen wurde. Die Autorität des Gesetzes ließ nach, die Sabbatheiligung wurde durch die Arbeitsruhe nicht mehr eingehalten und die rituellen Speisevorschriften mehr und mehr vernachlässigt. In Kleidung und Sprache passten sich die Juden der christlichen Umwelt an. Sogar die Liturgie wurde an die des Protestantismus angeglichen, das Hebräische als Kultsprache eingeschränkt und überhaupt alle Spuren des Nationalbewusstseins aus den jüdischen Riten und Festen getilgt, die an die nationale Größe in der Vergangenheit hätten erinnern können. Es ist leicht einzusehen, dass eine solche Entwicklung nicht gerade dazu angetan sein konnte, den inneren Zusammenhalt für die Zukunft zu sichern, der das Überleben des jüdischen Volkes während seiner langen Geschichte gewährleistet hatte.

Der Versuch der Juden, sich an die kulturellen Normen der jeweiligen Umwelt anzupassen, d.h. letzten Endes mit der Taufe das "Entréebillet zur europäischen Kultur" (Heinrich Heine) zu erwerben, stieß auf starke Vorbehalte. Der im Mittelalter vor allem von der Kirche betonte christlich-jüdische Gegensatz war in der Neuzeit im Zuge der Aufklärung ins Politische übergewechselt: Das Judentum, bis dahin von der Theologie als "antichristlich" bezeichnet, wurde nun, besonders nach dem Scheitern der Bewegung von 1848 "antisozial" und "antinational" genannt. Diese neue Variante der Judenfeindschaft,[2] die in unmittelbarem Zusammenhang mit der nach den Befreiungskriegen einsetzenden deutschen Nationalbewegung stand, stellte die jüdische Assimilationsbereitschaft grundsätzlich in Frage. Zwar umschloss, wie es Hermann Meier-Cronemeyer zum Ausdruck gebracht hat, "die deutsche Nationalbewegung einen emanzipatorischen, auf Demokratisierung zielenden Impuls, aber die von der Romantik genährte Besinnung auf die Tradition des eigenen Volkes musste dazu tendieren, diejenigen auszuschließen, die an dieser Tradition nicht teilhatten." [3]

Je mehr die konfessionellen Aspekte der "Judenfrage" an öffentlicher Bedeutung verloren, desto stärker rückten in der Mitte des 19. Jahrhunderts Anschauungen pseudo-wissenschaftlicher Art in den Vordergrund, die den Versuch unternahmen, die Judenfeindschaft in Verbindung mit nationalen Doktrinen "biologisch" zu begründen. Die Anhänger dieser Theorien gingen entsprechend der Entwicklungslehre Darwins dazu über, den Menschen als Träger unveränderlicher vererblicher Anlagen anzusehen. Für diese Behauptungen, die keiner sachlich-biologischen Prüfung standhalten, boten sich die Juden als "volkfremde" Minderheit geradezu als Schulbeispiel an. In seinem "Essay sur L'inégalité des races humaines" (1854) stellte der Franzose Arthur Graf von Gobineau die These auf, dass die Juden eine andere Rasse darstellen, die als eine minderwertige Art menschlicher Natur bezeichnet werden müsse. Auf diese Weise - wohlgemerkt dem Zeitgeist entsprechend - säkularisierte und vulgarisierte Gobineau die alten theologischen Vorstellungen über die "Verworfenheit der Juden". In Deutschland fand die Schrift des Philosophen Eugen Dühring "Die Judenfrage als Frage des Rassencharakters und seiner Schädlichkeit für Existenz und Kultur" begeisterten Anklang, was schon aus der Tatsache zu ersehen ist, dass diese Schrift von 1880 bis 1930 sechsmal in "vermehrter" Auflage erschienen ist.

Aber nicht nur die entstehende Nationalbewegung, die den ethnisch einheitlichen Staat forderte, stand einer wirklichen Emanzipation der Juden entgegen. Die reform- und emanzipationswilligen Juden mussten sehr bald ebenfalls feststellen, dass die seit der Französischen Revolution einsetzenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen nicht nur Vorteile mit sich brachten. So wurden mit dem Aufkommen des Kapitalismus, des Liberalismus und des Sozialismus die Juden, die von dem bisherigen stark gegliederten Gesellschaftssystem kaum oder gar nicht integriert worden waren, zwar zu Schrittmacher im Neuland der Umwälzungen und Entwicklungen, aber auf der anderen Seite wurde ihre Konkurrenz in manchen für sie neu erschlossenen Berufen stark angefeindet. Die konservativen Kreise, namentlich Adel, Geistlichkeit, Landwirtschaft und Kleinbürgertum, d.h. die Teile der Bevölkerung, die an Kapitalismus und Industrie keinen oder nur wenig Anteil hatten, betrachteten (vor allem nach der Reichsgründung 1871) mit zunehmender Unruhe die Entwicklung, die die Juden in der Wirtschaft, besonders im Bank- und Börsenwesen, in der Presse und in der Politik hervortreten ließ. Die aufkommende "antikapitalistische Sehnsucht" als Ausdruck eines Unbehagens an der Modernität in der Verbindung mit den ursprünglichen theologischen- religiösen Wurzeln der Judenfeindschaft und dem Neid auf den Erfolg der Juden im Wirtschaftsleben führte dazu, dass in konservativen Kreisen schließlich die Juden als Haupturheber aller "zersetzenden" und "materialistischen" Ideen angesehen wurden.

Diese Variante der Judenfeindschaft entsprach den Ausdrucksformen bürgerlicher Kulturkritik gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die überall Dekadenz witterte und Rationalismus und Wissenschaft als den Todfeind deutscher Kultur bekämpfte. Für Paul de Lagarde waren die Juden "Träger der Verwesung", denn sie verbreiteten Materialismus und Liberalismus, und der "Rembrandtdeutsche" Julius Langbehn ging sogar so weit, die Auffassung zu vertreten, Wissenschaft und Intellektualismus hätten die deutsche Kultur zerstört. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, wenn der Hofprediger Adolf Stoecker als einer der ersten versuchte, die aus den bürgerlichen Ressentiments keimende Judenfeindschaft für die konservative und christlich soziale Politik nutzbar zu machen. In seinen "Berliner Vorträgen" versuchte Stoecker die "Judenfrage" deshalb nicht nur als eine Frage ausschließlich der Rasse und Religion, sondern als eine kulturgeschichtliche, wirtschaftliche und sittliche darzustellen. Er versuchte darüber hinaus glaubhaft zu machen, dass der Einfluss der Juden auf dem gewissenlosen Erwerb und Gebrauch des Kapitals und auf der Feindschaft gegen die christliche Gesellschaftsordnung beruhe. Und schließlich, dass die Juden gleichzeitig Schrittmacher des Kapitalismus und Sozialismus wären und in beiden Richtungen den Staat zum Untergang führen würden. Diese pseudowissenschaftlichen Feststellungen, die nach unserem heutigen Verständnis absurd sind, fielen aber merkwürdigerweise dennoch auf einen fruchtbaren Boden. Vor allem in Großstädten und Universitätskreisen wurden diese "Theorien", in der die Rassenvorstellungen des Grafen Gobineau und Houston Stewart Chamberlains mit einflossen, mit Begeisterung aufgenommen, und es entsprach den Zeichen der Zeit, wenn die Konservativen in ihr Parteiprogramm von 1892 die Forderung der Antisemiten und des Mittelstandes mit aufnahmen, wie z.B. "Kampf dem Warenhaus!" - "Kampf der Börse!" - "Kampf dem Bankkapital!" - "Kampf dem Sozialismus!" - "Kampf der gewissenlosen Presse!". In der von Böckel und Liebermann von Sonnenberg 1894 gegründeten Deutsozialen Reformpartei war man noch deutlicher, als hier für die Aufhebung der erst in vollem Umfang in der Verfassung des Norddeutschen Bundes eingeführten Gleichberechtigung der in Deutschland lebenden Juden eingetreten würde. Die Forderung, die Juden von allen für die Kulturentwicklung wichtigen Berufen fernzuhalten und das Verlangen, der Einwanderung von Juden nach Deutschland Beschränkungen aufzuerlegen, entsprach denn auch der Haltung und Einstellung breitester Bevölkerungskreise.

Aber nicht nur Konservative und Völkische vom Schlage Stoeckers, Böckels oder Liebermann von Sonnenbergs verteufelten den Juden als die Verkörperung des Bösen schlechthin. Auch die Linke zeigte ein gebrochenes Verhältnis zur "Judenfrage".[4] Wenngleich seit jeher bedeutende Sozialisten entschieden gegen den sozialistischen Antisemitismus und den Antisemitismus überhaupt auftraten, so beweist doch das Studium der Schriften und Reden führender von Marx beeinflusster Sozialisten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts judenfeindliche Tendenzen,[5] die vergleichsweise nicht unähnlich den Motiven und Wurzeln des bürgerlichen Judenfeindschaft sind. Wie der bürgerliche so nahm auch der sozialistische Antisemitismus die verschiedensten Ausdrucksformen an. Manche Sozialisten befürworteten, wie Edmund Silberner überzeugend nachgewiesen hat, besondere antijüdische Maßnahmen, angefangen von einem wirtschaftlichen numerus clausus (Fourier) bis zur Entziehung der Staatsbürgerschaft (Picard). Andere waren für Ausweisungen aller Juden (Alhaiza), rechtfertigten Pogrome (Duchéne) oder riefen nach totaler Vernichtung (Dühring). Wieder andere sahen im Juden den ewigen Ausbeuter des Nichtjuden (Toussenel) und in der jüdischen Rasse den unversöhnlichen Feind der arischen (Tridon, Regnard) und ließen keinen Zweifel daran bestehen, dass sie die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden bedauerten und antijüdische Maßnahmen wünschten.

Wie auch immer. Die Juden begegneten in allen Lagern einer Skala von Vorurteilen und Hassgefühlen, die verdeutlichen, dass sich der Zustand der Juden seit dem Mittelalter nur wenig verändert zu haben schien. Die Rechts- und Pflichtengleichheit war zwar in den einzelnen Landesverfassungen verbrieft, aber auf ihre vorbehaltlose Anerkennung sträubte sich wie auf Verabredung hin die antisemitische Internationale. "Der Jude", so formulierte Leon Pinsker in seiner "Autoemanzipation" 1882 in Antithesen, "ist für die lebenden ein Toter, für die Eingeborenen ein Fremder, für die Einheimischen ein Landstreicher, für die Besitzenden ein Bettler, für die Klassen ein verhasster Konkurrent." [6] Ausnahmen, und mögen sie noch so zahlreich gewesen sein, ändern an diesem skizzierten Gesamtbild wenig. Für die meisten Juden blieben Emanzipation und rechtliche Gleichstellung eine mehr oder minder dunkle Theorie. Wie sie sich auch verhielten, die Umwelt reagierte auf ihre Assimilations- und Integrationsbereitschaft mit traditionellen Vorbehalten. Das Wort des Historikers Treitschke "Die Juden sind unser Unglück" [7] entsprach dem Zeitgeist, der die Juden nach dem Urteil des Londoner Standard "für alle derzeit auf dem Kontinent lastenden Missstände" verantwortlich machte. Je mehr sich aber unter Juden das Gefühl verbreitete, eine Assimilation sei nur bedingt möglich und die Judenfeindschaft ebenso unaufhebbar wie das Dasein der Juden selbst, desto stärker wurden die Bestrebungen, sich auf die eigenen Religion und historische Tradition zu besinnen. Nur auf diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum Ideen und Vorschläge, das jüdische Nationalgefühl als Korrelat zur jüdischen Religion wiederzuerwecken, Zuspruch gefunden haben.

>> Vorläufer des politischen Zionismus

Anmerkungen:
[1] Hierzu Simon Dubnow: Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VIII: Das Zeitalter der Emanzipation, Berlin, 1930, S. 83 ff.
[2] Differenzierte Darstellung sind Kurt Wawrizinek, Die Entstehung der deutschen Antisemitismusparteien (1873-1890), Berlin 1927; Peter J. Pultzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich, Gütersloh 1967; Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, Studien zur "Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975.
[3] Hermann Meier-Cronemeyer, Rolf Rendtorf, Ulrich Kusche, Israel, Hannover 1970, S. 11.
[4] Vgl. hierzu vor allem Hans-Helmuth Knütter, Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik 1918-1933, Düsseldorf 1971, S. 123 bis 162, der die traditionellen Spannungen zwischen jüdischen Intellektuellen und der Linken herausgearbeitet hat.
[5] Siehe hierzu Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage, Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Berlin 1962; ebenfalls Julius Schoeps, Sozialistischer Antisemitismus, in Die Glocke, 8/1970, S. 8 ff.
[6] Leon Pinsker, Autoemanzipation, in: Helmut J. Heil, die neuen Propheten, Fürth/Erlangen 1969, S. 117.
[7] Mit dem Satz "Die Juden sind unser Unglück" in seiner 1879 erschienenen Abhandlung "Unsere Aussichten" hat Heinrich v. Treitschke eines der Schlagworte der Judenhetze geschaffen. Der Objektivität wegen muss jedoch erwähnt werden, dass diese demagogische Form der Judenhetze auf starke rechtsstaatliche und liberale Widerstände stieß, wie es die von Cassel, Graetz, Droysen, Mommsen und anderen gegen Treitschke gerichteten Artikel und Broschüren beweisen. Vgl. dazu Der Berliner Antisemitismusstreit, hrsg. von Walter Boehlich, Frankfurt/M. 1965; ebenfalls Michael Meyer, Great Debate on Antisemitsm - Jewish Reaction to new Hostility in Germany 1879-1880, in LBYB 11 (1966), S. 137 ff.

hagalil.com 28-09-05

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